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Manfred Schneider

TRANSPARENZTRAUM

Manfred Schneider

TRANSPARENZTRAUM

Literatur,
Politik,
Medien
und das Unmögliche

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Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren?

(Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne)

je me suis, je me réponds, je me reflète et me répercute, je frémis à l’infini des miroirs – je suis de verre

(Paul Valéry: Monsieur Teste)

Im Glashaus zu leben, ist eine revolutionäre Tugend par excellence.

(Walter Benjamin: Der Surrealismus)

›GLASS TOWN‹! – Kannstu Dir das vorschtellen, Herta?

(Arno Schmidt: Kaff auch Mare Crisium)

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel:

Was ist der Transparenztraum?

Erfolgsgeschichte eines Wortes

Was Philosophen über Transparenz denken

Momos und seine Freunde

Der Albtraum und das Unmögliche?

Zweites Kapitel:

Der Transparenzträumer René Descartes

Büchersturm

Traumarbeit

Denkarbeit

Drittes Kapitel:

Gläserne Körper, lesbare Herzen: Der Transparenzwahn 1500 - 1800

Die Melancholiker und ihr Glaskörper

Der gläserne Körper wird bruchsicher, dafür aber durchsichtig

Viertes Kapitel:

Jean-Jacques Rousseau: Der Transparenztraum wird politische Theorie

Undurchsichtige Welten

Opakwerden des ersten Wortes

Der republikanische Transparenztraum

Pädagogik und Politik der durchsichtigen Wörter

Fünftes Kapitel:

Transparenzterrorismus und Panvisionen: Marat, Bentham, Ernst Wagner und Google Earth

Demaskierung

Das Auge des Volkes und das Auge Gottes: Jean Paul Marat

Jeremy Bentham und Ernst Wagner

Jean Baudrillard und Google Earth

Sechstes Kapitel:

Glasarchitektur und Sozialutopien

Cristal Palace

Durchsichtige Welt und Gesellschaft: Charles Fourier

Transparente Leidenschaften in transparenter Architektur

Wera Pawlownas Transparenztraum

Siebtes Kapitel:

Die Träume von 1900

Spirituelle Glashäuser: Bruno Taut

Die Zwillinge Fourier und Scheerbart

Gehirnspiegel und andere Einblickstechnologien

Achtes Kapitel:

Die Avantgarde träumt vom gläsernen Leben

Durchblicke ins Unbewusste: Freud

Vom gläsernen Betttuch zu den Grands Transparents: André Breton

Das Unmögliche hier und jetzt und sonst nirgendwo: Antonin Artaud

Theorie des Transparenztraums: Walter Benjamin

Neuntes Kapitel:

Transparenzschrecken

Gipfeltreffen ehemaliger Barbaren

Staat aus Glas: Jewgeni Samjatins Roman Wir

Albträume im Kino: Sergeij Eisensteins Glashaus-Projekt

Transparenzschrecken durch Drogen: Karin Boyes Roman Kallocain

Traumlesemaschine aus Hollywood: Futureworld

Zehntes Kapitel:

Endzeiten des Transparenztraums

Aus der Geschichte des Gehirnlesens

Hirnleser unserer Tage

Whistleblower und WikiLeaks

Abschied von den Piraten

Fliege vor dem Glasfenster: Abgesang auf den Transparenztraum

Anmerkungen

Bibliographie

Erstes Kapitel:

Was ist der Transparenztraum?

Erfolgsgeschichte eines Wortes

Auch unter Wörtern gibt es Stars. Sie können von Moden auf den Zungen verteilt werden und wie Kaugummi für kurze Zeit süß schmecken. Aber es gibt auch Wörter, die lange gewartet haben, bis sie durch Wohlklang, Bedeutungsfülle und Verwendungshäufigkeit aus dem Verbalgetöse ihrer Zeit aufsteigen und sich unersetzlich machen. Transparenz ist ein solcher Star, der sich als semantischer Global Player gegenwärtig in immer mehr Sprachen niederlässt. Dabei stand das Wort transparentia bereits im Mittelalter der gelehrten Bildung zur Verfügung. Der Kirchenlehrer Albertus Magnus beschrieb Mitte des 13. Jahrhunderts in seinem lateinischen Traktat über die Seele Transparenz als Eigenschaft eines Mediums, das unsichtbar ist und dafür Licht sichtbar machen kann.1 Er führte transparens als Synonym des griechischen diaphanäs ein, denn dieses Wort hatte bereits in der antiken Philosophie Karriere gemacht. Der Neoplatoniker Plotin, griechisch schreibender Meisterdenker des 2. Jahrhunderts in Rom, dachte sich die himmlischen Intelligenzen, die selbst immateriell und durchsichtig sind wie Gott selbst, mit Blicken ausgestattet, die alles durchdringen: »Denn alles ist transparent (διαϕανής), es gibt nichts Schwarzes, nichts das Widerstand leistete; jedes himmlische Wesen ist in Weite und Tiefe lichthell für alle andern.«2

In der scholastischen Philosophenepoche des Albertus Magnus aber teilten sich noch verschiedene lateinische Wörter den semantischen Dienst an der Durchsichtigkeit. Das Lexikon führte die Wörter perlucidus, diaphanus, pervius, perspicuus. Aber transparens sollte siegen. Denn im 15. Jahrhundert entschlüpfte das Wort der exklusiven Gelehrtensprache und wurde im Französischen wie im Englischen heimisch,3 während sich die Deutschen mit dem hübschen Adjektiv durchscheinend zufrieden gaben. Glas, Wasser, Spiegel, Lüfte, Steine, Kleider, Stoffe wollten in Deutschland »durchscheinend«, später auch »durchsichtig« heißen, während diese Dinge im Englischen, Französischen und in anderen romanischen Sprachen auf den neuen Namen »transparent« getauft wurden. Bis dahin also füllte das Wort allenfalls eine Fußnote der europäischen Sprachgeschichte. Und auch in den folgenden Jahrhunderten schrieben es Gelehrte, Dichter und andere Schriftkundige nur gelegentlich in ihre Texte, ohne dass sich aus seiner Semantik etwas Besonderes ankündigte. Heute aber, seit gut 20 Jahren, geht von dem Wort Transparenz ein so einzigartiges Versprechen aus, es scheint sich zwischen seinen Buchstaben ein dichtes messianisches Potenzial angesammelt zu haben, als ob es, einmal und immer wieder ausgesprochen, bereits das vollbrächte, was es sagt, als ob das Wort selbst bereits Mauern, Türen, Schlösser, Siegel und Geheimdienstsicherheiten sprengte. An dem Wort hängt immer noch etwas von den himmlisch-spirituellen Privilegien, die Götter und Engel von der Erdenschwere trennen.

