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Manfred H. Krämer

MaiMarktMord
Ein Mannheimer Rhein-Neckar-Krimi

Titelidee: Manfred H. Krämer

ISBN Taschenbuch

978-3-86476-040-2

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Verlag Waldkirch KG

© Verlag Waldkirch Mannheim, 2013

Manfred H. Krämer
MaiMarktMord

Ein Mannheimer Rhein-Neckar-Krimi

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Liebe Leserinnen und Leser,

dies ist ein Roman. Jede Ähnlichkeit der handelnden Personen mit lebenden oder toten ... Halt! Das stimmt nicht. Als Autor, der bemüht ist, möglichst nah am richtigen Leben zu schreiben, bediene ich mich ziemlich unverfroren aus meinem persönlichen Umfeld und dem Rest der Welt. Sollte Ihnen neben meinem Professor Erich Maria Luzent also noch ein weiterer Heidelberger Anatom bekannt sein, der gerne schwarze Hüte trägt, so seien Sie versichert, ich kenne (und bewundere) ihn auch. Wenn Bella Block im TV ermittelt, so schaut sie in manchen Szenen haargenau so aus wie Elke Lukassow und Tarzan ist zwar einen ganzen Kopf kürzer als Andreas Hoppe, aber sonst ...

Ach ja: Solo ist nicht, ich wiederhole NICHT, meine Frau Monika. Ganz anderer Typ, Bier statt Prosecco, Barrashosen statt Seidenkleid und Meckifrisur statt Barbiemähne. Okay, das Mundwerk könnte passen, die Respektlosigkeit gegenüber dem „Herrn“ im Haus und der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn auch. Trotzdem: Solo ist eine der wenigen Kunstfiguren in meinen Büchern. Meine Schöpfung. Ich bin stolz auf sie! Dann gibt es noch die Komparserie: Angefangen von meinen Nachbarn mit dem stimmlosen W im Nachnamen über Kollegen und Vorgesetzte der Spedition, bei der ich immer noch (gerne!) meinen Hauptberuf ausübe, bis zu estnischen Fußballspielern und Regierungsmitgliedern, die mich mit baltischem Namensgut versorgten.

Frau Maimarkt, Pardon, Stefany Goschmann, spielt sich selbst und ein aus Südhessen stammender Krimiautor geistert in Sekundenauftritten durch den Stoff. Was Hitchcock recht war, ist mir nur billig.

Apropos Hitchcock: Very british bastelte ich mir auch den smarten Jungverleger Maximilian Appelgaaden aus meinem Neffen, meinem Sohn und dem Schauspieler Benedict Cumberbatch aus der BBC-Produktion „Sherlock“ zusammen. Warum ich so gerne schreibe? Jetzt wissen Sie’s.

Eines noch: Dies ist ein Roman. Nehmen Sie ihn bloß nicht zu ernst! Trotzdem sollten Sie beim nächsten Maimarktbesuch besser eine Kamera oder Ihr Smartphone bereit halten. Wer weiß ...

Spannendes Lesevergnügen wünscht Ihnen

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Direkter Link zur Lesung
http://youtu.be/3T6IdOPmZjA

Inhalt

Prolog

Mannheim, 25. März 2013

Tartu, Estland, am gleichen Tag

City-Airport Mannheim, 27. April, 6.30 Uhr

Polizeipräsidium Mannheim Vier Stunden später:

Heidelberg, Institut für Rechtsmedizin

Mannheimer Maimarkt, Tag 2

Lampertheim, Alter Hafen, 22.30 Uhr

Mannheimer Maimarkt, Tag 3

Haupteingang, 11.35 Uhr

Polizeiposten, Haupteingang, 12.00 Uhr

Halle 25, 14.30 Uhr

Mannheimer Maimarkt, Tag 4, Tor 6

Halle 25, eine Stunde später

Halle 11, 09.30 Uhr

Mittwoch 01. Mai 2012, 16.20 Uhr

Lampertheim, Alter Hafen, 07.30 Uhr

Mannheim-Handelshafen, Binnenhafenstraße Donnerstag, 02.05.2013, 07.48 Uhr

Mannheimer Maimarkt, Tag 7 Freitag, 03.05.2013, 09.38 Uhr

Halle 25, 09.25 Uhr

Mannheim, Wasserturm-Arkaden, zur gleichen Zeit

Samstag, 04.05.2013, 01.06 Uhr

A12, Oderbrücke, 03.28 Uhr

A2, Raststätte Sosna, knapp fünf Kilometer hinter der Grenze

Samstag, 04.05.2013, 07.18 Uhr

Maimarkt Mannheim, Halle 25 Samstag 04.05.2013, 09.25 Uhr

Lampertheim, alter Hafen, eine halbe Stunde später

City-Airport Mannheim, 11.48 Uhr

BG-Unfallklinik Ludwigshafen-Oggersheim Drei Tage später

Leseprobe – Mimenmord Essstörung

Leseprobe – Schattenkörper

Prolog

Urawa

Estland

18. März

Das Land atmete Dreck. Aus den Pfützen, die der kurze Frühlingsschauer hinterlassen hatte, stiegen die Dämpfe des Todes, und von den Blättern der schwindsüchtigen Birken tropften silbern glitzernde Tränen in den Morast der Verzweiflung. Taavi spuckte aus. Zu Hause würde er das aufschreiben. Wenn er es schaffte, auf dem Weg zum Küchentisch an der Flasche vorbeizukommen, ohne sich um den Verstand zu saufen. Wenn er es schaffte, dieses armselige Begräbnis hinter sich zu bringen.

