Cassandra Clare
Maureen Johnson

Die Feuerprobe

Aus dem Amerikanischen von

Franca Fritz und Heinrich Koop

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Als Simon die Augen öffnete, befand er sich nicht länger im Freien. Er lag auf einem ziemlich bequemen und weichen Untergrund. Seine Hände ertasteten etwas Samtiges. Ruckartig setzte er sich auf und stellte fest, dass es sich um das Sofa im Empfangsraum handelte. Vor ihm stand noch immer das Teeservice. Magnus und Catarina lehnten an der Wand und berieten sich leise, während Jem auf einem Stuhl saß und ihn beobachtete.

»Sachte, nicht so schnell«, forderte er Simon auf. »Hol erst einmal tief Luft.«

»Was zum Teufel ist hier los?«, krächzte Simon.

»Du hast Wasser aus dem Lyn-See getrunken«, erklärte Jem ruhig. »Und das verursacht Halluzinationen.«

»Ihr habt uns Wasser aus dem Lyn-See trinken lassen? Wo ist Clary?«

»Es geht ihr gut«, versicherte Jem. »Trink einen Schluck Wasser. Du hast bestimmt Durst.«

Jemand drückte ihm ein Glas Wasser an die Lippen. Catarina nickte ihm aufmunternd zu.

»Machst du Witze?«, schnaubte Simon. »Ihr wollt, dass ich das da trinke? Nach allem, was gerade passiert ist?«

»Keine Sorge«, sagte Catarina. »Das Wasser ist in Ordnung.« Sie nahm einen kräftigen Schluck und gab ihm das Glas zurück. Simon bemerkte, dass sein Mund tatsächlich wie ausgetrocknet war. Seine Zunge fühlte sich pelzig an. Er griff nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Dann füllte er es aus dem Krug auf dem Sofatisch wieder auf, trank erneut und goss noch einmal nach. Erst nach dem dritten Glas Wasser fühlte er sich allmählich in der Lage, wieder sprechen zu können.

»Ist das Wasser des Lyn-Sees nicht dafür bekannt, dass es die Leute in den Wahnsinn treibt?«, fragte er mit unverhohlener Wut in der Stimme.

Jem saß ruhig da, die Hände auf die Knie gelegt. Jetzt konnte Simon sein hohes Alter erkennen, aber nicht an seinem Gesicht, sondern an den Augen. Sie wirkten wie dunkle Spiegel, die das Verstreichen unzähliger Jahre reflektierten.

»Wenn es zu irgendwelchen Komplikationen gekommen wäre, hätten wir euch innerhalb einer Stunde zu den Stillen Brüdern gebracht. Ich mag der Bruderschaft zwar nicht mehr angehören, aber ich habe früher genügend Leute behandelt, die von dem Seewasser getrunken hatten. Magnus hat den Tee zubereitet, weil er sowohl mit Clarys als auch mit deinem Verstand gearbeitet hat. Und Catarina ist eine ausgebildete Krankenschwester. Ihr wart also zu keinem Zeitpunkt in Gefahr«, sagte Jem beruhigend. »Tut mir leid – keiner von uns wollte euch hintergehen. Das alles geschah nur zu eurem Besten.«

»Das ist keine Erklärung«, erwiderte Simon. »Ich will zu Clary. Ich will wissen, was hier los ist!«

»Es geht ihr gut«, beteuerte Catarina. »Ich werde gleich noch mal nach ihr sehen. Mach dir keine Sorgen.«

Sie verließ den Raum, woraufhin Jem sich zu Simon vorbeugte.

»Bevor Clary ins Zimmer kommt, muss ich dich etwas fragen: Was hast du gesehen?«

»Du meinst, während ihr uns unter Drogen gesetzt habt?«

»Simon, das ist sehr wichtig. Was hast du gesehen?«

»Ich war in New York. Ich … dachte zumindest, ich sei in New York. Waren wir denn in New York? Habt ihr ein Portal geöffnet?«

Jem schüttelte den Kopf.