Wir brauchen nicht im Einzelnen aufzuzählen, in welche Fachsprachen der neue globale Begriff mit seinen Forderungen und hohen Versprechungen bereits eingedrungen ist: Wirtschaft, Technik, Politik sind im Begriff, sich rhetorisch in lichte Sphären, ja geradezu in immaterielle Scheinwelten zu verwandeln, in denen sich alles zu sehen gibt, was einst dem Auge und der Erkenntnis verschlossen blieb. Man könnte meinen, dass sich die Welt nun so durchsichtig einrichtete, als ob wir alle mit den Blicken der Geisterwesen aufgerüstet wären, die nach der Vorstellung Plotins keine Schalen und Häute mehr kennten. Im Glück der vermeintlichen Diaphaneitäten verwandeln wir uns in Platoniker, die sich nicht mehr um die Sachen kümmern müssen, die den Raum füllen; vor unseren Blicken verdampft alles Herumliegende und Querkommende, das sonst auf fremde Mächte, vor allem auf das Wort und die Schwerkraft hören; wir wollen hindurchblicken durch diese störende Dichte der Welt. Wir sind eine vornehme Elite der Beobachtung, die sich alles, was in den Medien der Fall ist, als ein medienloses Original einbildet. Kein Wunder, dass der Transparenzutopist Julian Assange die Internet-Welt immer noch als protohimmlisches Reich betrachtet und erklärt, dass das »platonische Wesen des Internets (…) durch seine physischen Ursprünge besudelt« wird.4

Die Entscheidungen der Regierungen, die Transaktionen der Banken, die Strategien der Unternehmen, die Pläne der Militärs – alles soll sich bis in kleinste Einzelheiten unserem platonischen Auge offenbaren. Wir wollen die transparent gemachte politische Welt in den Zeitungen, im Fernsehen, auf Internetseiten durchschauen, und möglichst immer tiefer durchschauen. Bitte die Welt in allerhöchster Auflösung! Kein Pixel darf entwischen! Nachdem Freiheit, Frieden, Sicherheit, Wohlstand gewonnen scheinen, schreiben wir Transparenz in die neue Charta der Grundrechte. Die Europäische Union kündigt im Vertrag von Maastricht und in immer neuen Protokollen des Europäischen Rates an, dass die Institutionen der EU »transparenter und bürgernäher« gemacht werden sollen.5 Die Industrie der Berater empfiehlt Politikern und Unternehmern, »Transparenz« im Minutentakt von sich selbst zu fordern. Kein Manager, der seine Strategie nicht auf Transparenz abstellen will.

Es zeigt sich, dass »Transparenz« immer nur in Aussicht gestellt werden kann. Transparenz hier und jetzt gibt es nicht. Daher errang eine politische Partei, die Piratenpartei, mit dem Versprechen von Transparenz zeitweise erstaunliche Wählerzustimmung. Die spirituellen Geister des Albertus Magnus kämen alle in den Bundestag. Transparenz steht als heroisches Programm über den Veröffentlichungen von Wiki-Leaks, das sich zur Devise erhoben hat: »Wenn Transparenz verweigert wird, muss Transparenz geschaffen werden«. Transparenz ist der Hauptartikel in den Freiheitsrechten, auf die die community des Internets schwört. Doch auch wer der Internetgemeinschaft nicht angehört, trägt die Bilder der Transparenzverheißung in sich. Wir wollen den Staat, den Geheimdienst, die Diplomatie, die Banken, die Militärpläne, die Privatvermögen in eine allgemeine Lesbarkeit ziehen, und wir wollen alle Geheimnisse, jedes hinter vorgehaltener Hand gesprochene Worte aus unserer akustisch und optisch lichten Welt verbannen, alle Schleier zerreißen, die schattenlose Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Wir werden später sehen, dass im 16. und 17. Jahrhundert eine melancholische Krankheit grassierte, die die Patienten mit der Einbildung heimsuchte, ganz und gar aus Glas zu sein.6 Die glass delusion war zunächst eine Kontaktneurose und später eine Paranoia und Observierungsfurcht.7 Gewiss gab es damals auch Spötter, die diese armen gläsernen Kranken zu Lustspielfiguren herabsetzten und sie dem Gelächter der Theater aussetzten. So grotesk und seltsam die Melancholie jener Zeit heute wirkt, der melancholische Wahnsinn unserer Tage pflegt die Vorstellung, dass die Welt selbst aus Glas sein könnte.

Der zeitgenössische Melancholiker und Phantast der Durchsicht erinnert an den Typus, den Michael Balint als Philobaten bezeichnet hat, als einen Neurotiker, der immer wieder, immer tiefer in objektlose Welten und Weiten einzutauchen wünscht, der, von keinem lebendigen oder dinglichen Objekt behindert, immer weiter in die freundliche Leere vorzudringen sucht.8 Der Nerd-Philobat sitzt inzwischen an einem Rechner und bildet sich ein, durch das Dickicht der Umgebung hindurch die platonischen Urbilder der Welt zu betrachten. Wer ihn dabei stört, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Der Transparenzwahn ist ein Medienwahn oder vielmehr der Wahn der Medienlosigkeit. Die elektronische Immaterialisierung unserer privaten, ökonomischen, politischen Umwelten hat dem alten Wort Transparenz diese unglaubliche Karriere ermöglicht. Der Aufstieg verlief zeitgleich mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien. Jetzt ist Transparenz der unsichtbare Star und prominente Sozius aller drahtlosen Weltkontakte, die wir über Rechner, Mobiltelefone, Tabletcomputer, TV-Geräte oder auch neuerdings über Spionage-Medien wie das NSA-Werkzeug Boundless Informant herstellen. Die Flügel, die uns die Wunschmaschine Google verleiht, tragen uns blitzartig in alle Winkel der informierten Welt, den Kosmos selbst eingeschlossen.

Nun ist auch der Wahn ein Verhältnis zur Welt, und selbst der skeptische Beobachter erklärt nicht alle wahnhaften Beobachtungen und Deutungen für verrückt. Nicht alle Wünsche, Forderungen, Vorschläge, Programme, die sich des magischen Wortes bedienen, stehen in Frage. Wo immer unter dem Zeichen von Transparenz Kritik an den Masken und Spielen und Übergriffen der Macht geführt wird, ist bisweilen auch Verrat angebracht. Kein Zweifel: Stets muss die Macht verfolgt, bewacht und beim Namen genannt werden. Gegenwärtig aber treten unter der Transparenzforderung Machtverlangen, theoretische Gewalt, blinde Medienideologie und unmögliche Versprechen in die Arena.