Er hatte sie ferngehalten. Fern von den verdorbenen Früchten dieses verrottenden Landstrichs, von allem, was hier allen Verboten zum Trotz noch angebaut wurde. Fern vom angeblich so streng kontrollierten Trinkwasser aus den Leitungen. Er hatte Wasser in Flaschen gekauft. War einmal im Monat mit seinem klapprigen Lada ins fast fünfzig Kilometer entfernte Tartu gefahren, um importierte Lebensmittel zu kaufen. Er wollte weg. Anneli nicht. Sie pflegte ihre alte Tante, die für sie Mutter und Vater gleichzeitig gewesen war, seit ihre Eltern 1992 bei der Explosion in der Chemiefabrik umgekommen waren. Die Fabrik. Alle nannten sie nur die Fabrik. Seit der Katastrophe war es, als beschwöre allein die Nennung des Firmennamens neues Unheil über den ökologisch verheerten Landstrich, in dem selbst die Würmer eingingen, wo kein Vogel mehr sang und die Bäche und Flüsschen rochen wie eine chemische Reinigung.

Er hatte sie ferngehalten vom Gift im Essen und im Trinken. Doch er hatte nicht verhindern können, dass sie atmete, dass Regen ihre Haut benetzte und Staub durch ihre verschlissenen dünnen Kleider kroch, in ihre Poren drang, sich auf den Schleimhäuten niederließ und in den Tiefen ihres Leibes das winzige neue Leben verseuchte, das seit zehn Wochen in ihr wuchs.

In den wenigen lichten Augenblicken zwischen zwei Flaschen hatte er sich das Hirn zermartert über die Frage, ob sein Kind gleichzeitig mit seiner Frau gestorben war oder ob es noch eine gewisse Zeit in dem erkaltenden, versiegenden Körper gelebt hatte. Hatte es gekämpft? Hatte der kleine Fötus sich aufgebäumt gegen die giftige Flut aus dem Kreislauf der Mutter? Er würde es nie erfahren. Er würde auch nie wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen gewesen war. Hauptsache gesund, hatten sie einander immer versichert. Hauptsache gesund. Ein Satz, an den sie sich klammerten wie Ertrinkende an einen Rettungsring in haiverseuchtem Gewässer. Naiv? Dumm? Verzweifelt. Gesund war im Umkreis von dreißig Kilometern um die armselige, halbverfallene Werkssiedlung nichts mehr. Urawa war ein Dorf ohne Hunde und Katzen. Nur Raben. Raben gab es genug. Ihr Krächzen war allgegenwärtig. So auch hier auf dem verwilderten Friedhof mit den halb versunkenen schiefen Grabsteinen.

Asche zu Asche? Staub zu Staub? Taavi zog einen Schleimbatzen hoch, als er hinter den vier Sargträgern her schlurfte. Selbst die Maden schreckten vor der mit weißlich-gelben Schlammblasen durchsetzten Masse zurück, die man beim besten Willen nicht Erde nennen konnte. Taavi in seinem dunklen Geschäftsanzug und mit dem sorgfältig getrimmten Bart wirkte zwischen den zerlumpten Dorfbewohnern wie ein Außerirdischer. Er war einer der wenigen, aus dieser Gegend, die es geschafft hatten. Elektronikingenieur. Arbeitete als Entwicklungsleiter in einer erst vor einem Jahr gegründeten Firma, die Aufträge für die estnische Marine ausführte.

Die kleine Trauergesellschaft hatte das offene Grab erreicht. Die Totengräber trugen Schutzmasken wie Chirurgen und hüfthohe Gummistiefel wie Angler. Das Räuspern, Würgen und Rotzen verstummte, als der Priester eine Hand hob.

“Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ...“, trotz schweren Suffs und vom Gift zerfressener Innereien besaß er eine erstaunlich klare Stimme. Die Ansprache war kurz. Normalerweise durften hier schon seit vielen Jahren keine Begräbnisse mehr stattfinden. Doch die Bezirksverwaltung drückte beide Augen zu, wenn es sich um Bewohner aus der Umgebung handelte. Zu groß wäre der finanzielle Aufwand gewesen, um eine Leiche aus Urawa ordnungsgemäß zu entsorgen. So warteten die Oberen mit der Geduld von Tempelwächtern, bis eines Tages der letzte ost-estische Sturkopf ins toxische Gras gebissen hatte.

Taavi faltete die Hände. Sein Gesicht war eine steinerne Maske. Die Sargträger hoben die Balken, auf denen die einfache Kiefernkiste ruhte, wieder an, um sie über der triefenden Grube zu platzieren, als es passierte: Jarmo, der vorne links den Balken auf der Schulter trug, knickte in den Knien ein. Ein Raunen ging durch die Trauernden, als sich der Sarg neigte, ins Rutschen geriet und mit einem hässlich schmatzenden Geräusch gegen die Wand des Lochs prallte. Der nur notdürftig mit billigen Zinknägeln gehaltene Deckel sprang auf und gab den Blick frei auf zwei pralle Sandsäcke, die noch die Aufschrift des sieben Jahre zuvor geschlossenen Landhandels trugen ...