»Du warst die ganze Zeit hier in diesem Raum. Bitte, erzähl es mir.«

»Clary und ich waren im Central Park, auf der Bethesda-Terrasse. Der Engel im Brunnen hob plötzlich ab und die Terrasse wurde überflutet und Clary war auf einmal verschwunden. Dann tauchte ein Boot auf und fuhr mit mir durch einen ›Liebestunnel‹, zusammen mit Jace, der die ganze Zeit von mir verlangte, dass ich mich an unsere erste Begegnung erinnern solle, auch wenn ich ihn damals gar nicht gesehen habe.«

»Warte mal einen Augenblick«, bat Jem. »Sagt dir das etwas? Hat das für dich irgendeine Bedeutung?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mich immer wieder aufgefordert hat, mich zu erinnern.«

»Und erinnerst du dich jetzt?«

»Nein«, fauchte Simon. »Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Vermutlich war ich damals irgendwo mit Clary. Denn Clary konnte ihn sehen.«

»Bitte fahr fort«, sagte Jem. »Was ist dann passiert?«

»Danach habe ich Maia gesehen. Und Jordan. Sein T-Shirt war über und über mit Blut bedeckt«, berichtete Simon. »Kurz darauf endete meine Fahrt und katapultierte mich auf den East River, wo irgendein Mädchen namens Maureen auftauchte. Sie behauptete, sie sei meinetwegen gestorben, und sprang dann in den Fluss. Clary trieb bereits im Wasser und ich …«

Simon erschauderte erneut. Sofort stand Jem auf, griff nach einer Wolldecke und legte sie Simon um die Schultern.

»Rück näher ans Feuer«, riet Jem, half Simon auf und begleitete ihn zu einem Stuhl vor dem Kamin. Als Simon sich etwas aufgewärmt hatte, ermutigte Jem ihn weiterzuerzählen.

»Maureen meinte, ich müsse mich entscheiden, wen von ihnen beiden ich retten wolle. Kurz darauf tauchte Jace wieder auf und hielt mir irgendeinen Vortrag über schwere Entscheidungen. Und dann bin ich in den Fluss gesprungen.«

»Für wen hattest du dich entschieden?«, fragte Jem. »Wen wolltest du retten?«

»Ich hatte … überhaupt keine Entscheidung getroffen. Ich wusste einfach nur, dass ich springen musste. Irgendwie ahnte ich wohl, dass Maureen tot war. Das hatte sie selbst gesagt. Aber Clary war nicht tot. Ich musste einfach zu ihr. Und plötzlich bekam ich wieder Kraft und Energie und konnte zu ihr schwimmen. Und während ich auf sie zuschwamm, sah ich, dass sie mir entgegenkam.«

Jem lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte nachdenklich die Fingerkuppen aneinander.

»Ich will zu Clary«, stieß Simon zwischen klappernden Zähnen hervor. Sein Körper fühlte sich warm an – vermutlich hatte er in Wahrheit keine einzige Sekunde gefroren –, aber die Fluten des East River kamen ihm noch immer schrecklich real vor.

Im nächsten Moment erschien Catarina mit Clary, die ebenfalls in eine Decke gehüllt war. Jem sprang auf und bot ihr seinen Stuhl an. Clarys Augen wirkten groß und glänzend und sie sah Simon erleichtert an.

»Hast du das auch erlebt?«, fragte sie. »Was auch immer das war …«

»Ich denke, wir haben was Ähnliches erlebt«, erwiderte Simon. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht’s gut. Mir ist einfach nur furchtbar kalt. Ich dachte, ich wäre im Fluss gelandet.«

Das Zittern, das Simons Zähne klappern ließ, endete abrupt.

»Du hast gedacht, du wärst im Fluss gelandet?«

»Ich hab versucht, zu dir zu schwimmen«, erklärte Clary. »Wir waren im Central Park und plötzlich wurdest du vom Erdboden verschluckt – so als hätte man dich lebendig begraben. Dann ist Raphael aufgetaucht und hat mich auf seinem Motorrad mitgenommen. Und als wir über den Fluss geflogen sind, hab ich dich plötzlich im Wasser gesehen und bin abgesprungen …«

Catarina, die hinter Clarys Stuhl stand, nickte.