Was Philosophen über Transparenz denken

Ein Nachdenken über Transparenz setzt nicht erst hier ein. Es hat den Anschein, dass sich die Philosophen und akademischen Denker, denen vor sechshundert Jahren der theoretisch ausgearbeitete Begriff Transparenz aus den lateinischen Traktaten gestohlen und dem vulgärsprachlichen Alltag dienstbar gemacht wurde, das Wort zurückholen und ihm seine Starrolle und promiskuitive Semantik streitig machen wollten. Inzwischen ist eine Reihe von Büchern erschienen, die die erstaunliche Mode des Transparenzbegriffs beschreiben oder auch kritisch kommentieren. Vier von ihnen wollen wir hier kurz erwähnen.

Bereits vor gut 20 Jahren ist der italienische Philosoph Gianni Vattimo mit dem Buch La società trasparente hervorgetreten, das allerdings noch nicht im Zeichen des World Wide Web und der Transparenzeuphorie geschrieben wurde.9 Das Buch verstand sich als Beitrag zur damals blühenden Postmoderne-Debatte. Vattimo beschrieb folglich die postmoderne Lage als intransparent und verwirrend, ohne Zentrum, ohne verbindende Ideen, ohne leitende Gestalten, ohne eine in die Zukunft führende Perspektive. Diese Gegebenheiten schrieb er der Komplexität aller sozialen Prozesse zu, den dichten Informationsflüssen, den Massenmedien, dem technologischen Wandel. Eine solche Lage liebt der postmoderne Denker, bietet sie doch Anreize für eine Didaktik der Kontingenz, der Vielsprachigkeit, des Polyperspektivischen, der Simultaneität, der Toleranz, der Dezentrierung. Unbestreitbar ist Vattimos Einsicht, dass sich die Welt mit den konkurrierenden und dauernd wechselnden Deutungen abfinden muss. Sie rückt unvermeidlich in eine ironische Sicht auf sich selbst. Gegen seinen Befund einer zunehmend intransparenten Welt setzt Vattimo also kein Transparenzverlangen, er fordert nicht den Fortgang der aufklärerischen Ausleuchtungen, sondern plädiert für eine philosophische und ästhetische Lebenskunst, die die zunehmende Opazität der Welt zu ihrem Vorteil nutzt.

Im Zeichen dieser Lage erklärt der französische Soziologe Thierry Libaert die Rede von der Transparenz als paradox.10 So deutlich er die Ideologie der Transparenz, ihre politischen, ökonomischen, sozialen Versprechen kritisiert, so betont er doch die Notwendigkeit, dass demokratische Systeme unter der Aufsicht und Beobachtung nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch eigener Institutionen stehen. Ihm ist gewiss zuzustimmen, dass politische Vereinigungen wie Amnesty International, Attac, Transparency International, Reporter ohne Grenzen eine unverzichtbare Rolle spielten. Unter der Flagge der Transparenzverheißung segeln auch uralte selbstverständliche kritische Positionen. Es ist unabweisbar, dass gegen Marktmanipulationen, Korruption, gegen die rücksichtslose Gier, die sich in Banken, auf den Finanzmärkten und in anderen Bereichen der globalen Wirtschaft durchsetzt, und die sich den guten Leumund verschaffen, ganz und gar natürlich, menschengemäß und im Kanon der Freiheiten verankert zu sein, oft nur die Mittel der öffentlichen Kritik und informationellen Denunziation wirken.

Der amerikanische Autor David Brin setzt sich wiederum mit der wachsenden Armee von Überwachungskameras auseinander und sieht die transparent society als Effekt dieser unzähligen technischen Argusaugen, die unablässig die öffentlichen Räume abtasten.11 Gegen diese panoptische Gewalt setzt Brin eine Initiative, die die staatliche Überwachung durch Bürger überwachen lässt und damit eine Art Neutralisierung des politischen und zivilen Wissens herbeiführt. Die neuesten Nachrichten über die Abhörmethoden amerikanischer und britischer Geheimdienste geben aber zu erkennen, dass die Überwachung dieser Dienste eine schlichte Unmöglichkeit ist. Wenn sich der demokratische Geist nicht aus dem Inneren dieser westlichen Administrationen zur Wehr setzt, und dafür gibt es inzwischen einige Beispiele, ist der bürgerliche Widerstand selbst machtlos. Erst recht gilt dies für staatliche Spionage, die das Ausspähen eigener Bürger und fremder Netze zu einer Art kriegerischer Tätigkeit erklärt. Wo sich die Sprache ziviler Institutionen mit Kriegsrhetorik aufrüstet, dort setzt die Autolegitimation jeder Art von ungesetzlichen Handlungen ein.

In diese Reihe wichtiger Überlegungen zur Transparenz und Transparenzideologie gehört auch das kleine, eloquente und engagiert geschriebene Manifest des Philosophen Byung-Chul Han gegen die Transparenzgesellschaft.12 Er sieht sehr unterschiedliche aktuelle Tendenzen, die Denunziation des Geheimnisses, die Flut pornografischer Bilder, die von Richard Sennet kritisierte Tyrannei der Intimität, die panoptische Sicherheitstechnologie, als eine umfassende, destruktiv wirkende Evolution der Gesellschaft. Ein globaler Narzissmus reißt die Schleier vor den Privatsphären weg. Eine ganze Generation breitet sich playboyartig auf Facebook aus. Wir benötigen kein Kind mehr, wie in Andersens Märchen, das ruft »Der Kaiser ist nackt!«. Der Kaiser selbst triumphiert: »Schaut her, wie nackt ich bin!« Vor allem kritisiert Han vehement das der Transparenzideologie zugrunde liegende grundsätzliche Misstrauen und die postaufklärerische Denunziation des Arcanums und der Theatralität. In seinem Furor ist das Transparenzverlangen allerdings ikonoklastisch und legt die Axt an die Grundlagen unserer Kultur.