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Mannheim, 25. März 2013

“Zehntausend. Sie haben richtig verstanden. Zehntausend Euro in nicht fortlaufend nummerierten, gebrauchten Scheinen.“ Roggenfell kostete die Situation voll aus. Dabei hatte der ungepflegt wirkende Mann mit dem fettigen Haarkranz noch nicht einmal eine Waffe auf die alte Kassiererin der Neckarauer Volksbankfiliale gerichtet. Trotzdem strahlte er eine Sicherheit aus wie ein unzufriedener Ölscheich, der die Bude aufkaufte, in der er schlecht behandelt worden war, um den Chef zu feuern.

Die Frau schaute ihn misstrauisch an, seine Kundenkarte in der Hand.

“Jetzt zieh die schon in deinen Scheißcomputer rein, Mutti, dann wird dir das blöde Glotzen schon vergehen!“ Das war eindeutig zu laut gewesen. Die beiden Kunden, die im Vorraum am Geldautomaten und am Kontoauszugsdrucker standen, reckten die Hälse, und auch der Jungbanker im hinteren Teil der kleinen Filiale blickte hinter seinem Computerterminal hervor. Roggenfell war bekannt in dieser Bank. Ein guter Kunde. Einer, der regelmäßig sein Konto überzog, bis Wasser kam, der sein Häuschen hier finanziert hatte und dem die Schufa höchstens noch einen Ratenkredit für einen elektrischen Wasserkocher genehmigte. Rockefeller nannten sie ihn, wenn keine Kunden zuhörten. Der Mann hatte ein geregeltes Einkommen. Er war Lkw-Fahrer bei einem namhaften Transportunternehmen in Mannheim. Die Frau war vor vier Monaten davongelaufen. Er strampelte sich ab. Immer kurz vor dem Bankrott, wie so viele. Einträglicher Kunde. Massenmarkt hieß das in der Bank. Leute wie Roggenfell bildeten die Muttererde des Kapitalismus.

“Weißt du was? Mach fünfzehn draus. Mir ist noch was eingefallen. Fünfzehn, verstanden? Capito? Comprende?“ Derweil huschten die Finger der Kassiererin wieselflink über die Tastatur. Die Augen hinter der altmodischen Brille hatten ihre Verblüffung längst professionell unterdrückt. Die Summe, die sich auf dem Konto befand, war gewaltig. Jedenfalls für jemanden wie Roggenfell. Überwiesen von einer Firma mit Sitz in Cambridge. Schön für den dämlichen Proleten, dachte sie und schenkte ihm ihr verbindlichstes Lächeln:

“Fünfzehntausend, gern. Möchten Sie eine besondere Stückelung, Herr Roggenfell?“

“Hunderter, sonst sieht’s ja nach nix aus, und so ein schwules Ledermäppchen hätte ich gerne dafür, falls es Ihnen nichts ausmacht.“ Wie die glotzte! Roggenfell hätte am liebsten laut losgelacht, als die arrogante alte Kuh seinen Kontostand auf dem Schirm hatte. Der bescheuerte Typ mit dem affigen Mantel und der Woody-Allen-Brille hatte Wort gehalten. Was für ein Spaß!

Vor der Bank blieb Roggenfell einen Augenblick stehen und sah sich um. Der triste Bahnhof mit den schreiend bunten Reklametafeln eines türkischen Supermarktes, die hastenden Menschen auf den Gehsteigen, der Obdachlose, der die Mülleimer checkte, die Bäckerei, in der er vor der Arbeit immer noch einen Kaffee trank. Diesmal nicht. Diesmal ging er nicht zur Arbeit. Er hatte frei. Benz kaufen, Urlaub buchen, den langen Ledermantel besorgen, den er sich schon so lange wünschte. Wie geil war das denn? Er ging die paar Schritte zu seinem geparkten Auto. Fast mitleidig betrachtete er den alten Opel. Fünfhundert würde der noch bringen, oder? Vielleicht sechshundertfünfzig, wenn er ihn noch durch die Waschanlage jagte ...

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“Dreihundert, und damit tu ich Ihnen noch einen Gefallen, Herr Roggenfell.“ Der Mann im C&A-Anzug grinste ihn an, als hätte er dreitausend gesagt. „Und das auch nur, weil Sie Barzahler sind. Den Wagen kann ich nur nach Osteuropa schaffen. Allein der Transport dahin kostet mehr als das Doppelte.“ Der Türke log, dass sich die Balken bogen, aber das war Roggenfell egal. Er wollte den Mercedes. Heute. Jetzt. Sofort. Es leuchtete ihm aus den Augen wie Neonlicht. Taktisch klug hatte Mehmet Gül den alten E320er schon am frühen Morgen mit roten Kurzzeitkennzeichen bestückt und seinen Kunden gleich auf Probefahrt geschickt. Neuntausend für einen zehn Jahre alten Mercedes mit schlampig repariertem Unfallschaden und undichtem Motor. Die Bereifung war auch so ziemlich am Ende, und die linke hintere Felge hatte einen Schlag. Aber er glänzte wie eine Eins. Die TÜV-Plakette war neu, und die neun Vorbesitzer tauchten in den aktuellen Fahrzeugpapieren gar nicht mehr auf. Gute Fahrt, Herr Roggenfell.