»Ich hab so was Ähnliches gesehen«, sagte Simon. »Nicht exakt dasselbe, aber nah genug an deiner Version. Und ich hab es bis zu dir geschafft. Du bist auf mich zugeschwommen. Und dann waren wir wieder …«

»… im Central Park. Bei diesem Springbrunnen mit dem Engel.«

Magnus hatte sich zu ihnen gesellt und streckte sich jetzt auf dem Sofa aus. »Der Bethesda-Brunnen«, erläuterte er. »Gut möglich, dass die Schattenjäger bei dessen Errichtung ihre Hand im Spiel hatten. Ich mein ja nur.«

»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Simon. »Was sollte das Ganze?«

»Ihr beiden seid anders als die anderen«, erklärte Magnus. »In eurer Vergangenheit sind Dinge passiert, die bedeuten … dass man bei euch andere Maßstäbe anlegen muss. Da wäre zunächst mal die Tatsache, dass sowohl Clarys als auch dein Erinnerungsvermögen manipuliert wurde. Außerdem hat Clary einen ungewöhnlich hohen Anteil an Engelsblut in den Adern und du, Simon, warst früher ein Vampir.«

»Ja, das wissen wir alles. Aber warum musstet ihr uns unter Drogen setzen, damit wir irgendeinen symbolischen Akt ausführen?«

»Das war kein symbolischer Akt. Bei der Parabatai-Zeremonie wird die Feuerprobe abgelegt, bei der die beiden Partner in Kreisen aus Flammen stehen, um den Bund zu schließen«, sagte Catarina. »Aber das hier … das war die Wasserprobe. Es liegt in der Natur dieser Prüfung, dass die Prüflinge vorher nichts davon erfahren dürfen. Denn eine mentale Vorbereitung darauf könnte das Ergebnis verfälschen. Und bei dieser Prüfung hier ging es nicht um Julian und Emma, sondern um euch beide. Denkt darüber nach, was ihr gesehen habt. Was ihr erfahren habt. Denkt darüber nach, was ihr gefühlt habt … als ihr beide plötzlich in der Lage wart, aufeinander zuzuschwimmen, obwohl ihr am Ende eurer Kräfte wart und eigentlich hättet sterben müssen.«

Simon und Clary sahen einander an. Allmählich lichtete sich der Nebel.

»Ihr seid ins Wasser gesprungen«, sagte Jem. »Und habt euch in Gedanken am selben Ort wiedergetroffen. Ihr wart in der Lage, euch gegenseitig aufzuspüren. Ihr wart miteinander verbunden. ›Und da verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigen Herz.‹«

»Parabatai?«, fragte Simon. »Moment mal. Wollt ihr mir damit etwa sagen, dass es bei dieser Geschichte um den Parabatai-Bund geht? Ich kann aber keinen Parabatai haben. Schließlich bin ich vor zwei Monaten neunzehn geworden.«

»Das stimmt nicht ganz«, wandte Magnus ein.

»Was meinst du mit nicht ganz?«

»Simon, du warst tot«, erklärte Magnus unverblümt. »Fast ein halbes Jahr lang. Du magst zwar herumgelaufen sein, aber du warst nicht mehr lebendig, kein Mensch mehr. Diese Zeit zählt nicht. Nach Schattenjägermaßstäben bist du noch immer achtzehn. Damit hast du bis zu dem Tag, an dem du neunzehn wirst, Zeit, einen Parabatai zu finden.« Magnus schaute zu Clary. »Clary ist ja, wie du weißt, noch innerhalb der Altersgrenze. Es müsste also genügend Zeit bleiben, dass ihr beide – unmittelbar nach deiner Aszension – den Parabatai-Eid ablegen könnt. Falls ihr das wollt.«

Magnus sah zwischen ihnen hin und her. »Manche Menschen sind wie dafür geschaffen, Parabatai zu werden«, fuhr er fort. »Sozusagen dafür geboren. Die Leute denken oft, dass es darum geht, sich gut zu verstehen, immer einer Meinung und total im Gleichklang zu sein. Aber das stimmt nicht. Hierbei geht es darum, gemeinsam stärker zu sein. Gemeinsam besser zu kämpfen. Alec und Jace waren nicht immer einer Meinung, aber gemeinsam waren sie immer besser als allein.«

»Mir wurde von verschiedenen Seiten zugetragen, wie sehr ihr euch immer füreinander eingesetzt habt«, sagte Jem mit seiner sanften Stimme. »Wie sehr ihr immer füreinander eingetreten seid und wie wichtig euch das Wohl des anderen war. Wenn ein Parabatai-Bund wahrhaftig ist, wenn die Freundschaft tief und aufrichtig ist, dann kann sie alles andere übersteigen.« In seinen Augen lag ein Ausdruck großer Trauer … einer solch allumfassenden Trauer, dass es Simon fast Angst einjagte. »Wir mussten herausfinden, ob diese Beobachtungen über euch beide wirklich zutrafen ParabataiParabatai