Was ist zu tun? Wir können allein darauf vertrauen, dass die Kritik, nämlich die genaue Unterscheidung, ihre eigene Wirkung entfaltet und das gedankenlose Nachbeten der Transparenzrhetorik nachhaltig stört. In diesem Sinne sind zunächst unterschiedliche begriffliche Seiten des Starwortes zu kritisieren. Denn Transparenz ist eine Metapher. Wer heute Transparenz fordert, der sehnt sich nicht wirklich nach Fenstern, Klarsichtfolien oder immateriellen Himmelswesen, sondern nach Information. »Durchsichtig« wollen wir die von industriellen, politischen, staatlichen, militärischen Organisationen errichtete Diaphragmen, die uns von dem begehrten Wissen trennen. Und mit diesen Informationen verbinden wir Freiheit und Gerechtigkeit. Der Intransparenz machen wir den Prozess. In der Forderung nach Transparenz haben sich die alten Versprechen von Wissen, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit eine neue verlockende Parole gegeben. Es ist ein politisches Psychopharmakon. So richtet sich das Verlangen nach Transparenz auf Daten und Information aus dem Reich des Unbekannten und virtuell Bösen: 1. von Institutionen, Unternehmen, Behörden, Ministerien, oder 2. von politisch wichtigen, zur Wahl stehenden Kandidaten oder sogar inkriminierten Personen, oder 3. von privaten oder geschäftlichen Partnern, denen wir nur vertrauen können, wenn sie uns alles von sich preisgeben, und 4. womöglich auf Daten von mir selbst, von meiner Familiengeschichte, meinen Personalakten, meinen Sünden, meinem in den Registern einer Samendatenbank vergrabenen Vater oder vielleicht sogar aus meinem Unbewussten. Diese Vierergruppe lässt sich auf zwei Felder reduzieren, wo der Wissenswunsch aktiv ist: Einzelsubjekte und Institutionen.

Uns interessiert hier aber nicht in erster Linie das große, inzwischen auch unübersehbare politische und strategische Spiel mit der Transparenz. Denn wir wissen, dass es auch gut wirkende Transparenzmasken gibt. »Ich sage dir alles über mich, ich gebe alle notwendigen Informationen, wir werden radikal aufklären, alles kommt ans Licht!« Die Wahrheit spricht viele Sprachen, der Betrug hingegen alle. Wir legen zunächst die historischen Wurzeln des Transparenztraumes frei, der sich jetzt so prominent und allgegenwärtig aufspielt. Dieser Traum ist alt, aber zur politischen Größe wuchs er erst in der Moderne heran. Für einen historischen Augenblick, zwischen 1910 und 1930, liefen im Verlangen nach Transparenz alle revolutionären Wünsche zusammen. Unsere Großväter wollten die Seelenhaftigkeit der alten Häuser entrümpeln, Kristalllandschaften errichten und die Leute unter Licht und Glas in Neue Menschen verwandeln. Da legte das Wort Transparenz einmal seine metaphorischen Masken ab. Vermutlich ist noch heute der Transparenztraum unser Unbewusstes. Es lohnt sich, diesen Traum in seinen verschiedenen literarischen, medizinischen, politischen, medialen und architektonischen Spielarten kennenzulernen und dann im Einzelnen zu begreifen, was heute mit ihm geschieht. Um es in einem falschen Bild zu sagen: Der Transparenztraum ist nicht mehr Herr in seinem Hause, im Traumhaus der Durchsichtigkeit und Verständigung. Bis auf wenige kurze Augenblicke in der Geschichte, während der Französischen Revolution zwischen 1792 und 1794 und nach der Russischen Revolution 1917 begnügte sich der Transparenztraum mit einem virtuellen Leben in Büchern, Köpfen, Utopien, Plänen, Bildern, Programmen. Er war mächtig, aber nicht an der Macht. Heute beherrschen ihn Politik, Wissenschaft und Technik. Diese großen Maschinerien haben den Traum enteignet. Wie konnte es dazu kommen?

Momos und seine Freunde

Der Mensch ist eine Black Box, aber seit frühester Zeit hadern Priester, Richter, Philosophen, Künstler und Politiker der westlichen Welt mit dieser Unzugänglichkeit von Herzen, Seelen oder Gehirnen. Nur zu gerne würden sie das Geheimnis ausrotten! Auf den Namen animal rationale ist für sie der Mensch falsch getauft, in Wahrheit müsste er animal secretum heißen. Denn gegen den Willen dieses Geheimnistiers lassen sich Gedanken, Träume, Pläne, Wünsche von keinem Auge oder Ohr erfragen. Alle Worte, die man ihm entlockt, alle Geständnisse, die man ihm entreißt, alles Licht, das man ins Dunkel seines Gedankenlebens wirft, die Mitschrift seiner Beichten, die Röntgenfotos seiner Seele, die Graphien seiner Hirnströme, die Kernspinbilder seiner neuronalen Stoffwechsel lassen ihm ein letztes Stillschweigen, worin er sich einschließt: Denken und Fühlen, Sinnen und Trachten, Wahrheit und Lüge bleiben sein undurchdringliches Arcanum.

Die Kritik am Bauplan des Menschen, sei er nun aus prometheischem Lehm oder aus Gottes Odem gefertigt, ist die Begleitmusik zur Geschichte des Westens. In einer von dem griechisch schreibenden Dichter Babrius überlieferten Fabel des Aesop ergreift der Nörgler Momos das Wort. Momos zählt zu den ältesten Göttern des griechischen Mythos, und seinen Namen nennt bereits Hesiods Theogonie, das Epos über die Geburt der Götter und die Gründung der Welt. Momos ist nach Hesiods Erzählung, die um 700 vor unserer Zeitrechnung entstand, ein Abkömmling der Nacht wie der Tod, der Schlaf und der Traum. Als Kind des Dunkels spezialisiert sich Momos auf den Tadel, und er erntet als Gott, der an allem etwas auszusetzen hat, einen zweifelhaften Ruf. Wie Babrius im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erzählt, wird Momos in einem Exzellenz-Wettbewerb zwischen Zeus, Athene und Poseidon zum Schiedsrichter aufgerufen. Es ist ein Erfinder-Wettstreit, denn es geht darum, etwas Besonderes zu schaffen: Zeus hat einen Menschen gebaut, Poseidon einen Stier und Athene bewirbt sich mit einem Haus um den Preis. Doch im Exzellenz-Wettbewerb der Götter fallen alle Vorschläge durch: Vor allem an dem Menschen aus der Werkstatt des Zeus hat Momos zu bemängeln, dass er kein Fenster (θυρωτimage) in der Brust trage, durch das sich jedermanns Auge Zutritt verschaffen könne, um dort die Gedanken und üblen Absichten des Nachbarn abzulesen.13 Während Babrius in der Moral seiner Fabel noch den Rat erteilt, man solle keine neidischen Leute zu Kunstrichtern ernennen, erzählen spätere Autoren vom Urteil des Momos im Zeichen des Black-Box-Problems. Die Geschichte war überaus beliebt. Der Dichter syrischer Herkunft, Lukian (ca. 120 - nach 180), erzählt sie um 160 erneut in seinem satirischen Dialog Hermotimos: Dort hat nicht Zeus, der Chef im antiken Olymp, sondern der technische Meistergott Vulkan den Bauplan der Menschen entworfen, und auch er wird mit einem Verriss davongeschickt. Ein etwas jüngerer Autor der antiken Welt, Athenaios von Naukratis, legt in den Dipnosophistae (um 200), einem langen literarischen Gastmahlgeplauder, dem kleinen Momos die moralisierende Erklärung in den Mund: Möge es doch dem Himmel gefallen, eine Öffnung in die Menschenbrust einzubauen, so dass man jederzeit an der Seele ablesen könnte, was dies für ein Mensch sei!14