Lächelnd schaute der Händler dem schwarzen Coupé nach, das in Richtung Bauhaus davon fuhr. Der Tag fing gut an. Alhamdulillah.

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Zur selben Zeit, neunzehn Kilometer weiter nördlich: Strahlend weiß reflektierte der neue Anstrich des ehemaligen Fahrgastschiffes das Sonnenlicht. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche des Lampertheimer Altrheins, und die Vögel sangen, als säße irgendwo ein gefiederter Dieter Bohlen herum. Vor dem Wohnschiff parkte ein 68er blauer Pontiac Firebird, auf dessen Lack noch die Nässe der Nacht perlte. Die Pappeln des Auwaldes am gegenüberliegenden Ufer trugen ihr hellgrünes Frühlingsblätterkleid, und die ersten Hundehalter führten ihre wesensgeprüften, muskelbepackten Lieblinge aus. Friedlich. Ein Bild wie gemalt. Das Wasser, die Natur, das flotte Schifflein. „Lady Jane“ prangte in frischer Farbe am Bug. Schiffe waren weiblich. Weil sie für gewöhnlich am besten aussehen, wenn sie ordentlich zurechtgemacht waren und weil sie Launen und Macken hatten. Wie im richtigen Leben. Das tobte gerade herzhaft in der geräumigen Wohnküche, die fast das gesamte Achterdeck einnahm:

“Sag sofort, dass das nicht dein Ernst ist! Du verarschst mich doch, oder? Du hast voll einen an der Klatsche, Lothar!“ Wenn Berta Solomon, die jeder, der keinen ähnlichen Wutausbruch wie den eben provozieren wollte, besser Solo nannte, ihren Lebensgefährten Lothar Zahn mit korrektem Vornamen ansprach, stand die Welt kurz vor dem Untergang. Der Angesprochene beziehungsweise Angefauchte hatte den im vergangenen Dezember von den Mayas angekündigten Weltuntergang überstanden. Nun hegte er jedoch Zweifel, ob das echte, das richtige Ende der Welt, welches sich in Gestalt der hochgewachsenen Frau mit den kurzen feuerroten Haaren gerade vor ihm manifestierte, genauso an ihm vorübergehen würde. Wenn Solo wenigstens die Pfanne weglegen würde. Die drei Spiegeleier rutschten mit jeder Handbewegung gefährlich darin herum, dabei war der Bodenbelag gerade erneuert worden.

“Liebes, ich ...“ Beschwichtigend hob er die Hände, aber weiter kam er nicht.

“Ich bin kein Liebes! Bestimmt nicht! Reicht es dir nicht, dass wir uns mit der Überholung des Schiffs bis an unser Lebensende verschuldet haben? Reicht dir das noch nicht? Musst du da noch einen draufsetzen, oder was? Musst du uns damit vollends das Genick brechen? Du Arsch!“

Oha! Wenn Solo, die gern oft und leidenschaftlich, jedoch stets in wohlgewählten Worten stritt, in Straßenjargon verfiel, war Vorsicht geboten. Dann stand der totale Ausraster unmittelbar bevor. Ganz egal, ob sie eine Bratpfanne, ein Brotmesser oder eine Streitaxt in der Hand hielt. All dies drohte in kürzester Zeit mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Tarzan zu fliegen. „Ruhig, Brauner“, dachte Tarzan und suchte krampfhaft nach einem Deeskalationsrezept. Schließlich rettete er sich in eine Ausflucht:

“Es ist noch nichts entschieden. Gar nichts. Es war nur ein Vorschlag.“ Puh! Er sah förmlich, wie sich die geborstene Erdoberfläche wieder schloss, wie das glühende Magma sich wieder zurückzog und nur noch ein fernes Grollen von der abgewendeten Apokalypse zeugte. Solos Brust hob und senkte sich, als Adrenalin verzweifelt den richtigen Weg suchte. Sie ließ die Arme sinken.