Die Konstruktionskritik des seiner Tadelsucht halber aus dem Olymp verstoßenen Momos wird im Gang der Jahrhunderte immer wieder laut. Zwischendurch blitzt die Vorstellung auf, dass Ärzte oder andere Tiefblickende tatsächlich in die verschlossenen Innenräume der Leute schauen könnten. Wie eben kurz erwähnt, geistert durch medizinische Traktate der Frühen Neuzeit eine unglückliche Patientenschaft von Melancholikern, die unter der Vorstellung leiden, aus Glas zu sein oder ein Fenster in der Brust zu tragen, das den Blick in intime Geheimnisse erlaube. Sie antworten mit ihrem Wahn auf die Klage, die der Erzähler in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy zu Protokoll gibt, die Menschenseele stecke in einer »dunklen Hülle aus unkristallisiertem Fleisch und Blut«.15

So hat es nicht an technischen Versuchen gefehlt, das Dilemma der opaken Seelenräume zu beheben und das »uncrystalized flesh« doch noch durchsichtig zu machen. Momos hat tausend Freunde und Helfer. Ihre Bemühungen spielen in philosophischen, literarischen Träumen ebenso wie in klinischen Wahnvorstellungen oder technischen Einrichtungen. In einem phantastischen Roman aus dem Jahr 1897 mit dem Titel Das Jahr 3000 des italienischen Mediziners, Drogenforschers und Autors Paolo Mantegazza reist ein junges Paar durch eine zukünftige Welt, um an einer Tagung der wissenschaftlichen Weltakademie teilzunehmen. Die ganze Erde, die sie zu Beginn des vierten Jahrtausends bereisen, liegt in den Händen einer weisen Weltregierung, die für universalen Frieden sorgt. Überall scheinen die Dinge gut zu laufen, die Globalisierung des Paradieses steht vor dem Abschluss: Nordafrika hat seine Wüsten bewässert und trinkt Wohlstand aus einem wogenden Meer, die Leute durcheilen die Kontinente in elektrisch angetriebenen Flugmaschinen, und nur wenige Erinnerungen an ferne Kriegsschrecken des beginnenden 20. Jahrhunderts trüben die gute Stimmung. Der ernüchterte Leser von heute könnte Mantegezzas Zukunftsroman beiseitelegen, würde nicht am Ende der Erzählung, auf der Tagung der Weltakademie, eine sensationelle Erfindung prämiert: Es ist ein Psychoskop, ein Gerät, das wie ein kleines Opernglas gebaut ist. Dem so verstärkten Auge erlaubt das Psychoskop, in den Kopf eines jeden Menschen hineinzuschauen und dort Gefühle und Gedanken auszulesen. Der Präsident der Akademie frohlockt über die guten Aussichten, die die mit technischen Mitteln in die Menschenköpfe geschnittenen Fenster verheißen:

»Wenn wir alle wissen werden, dass jeder in unserm Gehirn lesen kann, werden wir bestrebt sein, dass unsere Handlungen und Gedanken einander nicht widersprechen, und unser Denken wird dieselbe gute Richtung nehmen, wie wir sie für unsere Handlungen suchen. Es ist zu hoffen, dass durch das Psychoskop die Lüge von der Erde verbannt oder wenigstens eine seltene Erscheinung wird (…).«16

Das Psychoskop des Jahres 3000, so erklärt der Präsident, verwirklicht in Gestalt einer optischen Maschine den »Traum aller Zeiten«. Das ist der Transparenztraum, der nicht von dem Gedanken lassen kann, menschliches Denken und Trachten für die Beobachtung und für das Auge der anderen durchsichtig zu machen. Dieser Traum wurde von hundert Generationen geträumt, aber heute steht das Glückswort Transparenz wie der Stern von Bethlehem an unserem Himmel und verheißt tausend Jahre vor Mantegazzas Psychoskop bereits Wahrheit und Freiheit. Es ist nicht zu übersehen, dass dieser Traum in den Köpfen von Theoretikern, Politikern, Künstlern und vor allem von Wissenschaftlern auch Verwirrung hervorgerufen hat. In ihren Black Boxes hat sich der Traum nicht selten in theoretischen und praktischen Terrorismus verwandelt. Von der Gewalt dieses Traums zeugen nicht nur die Melancholiker der 17. Jahrhunderts, sondern auch manche Sozialutopisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Momos’ Freunde sitzen auch an den Reißbrettern der Architekten, aber schlimmer noch: Manche von ihnen ziehen Ärzte-Kittel an und geben sich das Ansehen von Menschenfreunden. Literatur und Kino sahen schon diesen Schrecken voraus. In dem Film Futureworld von 197617 erlebt der Zuschauer mit den beiden Journalisten Chuck Browning und Tracy Ballard einen Freizeitpark, hinter dessen Kulissen Dubletten von Journalisten und Politikern hergestellt werden. Dafür wird nicht nur ihr genetischer Code kopiert und geklont, sondern hochsensible Geräte lesen auch ihr Hirn aus. Der Zuschauer wohnt mit Chuck einer Demonstration bei, wie die Träume seiner schlafenden Freundin in elektrische Impulse übertragen und anschließend auf einem Bildschirm dargestellt werden. Das Kino liefert den Zuschaueraugen den Transparenztraum als Traumtransparenz. Was 1976 noch als mantegazzaartige Technophantasie über die Leinwand ging, steht heute in den Forschungsprogrammen mancher Neurophysiologen, die die Welt damit ködern, dass wir dank ihrer Technik eines Tages mit Schwerstgelähmten, denen auch die Sprache erstarrt ist, werden kommunizieren können oder, Brave New World, dass wir endlich in das Gehirn der Verbrecher schauen werden und dort die Buchstaben von Mord, Raub, Vergewaltigung und Terror aus lesen können. Die amerikanische Firma No Lie MRI stellt eine solche Technologie zur Verfügung und verspricht, dass mit Hilfe der fMRI dem »Gehirn beim Lügen zugeschaut« werden könnte.18 Die Konkurrenzfirma Cephos verspricht, dass ein diskreter vertraulicher MRI-Test von einer Stunde die »neuronalen Entsprechungen der Lüge aufdeckt.«19