“Nicht!“ Tarzan sprang auf, aber es war zu spät, die Spiegeleier flutschten aus der Pfanne und pladderten auf den Küchenboden. Solos grüne Augen schleuderten immer noch Blitze. Sie senkte den Kopf, betrachtete die Schweinerei teilnahmslos, pfefferte die Pfanne mit Schwung in die Spüle und rauschte nach draußen, als wolle sie geradewegs über die Reling ins algengrüne Wasser springen. Tarzan begriff. Er erhob sich, faltete die Zeitung zusammen und riss eine Reihe Blätter von der Küchenrolle ab. Zum Glück hatten sie sich für PVC-Boden entschieden. Trotzdem. Die Eier hätte er lieber auf seinem Teller gehabt. Dumm gelaufen. Dabei hatte er schon seit zwei Tagen auf eine günstige Gelegenheit gewartet, mit Solo über das Thema zu sprechen. An diesem Vormittag schien alles zu passen. Sie hatten beide einen freien Tag. Ihre Firma beriet Unternehmen in der Logistik- und Transportbranche in Sicherheitsfragen und übernahm Überwachungsaufgaben. Ihre Spezialität waren verdeckte Ermittlungen. Gegen Abend traf sich Solo mit dem Geschäftsführer eines Möbelhauses, dessen Fuhrparkleiter im Verdacht stand, eigene kleine Geschäfte zu betreiben und dafür die LKW der Firma zu benutzen. Routine. Abendessen im Fody’s auf Spesen, Vorlage eines Konzepts, Vertragsabschluss und Bewilligung des Vorschusses. Brot- und Butterarbeit. Etwas Ähnliches hatte Tarzan vor zwei Tagen auch gemacht. Er hatte mit Frau Goschmann im Restaurant MaRuBa gespeist, hatte Statistiken betrachtet, Prospekte gewälzt und war verschiedene Arten der Präsentation mit der kompetenten und zudem sehr sympathischen Frau durchgegangen um sich schließlich für eine davon zu entscheiden – und genau das war sein Fehler gewesen! Er hatte sich entschieden. Er allein! Aber so richtig. Mit Parker-Kuli und schwungvoll hingeworfener Signatur. Man hatte zum Abschied Bussi links, Bussi rechts getauscht. Ein gutes Geschäft! Für beide Seiten, so wie es sein sollte. Tarzan hatte die MaRuBa mit stolzgeschwellter Brust verlassen. Das Grummeln in seinen Eingeweiden kam erst später, als er den unauffälligen VW-Passat, den sie als Dienstwagen nutzten, am Viernheimer Dreieck weiter auf die A6 steuerte. Zehn Minuten, dann wäre er zu Hause. Zu Hause bei Solo ... grummel, grummel. Das kam mit Sicherheit nicht vom Pangasius und auch nicht vom Dessert.

Stefany Goschmann war die Geschäftsführerin der Mannheimer Ausstellungs GmbH, die Deutschlands größte regionale Verbrauchermesse, den Mannheimer Maimarkt, organisierte. Tarzan hatte gerade einen Vertrag über einen Messestand in Halle 25 abgeschlossen, wo auch Firmen, die Sicherheitszubehör vertrieben, ihre Ausstellungsflächen hatten. Toller Platz, unmittelbar neben einer der Türen. Nicht riesig, aber genug Raum für ein paar Stellwände und eine kleine Sitzgruppe für Kundengespräche. Tarzan sah sich schon im Business-Anzug mit den Großen der Metropolregion über Personalauswahl und Präventionsmaßnahmen konferieren. Das war es! Das war der Sprung von der Klitsche zum seriösen Unternehmen. Einen Namen hatte er auch schon dafür. Solomon & Zahn Sicherheitsberatung war einfach zu brav und zu sperrig für das 21. Jahrhundert. LOGSAVE Consulting. Das ging runter wie ein edler Single Malt und klang richtig teuer. Sie würden ihre Tarife neu ausrichten müssen. Dumm nur, dass er mit dieser Idee dastand wie das berühmte Männlein im Walde: allein, still und stumm ... und genau das hatte er mit dem gründlich verunglückten Gespräch ändern wollen. Ändern müssen. Immerhin verfügte er über die Gabe, überzeugend zu sein. Er war schließlich schon als Rheumadeckenverkäufer, Vermögensberater und sogar als Tupper-Mann unterwegs gewesen. Er hatte sich noch gefragt, ob das reichen würde, in der stets skeptischen, eher pessimistisch veranlagten Solo Begeisterungstürme zu entfachen.

Es hatte nicht genügt. Tarzan stopfte das triefende Küchenpapier in den Mülleimer und wischte die Stätte des Zorns noch feucht nach. Zum Glück hatte die Edelstahlspüle schon genug Beulen, so dass die mit Elan hinein gepfefferte Bratpfanne keine ernstzunehmenden Schäden angerichtet hatte. Er drückte den Gummistopfen in die Abflussöffnung, gab einen Spritzer Spüli hinein und drehte das Wasser auf. Solo beobachtete ihn verstohlen von der Außenterrasse aus. Tarzan spülte nie freiwillig Geschirr …

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Der schwarze Passat rollte mit knirschenden Reifen neben einem dunkelgrünen A6 aus. Das schöne Wetter vom Vormittag war einer Kaltfront mit böigem Wind gewichen. Außer dem Audi war kein anderes Auto zu sehen. Hier draußen am Rhein, am Ende der breiten Betonpiste, die die Lampertheimer Nato-Straße nannten, war unter der Woche nicht viel los. Höchstens ein paar Angler oder Schulschwänzer mit ihren Motorrollern. Ideal für ein geheimes Treffen. Der Audi war leer. Tarzan stieg aus, verriegelte seinen Wagen und steckte die Hände tief in die Taschen seines schäbigen Dufflecoats. Die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen ging er in Richtung Rheinufer, wo neben einem eisernen Poller ein großes Halmamännchen stand.

Das Halmamännchen war grün. Als Tarzan nahe genug war, dass man seine Schritte hören konnte, drehte es sich um. Der grüne Lodenumhang reichte fast bis zum Boden, und den Kopf bedeckte ein zerknautschter, ebenfalls grüner Filzhut. Der schmale Streifen Gesicht, der zu sehen war, hatte rotgeäderte Apfelbäckchen, verkniffene kleine Äugelein, eine Knollennase und einen tief nach unten gebogenen Merkelmund.

„Grüß Gott.“ Die Schweinsäuglein blitzten belustigt, und das Doppelkinn hob sich etwas in der Andeutung eines Lächelns. „Was verschafft meinem Rheuma die Ehre eines solch hochkonspirativen Treffens an einem derartigen Ort?“ Die Frau unter der bajuwarischen Burka war gut gelaunt, und Tarzan registrierte den hauchfeinen Unterschied zwischen wohlmeinendem Spott und der normalerweise beißenden Ironie des Rottweilers.

Rottweiler ... so hatten sie Elke Lukassow immer genannt, als sie noch Erste Hauptkommissarin bei der Heidelberger Kriminalpolizei gewesen war. Zwei Jahre zuvor war sie hochdekoriert und mit allen Ehren in den Ruhestand gegangen, was die Unterwelt in der gesamten Region mit großer Zufriedenheit erfüllt hatte. Die übrigens nicht sehr lange währte, stieg doch mit Frank Furtwängler ihr ganz spezieller „Spezi“ zu ihrem Nachfolger auf. Der trug zwar knittrige H&M-Anzüge anstatt oberfränkischer Tracht, hatte sich aber in der langen harten Dienstzeit als Kollege der robusten Ermittlerin sowohl deren Scharfsinn und manchmal wunderliche Kombinationsgabe, wie auch ihre einmalige Verhörkunst angeeignet und war geradewegs dabei, in die Riege der Topermittler im Regierungsbezirk aufzusteigen.

Seit einem halben Jahr war Lukassow mehr oder weniger stille Gesellschafterin der Solomon & Zahn Sicherheitsberatung, Verzeihung, der „LOGSAVE Consulting“. Der Rottweiler war Tarzans letzte Rettung. Sie hatte ihn vier Wochen zuvor mit Stefany Goschmann zusammengebracht. Dieser war kurz vor Schluss noch ein Aussteller abgesprungen, und sie suchte nun einen Ersatz. Lukassow teilte natürlich von Anfang an Tarzans Bedenken, was Solos Zustimmung zu diesem Projekt betraf, und hatte ihn entsprechend gewarnt. Aber Tarzan, stets begeisterungsfähig und Feuer und Flamme für neue Ideen, hatte nur abgewinkt und gesagt, er regele das schon.

„Tach“, Tarzan griente die Frau schief an, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, „Komm’ grad vom Küche putzen.“

„So arg?“

„Schlimmer ...“ Er wandte den Kopf ab und spuckte aus, „Ich glaub’, ich hab da einen Riesenfehler gemacht.“

„Unsinn!“ Dieses energisch hervor gepresste Wort machte Tarzan wieder Mut. Erleichterung breitete sich in ihm aus. Elke war auf seiner Seite. Der Rottweiler, des Menschen bester Freund.

„Ich rede mit ihr. Immerhin habe ich dich dazu animiert. Aber ich zahle ja auch die Hälfte. Solo soll sich nicht so anstellen. Trotzdem: Lass uns das auf neutralem Boden austragen. Wegen den Scherben und so. Spiegeleier. Hä?“ Tarzan starrte sie an wie ein Mondfisch.

„Da, auf deinen Jeans: Eigelb. Von der Konsistenz und Eindringtiefe her gebraten und gewendet. Hast dich richtig reingekniet in die Sache, was?“ Sie lachte, was sich anhörte wie das Keckern von Elstern. Ihr gewaltiger Busen brachte das Lodenzelt zum Zittern, und die Augen verschwanden kurz in einem Faltenmeer.

Tarzan grunzte und sah sich den gelben Fleck an. Zum Verbrecher war er nicht geboren. Eindeutige Spurenlage nannten sie das bei der Bullerei. Blieb er eben bei den Guten. War zwar schlechter bezahlt, aber sicherer. Obwohl ... wenn er an Solos Zorn dachte...

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„Ich zahle, basta!“, beendete Elke die Diskussion nach der Kanzler-Schröder-Methode. Die Bedienung grinste freundlich und wartete, bis die korpulente Dame umständlich jede Menge Fünf-Euro-Scheine und Münzgeld aus einer riesigen Geldbörse gefischt hatte und auf dem Tisch ausbreitete, als gelte es eine Monopoly-Kasse zu ordnen.

„Was macht das?“, fragte sie, obwohl der Beleg vor ihr lag, denn sie hatte ihre Lesebrille in den Untiefen ihrer koffer großen Handtasche verloren.

„Neunundfünfzig neunzig“, erwiderte die junge Servicekraft, immer noch lächelnd.

„Sechzig“, brummelte die Lukassow, nahm einen Schein von dem Haufen wieder an sich und verstaute den Beleg in ihrem Geldbeutel.

„Für Sie.“ Tarzan legte fünf Euro dazu, was ihm einen bösen Blick von Solo und eine spitze Schnute von Elke bescherte.

Das Fräulein schaltete sein Lächeln von professionell auf freundlich um.

„Danke, einen schönen Abend noch.“

Als sie den Parkplatz erreichten, sagte Tarzan grinsend: „Mir hat sie einen schönen Abend gewünscht, dass ihr’s wisst, ihr Geizhälse. Mir, nicht euch!“

„Trinkgelder kann ich nicht absetzen“, entgegnete Elke lapidar, und Solo fragte: „Wo willst du denn noch was absetzen? Du bist doch im Ruhestand?“

„Bei der UN, oder habe ich nicht gerade den dritten Weltkrieg verhindert?“

„Zumindest den atomaren Erstschlag“, frotzelte Tarzan, und Solo funkelte ihn wütend an.