Die Priester, Politiker oder Techniker, die dem Transparenztraum mit ihrem Segen, ihrer Macht oder ihren Maschinen zum Einsatz verhelfen, maskieren sich gerne mit dem Willen zum Guten. Momos oder Mantegazzas Akademiepräsident oder die Firmen Cephos und No Lie MRI stellen das Heil der Menschheit in Aussicht, wenn den Leuten erst einmal ein paar Fensterchen in die Schädeldecken geschlagen worden sind. Georg Büchner hat dem Titelhelden seines Revolutionsdramas Dantons Tod die skeptischen Worte in den Mund gelegt: »Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.«20 Angesichts dieser Unmöglichkeit hatten die Männer um Robespierre während der Französischen Revolution den Terror der Denunziation entfesselt und den verdächtigen Leuten im Namen der Tugendrepublik ihre Black Boxes von der Guillotine abschlagen lassen. Das Transparenzverlangen der Revolutionäre entwickelte sich in eine geradezu eschatologische Verheißung. In seiner Rede vom 19. März 1794 prophezeite der historische Danton den Tag, an dem »alle Masken fallen werden.«21 Dieser Tag würde der Jüngste Tag sein. Erst bei Dämmerung der Welt geben alle ihre falsche Person ab, am Jüngsten Tag erst treten sich die Menschen so maskenlos und durchsichtig gegenüber, wie es bereits ihr genialer Vorträumer Rousseau angekündigt hatte.22 Dazu kam es zunächst nicht. Doch das Fiasko der Französischen Revolution nahm dem Traum nichts von seiner Anziehungskraft. Die Sozialutopisten des 19. Jahrhunderts, Richard Owen und vor allem Charles Fourier, versuchten die Idee einer sich in vollständige Durchsichtigkeit auflösenden Gesellschaft auch praktisch umzusetzen. Im 20. Jahrhundert füllen sich ganze Bibliotheken mit Vorschlägen von Dichtern, Ärzten, Soziologen, Politikern, wie ein neuer durchsichtiger Menschentyp politisch und gesellschaftlich hervorgebracht werden könnte. Bald traten den Designern des Neuen Menschen die Architekten zur Seite und entwarfen neue Wohn- und Lebenswelten, um den Neuen Menschen aus gläsernen Häusern hervorgehen zu lassen. Mit dem Scheitern all dieser Bemühungen trat der Traum für einige Zeit den Rückzug an, um in unseren Tagen die Bücher hinter sich zu lassen und in den Händen von Ärzten, Psychologen, Netzideologen und Geheimdiensten in neuer Gestalt zurückzukehren.

Der Albtraum und das Unmögliche?

Wir befassen uns hier mit der historischen Frage: Woher kommt dieser Traum, dieser alte, in der Moderne offenbar immer nachdrücklicher ausgesprochene, seit hundert Jahren immer wieder von der Politik aufgegriffene und zeitweilig gewalttätig in staatliche oder auch neuerdings in technische Power übertragene Wunsch nach perfekter Sichtbarkeit und Wissbarkeit alles dessen, was diesseits und jenseits der eigenen Intimsphäre kommuniziert wird? Lässt sich die Geschichte dieses Transparenzverlangens selbst transparent machen? Die Frage nach der Herkunft des Transparenztraums führt in die Geschichte der Philosophie, der Politik, der Architektur, der Literatur, der Technik. Vor allem aber ist die Insistenz, die Hartnäckigkeit des Traums auffällig. Damit ist er auch lehrreich und erzählt etwas über die langfristig in unserer Kultur wirksamen Kräfte. Neben den anderen in der Geschichte des Westens effektiven Ideen, der Freiheit, Aufklärung, Rationalisierung, der Gerechtigkeit, der Entlastung, neben diesen ungeheuer machtvollen und erfolgreichen Impulsen wirken auch solche Dauerträume und Wunschhartnäckigkeiten im intellektuellen, politischen Imaginären mit und fort. Wie sonst erklären sich solche Wunderlichkeiten, dass ernstzunehmende Intellektuelle oder gar ein König zeitweise glaubten, aus Glas zu sein? Oder dass Anfang 1900 die Architekturavantgarde das Heil der Welt darin sah, Häuser oder gar ganze Städte aus Glas zu errichten? Oder dass ein genialer Politiker wie Leo Trotzki prophezeite, dass demnächst die Übermenschen der Sowjetunion ihr eigenes Unbewusstes unter die Kontrolle der Partei und ihres Willens bringen würden? Oder dass Neurowissenschaftler heute ankündigen, bald dem Geist beim Denken zuzuschauen?

Der Transparenztraum ist in seinem ursprünglichen Impuls der Wunsch nach trugloser, täuschungsfreier Kommunikation. Insofern ist er ein Sprachtraum: die Wörter strikt an die Dinge zu binden, die sie bezeichnen, oder die Wörter durchsichtig zu machen oder das Sprechen durchsichtig zu machen oder eben den Sprechenden durchsichtig zu machen. Die Leidensseite des Traums ist der Hader mit der Sprache, mit der in der Sprache nistenden Möglichkeit der Lüge. Rousseau, der Sprachreformer und Sprachtheoretiker, wollte das Unglück beseitigen, indem er das Sprechen reduzierte: Kinder nur wenige Worte lehrte, oder den Frauen riet, nicht den Reden ihrer Liebhaber zu glauben, sondern dem gestischen Ausdruck ihrer Leidenschaften. Damit ging das Spiel auf die andere Seite über: auf die Seite der Macht und der Institutionen Schule, Kirche, Wissenschaft, Staat. Sie sollten für die Wahrheit sorgen. Aber längst wissen wir, und wir werden täglich mehr davon überzeugt, dass diese Institutionen im großen Lügenspiel mitmachen. Also müssen wir sie offenbar dazu zwingen, ihr Spiel offenzulegen und dem Geheimnis, der Heimat des Betrugs, abzuschwören. Wenn es also um die Überwindung der Lüge geht: Ist nicht dann das Transparenzverlangen gerecht? Muss man ihm nicht Geltung verschaffen? Ist nicht die Wahrheit unser höchstes, unser allerhöchstes Gut? Ohne Zweifel, aber es ist unmöglich.

Noch vor wenigen Jahren verlangte Jean-Paul Sartre nachdrücklich, dass »Transparenz allenthalben an die Stelle des Geheimnisses treten« müsse, und in einer an den historischen Danton erinnernden Sentenz über die eschatologische Botschaft dieser Traums kündigte er an: »(…) ich habe recht klar vor Augen, wie eines Tages zwei Menschen keinerlei Geheimnis mehr voreinander haben werden, weil sie vor niemandem mehr eines haben werden, weil sowohl das subjektive als auch das objektive Leben in völliger Offenheit gegeben sein werden.«23 Ist das nicht schön? Ist das nicht der heilige Traum der Liebenden? Gewiss. Und ein Jean-Paul Sartre des digitalelektronischen Zeitalters könnte sagen: »Ich habe ganz klar vor Augen, wie es eines Tages für Geheimdienste und Staaten und geniale Hacker kein Geheimnis im elektronischen Datenverkehr mehr geben wird, weil sich das private und öffentliche Leben in völliger Offenheit zeigen wird.«

Da sei der Himmel vor! Aber man sieht: Auch Träume haben ihre Schicksale. Denn bis in die Moderne hinein blieb der Transparenztraum das Produkt imaginärer Tätigkeiten einzelner Subjekte. Und auch wenn sich zeitweise viele für die Idee begeistern konnten, dass ein Segen auf alle herniedergeht, wenn sie ihre Brust aufreißen und die ganze, vollständige Wahrheit ihres Herzens zu lesen geben; und auch wenn ganze Heerscharen sich auf den Weg machten, um Charles Fouriers Utopie einer transparenten Gesellschaft zu verwirklichen: Es blieb Sache Einzelner, der Traum gehörte den Köpfen (heute müssen wir sagen: den Gehirnen), die ihn hervorbrachten, hegten und verbreiteten.

Im 19. Jahrhundert aber erlebte dieser Traum die erste Wende. Er geriet in die Hände von Unternehmern, Technikern, Politikern. Der Transparenztraum wurde enteignet. Sein Weg durch die Moderne ist nicht nur eine Schicksalsgeschichte, sondern auch eine Mediengeschichte. Denn seit die Technik Sehmaschinen und Spionageapparate baut, wurden sie auch in den Dienst des Traums gestellt: Das Teleskop, die Fotografie, der Röntgenapparat, das Glashaus, das Panoptikon, der Enzephalograph oder auch der fMRT. Und wo es keine Maschinen gab, dort wurden sie von Dichtern erfunden wie Mantegazzas Psychoskop oder Kurd Laßwitz’ Kraniophan, Antonin Artauds Nervenwaage oder Karin Boyes Wahrheitsdroge Kallocain. Aber in der Verwaltung der Jakobiner, der KPdSU, der Geheimdienste, der Architekten, der Neurowissenschaftler oder der selbsternannten WikiLeaks-Menschheitsretter bildet der Transparenztraum den Anfang eines Albtraums.

Der Albtraum ist darum so unheimlich, weil er dem Unmöglichen Kredit gibt. Das Unmögliche ist das Verlangen, das Reale selbst zu haben. Das Transparenzverlangen und sein zeitgenössisches technisches Equipment haben die gleiche epistemische Struktur wie die riesigen Protonenbeschleuniger, mit deren Hilfe wir dem Geheimnis der Materie auf die Spur kommen wollen. Woraus besteht die Welt? Du wirst es niemals wissen, mein lieber Forscher! Wir werden das Reale nie haben, sondern wir müssen es uns immer in Symbolen, Bildern, Tabellen, Zahlen, Daten, Charts aneignen. Das ist der Fluch des Auszugs aus der Natur. Es gibt keinen Weg zurück ins Paradies der Unmittelbarkeit. Wenn die Hirnforscher behaupten, das Denken, Fühlen, Wissen unmittelbar auslesen zu können, indem sie die Bewegungen von Atomen in Nervenzellen in Bilder umrechnen, dann kündigen sie das Unmögliche an; wenn WikiLeaks-Gründer Julian Assange sagt, dass unsere Gesellschaften »mit dem Internet verschmolzen sind«24, dann behauptet er das Unmögliche. Die Verwechslung von Realem und Symbolischem, von Natur und Kultur, ist Ideologie.

Das Reale ist die Grenze. Das gilt für den Philosophen, den Hirnforscher, die Weltmächte. Wenn wir die Weltlage so beschreiben, dass mächtige Akteure wie Google oder Facebook oder die Geheimdienste mit unablässig gesteigerter technischer Power tendenziell den gesamten elektronischen Weltverkehr auslesen und auf der anderen Seite edle Ritter der Transparenz wie Julian Assange, der WikiLeaks-Informant Bradley Manning oder der ehemalige NSA-Angestellte Edward Snowden und andere noch Namenlose, manche Geheimnisse der Militärs und der Security Agencies ans Licht bringen, dann ist das nur ein Schlaglicht. Im Zeitalter der globalen Kommunikation ist jedes Geheimnis in Gefahr, Geheimnis der Regierungen, Geheimnis der Banken, Geheimnis des Forschers, Geheimnis der Privatpersonen, Geheimnis der Geheimdienste. Aber die Menge oder Masse der geheimen Dinge vermehrt sich zugleich in unvorstellbarem Ausmaß. Niemand gelangt an sein Ziel der perfekten Durchsicht, alle sind dem Zufall des Wissens ausgeliefert. Der Zufall kann dafür sorgen, dass die Algorithmen, nach denen die Verdächtigen aus dem elektronischen Weltverkehr ausgescannt werden, eben meine Daten erfassen und dass ich ein paar Stunden lang verhört werde. Es kann auch der Zufall wollen, dass im Herzen eines allwissenden Geheimdienstes ein Mitarbeiter, von Gewissensskrupeln geplagt, die längst vermutete Wahrheit über seinen Dienst ausplaudert und anzeigt, dass auch eine Weltmacht, wie Kafka sagen würde, ein »menschliches Schwänzlein« hat. Es sind Maschinen in den Händen von Leuten, die es gut meinen, die den Transparenztraum enteignet haben. Es lohnt die Mühe zu fragen, warum das Wort »Transparenz«, das über Jahrhunderte hinweg einem Traum den Namen gab, heute ein Star geworden ist: ein Programm leerer Versprechen oder vielmehr des Unmöglichen.