„Das ist noch nicht gegessen, dass du’s weißt! Betrachte die Situation als Waffenruhe, nicht als Kapitulation vor deiner Großmannssucht!“

„Pst!“, zischte Elke und wackelte drohend mit ihrem riesigen Stockschirm, „Gebt’s a Ruh jetzt, ihr Streithammel! Der Tarzan hat seine Abreibung für seinen Alleingang gekriegt und wird von jetzt an nie wieder ungenehmigte Alleingänge machen, und gut ist! Ob der nun vier Wochen keinen Sex hat oder nicht, ist euer Bier!“

Solo zuckte zusammen und wechselte einen augenrollenden Blick mit Tarzan.

Als sie hinter Elkes Audi herfuhren, schüttelte Solo den Kopf. „Schon herb die Elke, oder?“

Tarzan räusperte sich. „Man muss sie einfach gernhaben, die alte Brigg.“

Solo steuerte den Firebird konzentriert über die schmale Straße auf die Silhouette von Lampertheim zu. „Kommst du da klar mit?“

„Mit dem Rottweiler? Glaube schon, ich kenn’ die ja genauso lange wie du.“

„Mit vier Wochen ohne Sex.“

„Vier Wochen ohne ...“ Tarzan drehte seinen Kopf mit der markanten Schiebermütze in Zeitlupe in Solos Richtung. Solo musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Der erschrockene Blick und der offenstehende Mund verliehen ihrem Lebensgefährten das Aussehen eines von einem Narkosegeschoss getroffenen Brüllaffen. Solos Wangenmuskeln traten hervor, so sehr biss sie die Zähne zusammen.

Tarzan schloss den Mund wieder, als er endlich merkte, dass Solo Spaß machte.

„Warum nicht“, antwortet er mit gespielter Gleichgültigkeit, „wir sind ältere Leute. Es reicht, wenn wir’s jede Nacht treiben: Weihnacht, Fastnacht ...“

„Na, dann ist ja gut“, antwortete Solo und legte so viel Erleichterung in diesen Satz, dass Tarzan schon wieder misstrauisch aus der Wäsche guckte. Frauen. Da wusste man nie...

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Tartu, Estland, am gleichen Tag

Taavi Kuramaa blickte über die weißgereiften Dächer der Innenstadt. Im eisigen Dunst des Nachmittages ragte der nahe Tigutorn-Tower wie eine gigantische vergessene Adventskerze in den bleigrauen Himmel. Taavi atmete tief die schwach nach Kohlefeuern und Abgasen riechende Luft ein. Einmal, zweimal, dreimal. Er arretierte das Dachfenster und drehte sich um. Das kleine Wohnzimmer war preiswert, aber geschmackvoll eingerichtet, eine Kunst, die in Estland viele beherrschten. Gebrauchte Möbel aus Nachlässen oder selbst restaurierte historische Stücke. Ein großes, selbst gebautes Bücherregal voller antiquarischer Schinken. Indrek Poom war Schreiner. Er arbeitete in einem Vorort der Universitätsstadt für den größten Sarghersteller des Landes. Die Wohnung in Zentrumsnähe, der acht Jahre alte BMW auf dem Parkplatz und die kleine Sammlung wertvoller Chronographen zeugten von bescheidenem Wohlstand, den ein Leben als angestellter Schreiner nicht hergab. Taavi öffnete auch das zweite Dachfenster und verriegelte es. Er stellte die Heizung ab und riss eine Seite aus einem Notizbuch, das auf einem Beistelltisch lag. Das Notizbuch mit den Adressen ... Poom war ein gewissenhafter Mensch. Ein leidenschaftlicher Statistiker und Buchhalter. Alles hatte er niedergeschrieben. Alles. „Bin im Urlaub, komme in zwei Wochen zurück“, schrieb Taavi auf den Zettel. Nach einigem Suchen entdeckte er in einer Schublade in der Küche eine Rolle Klebeband. Den Zettel würde er an der Eingangstür anbringen. Die offenen Fenster waren von der Straße aus nicht zu sehen, und die einströmende Kaltluft würde dafür sorgen, dass die Leiche nicht so schnell verweste. Taavis Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. Er hatte den alten Schreiner nicht zu hart angefasst. Gut, er hatte ihn gefesselt und ihm schlimme Dinge angedroht. Hatte mit einem Elektromesser herumgefuchtelt und einen Löffel über einer Kerze erhitzt. Irreführung, alles nur Irreführung. Taavi wollte Poom nicht verletzen. Schon gar nicht umlegen. Es war ja auch gar nicht nötig gewesen. Der eingeschüchterte Mann im Plüschsessel hatte ihm alles gesagt, was er wissen wollte. Dann bekam er diese eigenartigen Zuckungen, die Taavi zunächst für eine Finte gehalten hatte. Als Schaum aus dem Mund trat und die Augen nach hinten klappten, war es zu spät. Epilepsie oder Herzinfarkt oder so was. Taavis Mitleid hielt sich in Grenzen. Der Kerl hatte Geld damit verdient, Leichen zu stehlen und zu verkaufen. An diesen Russen namens Marat Bolkow, der in Tallinn eine Im- und Exportfirma betrieb. Auch Anneli war diesen Weg gegangen. Seine geliebte Anneli ...

Taavi warf der Leiche einen letzten Blick zu und ging in den Flur. Durch den Türspion schaute er nach, ob sich draußen jemand aufhielt. Alles ruhig. Er öffnete die Tür und befestigte den Zettel in Augenhöhe. Ein Vorsprung, mehr nicht. Taavi machte sich da keine Illusionen. Er war ein Mörder. Zumindest war ein Mensch durch Umstände gestorben, die er herbeigeführt hatte. Er hatte keine Zeit und keine Lust, die juristischen Feinheiten mit der Staatsanwaltschaft zu diskutieren. Taavi hatte Glück. Ohne dass ihm jemand begegnete, gelangte er aus dem vierstöckigen, schäbigen Mietshaus auf die Straße und erreichte nach wenigen Minuten seinen alten Lada, den er in einer Seitenstraße geparkt hatte. Die Versuchung, mit Pooms BMW seine Fahrt fortzusetzen, war mächtig, doch er widerstand ihr. Das Risiko war zu groß. Womöglich kam am selben Tag noch irgendein Verwandter, der einen Schlüssel hatte, und fand den Toten. Taavi startete sein Auto und steuerte es in Richtung Nordwesten aus der Stadt. In drei Stunden konnte er in Tallinn sein, wenn das Wetter mitspielte. Dort würde er sich einen abgelegenen Parkplatz suchen und im Auto schlafen. Am nächsten Tag würde er in den Hafen fahren und Bolkow aufsuchen. Der würde für seine Tat bezahlen. Alle sollten sie bezahlen. Kuramaa war unterwegs. Er würde seine Anneli heimholen. Er würde sie in Würde begraben. In der Erde ihrer Heimat, die sie so sehr geliebt hatte, obwohl sie ihr und dem Kind den Tod gebracht hatte. Taavi hatte nichts zu verlieren. Alles, was sein Leben ausmachte, war in die Hände von perversen Leichenhändlern gelangt, die schmutziges Geld damit verdienten. Der Mann aus Urawa war entschlossen, ihrer Spur zu folgen.

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City-Airport Mannheim, 27. April, 6.30 Uhr

Der schwarze Mercedes Sprinter hielt vor der Schranke, die die Zufahrt zu den privaten Hangars markierte. Der Fahrer hielt einen Transponder vor das Lesegerät, und der gelbschwarze Aluminiumbalken hob sich. Der Transporter fuhr an abgestellten Kleinflugzeugen vorbei und stoppte vor dem großen Rolltor einer Leichtbauhalle. Im Gegensatz zu den anderen Hangars verfügte dieser über eine elektronische Zugangssicherung mit Tastenfeld, die in einem unauffälligen grauen Kasten untergebracht war. Der Beifahrer, ein rotblonder, dandyhaft wirkender junger Mann in tailliertem Kurzmantel und wehendem weißen Schal, stieg aus, klappte die Abdeckung des Kastens auf und tippte eine siebenstellige Kombination ein. Ein Piepton und eine grün leuchtende Lampe signalisierten die korrekte Eingabe und der Mann aktivierte den Tormechanismus. Ein metallisches Klacken ertönte, als die mechanische Sicherung zurückfuhr. Rasselnd hob sich das fünfzehn Meter breite Sektionstor. Das Innere der Halle blieb dunkel, nur die ersten paar Meter wurden von dem trüben Licht dieses regenverhangenen Morgens erhellt. Die Scheinwerfer des Sprinters waren abgeschaltet, und als das Tor die nötige Höhe erreicht hatte, fuhr der Fahrer den Wagen hinein. Augenblicklich drückte der Beifahrer den Schließknopf, und eine halbe Minute später war das Tor wieder zu. Jetzt aktivierte der junge Mann mit den spitzen Designerschuhen und den gepflegten Händen eines Künstlers die Beleuchtung. Summend und klickend schalteten sich mehrere Reihen von Leuchtstofflampen ein und tauchten die große Halle in ihr kaltes Licht. An einer Seitenwand stand ein filigraner Tragschrauber, dessen Rotoren zusammengefaltet waren und daneben, auf Holzböcken, der leere Rumpf eines historischen Jagdflugzeugs, übersät mit Spachtelflecken und in einem tristen Schlachtschiffgrau grundiert. In der hintersten Ecke erahnte man unter einer Plane ein schweres Motorrad. Eine lange Werkbank und mehrere Metallschränke ergänzten die Einrichtung. An der Rückseite der Halle befand sich ein Anbau aus Kalksandsteinen, der eine spartanische Küche sowie Toilette und Waschraum beherbergte. Auf der anderen Seite der Halle dominierte ein rotbrauner Überseecontainer den Raum. An seiner Stirnseite summte ein elektrisches Kühlaggregat, von dem aus eine dicke Starkstromleitung zu einer der roten Steckdosen am Hauptverteilerkasten führte. Der Container war ein Zwanzig-Fuß-TEU, also die kleinere Version der zu Hunderttausenden in der ganzen Welt eingesetzten Normbehälter. Dieser hier war isoliert und für den Transport temperaturgeführter Waren ausgerüstet.