Zweites Kapitel:

Der Transparenzträumer René Descartes

Büchersturm

Wann und wo beginnt die Geschichte des Transparenztraums? Die Anekdoten vom kleinen Gott Momos, der sich Menschen mit Fenstern in der Brust wünschte, weisen in die Literatur der Antike. Sie überliefert aber nur satirische Vorspiele. Dramatisch und folgenreich setzt diese Geschichte des Wünschens und Träumens am Wendepunkt zur neuen Philosophie ein: Auch dann, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, erinnert man sich noch lebhaft des kleinen Gottes. Zwei bedeutende Manifeste leiten diesen Umschwung in der Philosophie ein: Francis Bacons The Advancement of Learning (1605) sowie René Descartes’ Discours de la Méthode (1637). Bacon erwähnt in seinem Programm zur methodischen Neubegründung des Wissens ausdrücklich das Fenster des Momos: »Die Richtschnur, von der ich denke, dass sie, auf eine Formel gebracht, zur Verallgemeinerung des Glückes beitragen könnte, ist das Fenster zu beschaffen, das Momus forderte.«1 Einen viel radikaleren Schwenk vollzog René Descartes, ein Mann, über den wiederum sein Kritiker Johann Kater sagte, dass selbst der Übelredner Momos an ihm nichts auszusetzen gehabt hätte.2 In der Nacht vom 10. zum 11. November 1619 hat René Descartes tatsächlich einen Transparenztraum geträumt. Es war ein Wunschtraum in drei Episoden. Und in der Folge setzte der Träumer alle Kräfte daran, den Transparenzwunsch in neue Denkfiguren und methodische Vernunftoperationen zu übersetzen: Die Dichte der Gegenstandswelt und das Dunkel der Menschenseele wollte Descartes durchleuchten. Das theoretische Projekt, Dinge und Denken durchsichtig werden zu lassen, nutzt das metaphorische Potenzial des Wortes »Transparenz«. Der Traum hingegen spielt mit der eigentlichen Bedeutung des Wortes: Im Traum durchdringt das Sehen die Mauern der Dinge und des Dunkels.

Aber um diesen Neubeginn des Denkens einzuleiten, mussten zuvor die Bücherberge und Buchstabenhaufen von beinahe zwei Jahrtausenden ehrfürchtig-monotoner Aristoteles-Auslegung beiseitegeräumt werden. Descartes bezeichnete diese machtvolle Tradition der Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Averroës, Duns Scotus, Roger Bacon, immer als École, es war die Denkschule schlechthin. Diese philosophische Schulbibliothek, die er mit wachsendem Widerwillen ausgelesen hatte, wollte er endlich schließen. Dafür übrigens rächte sich der Denkschulmeister Aristoteles, als der einmal von der Literatur ins Leben zurückgeholt wurde: In Jonathan Swifts 1704 erschienener berühmter Bücherschlacht zwischen den alten und modernen Autoren trifft Aristoteles Descartes mit einem tödlichen Pfeilschuss ins Auge.3 Das Ziel war nicht beliebig. Pointiert könnte man sagen, dass Descartes seine Denkrevolution überhaupt mit dem metaphorischen Organ des Auges und der bildlichen Sinnesleistung des Sehens vollbrachte. Es war eine Seh-Revolution. Ehe er dem Auge des Denkens neue Fenster öffnete, wollte er das allgewaltige scholastische Denkgebäude in Trümmer legen. Nicht Schicht für Schicht abtragen, sondern die Fundamente einreißen, denn der »Zusammenbruch der Grundfesten lässt auch den Rest des gesamten Gebäudes in sich zusammenstürzen.«4 An anderer Stelle heißt es über das Abrissunternehmen: »niederreißen und ein anderes an seiner Stelle bauen«.5 Aber woher nimmt ein junger Mann eine solche biblioklastische Kühnheit? Kräfte dieser Art zieht man nicht aus Büchern, sondern aus Leiden und Leidenschaft. Descartes musste es wissen. Als er um 1645 / 46 seine Abhandlung über die Passionen der Seele verfasste, schrieb er auch ein kleines Kapitel über die Dynamik von Mut und Kühnheit. Sie setzen sich zusammen aus »Hitze oder Bewegtheit, die die Seele dazu bringen, sich mit aller Macht an die Ausführung von Dingen zu begeben, die sie selbst gerne tun möchte.«6 Passionen machen Träume wahr.

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Bücherschlacht: Illustration zu Jonathan Swifts Bericht über die Schlacht zwischen Alten und Neuen Büchern (1704).

So erzählt die Philosophiegeschichte vom Wendepunkt im Leben und Forschen des jungen Descartes. Sie berichtet, wie er das abendländische Denken revolutionierte, indem er alle von der Tradition verwaltete Erkenntnis, die gesamten Bestände der Wissenschaften sowie alles, was so einfach in die Augen und die übrigen Sinne fällt, mit Skepsis und Zweifeln überzog. Diesen epochalen Neubeginn begleitet ein Traum, der dem jungen Denker anzeigte, dass die kühne Revision der Wissenschaft, über die er seit Jahren nachdachte, tatsächlich gelingen könnte. Descartes hat die Bildsequenzen, die Affekte und Gedanken dieser Traumnacht festgehalten und ausführlich in ein gebundenes »Register« geschrieben. Dieses Notizbuch, das noch weitere Aufzeichnungen, Beobachtungen und mathematische Überlegungen enthielt, ist heute verloren. Nur Gottfried Wilhelm Leibniz konnte davon noch einige Exzerpte anfertigen, aber die Träume hielt er nicht seiner Tinte für wert. Längst wären auch die Nachschriften von Leibniz verschwunden, hätte sie nicht der Graf Foucher de Careil knapp 200 Jahre nach dem Tod des Philosophen in der Bibliothek Hannover unter den Papieren von Leibniz gefunden und unter dem Titel Cartesii Cogitationes Privatae 1859 veröffentlicht.7 Allein die Geschichte dieser Descartes-Papiere, die der Graf rekonstruiert hat, taugt zu einem Roman, denn die Kiste mit dem Nachlass des Philosophen hat nach einem Schiffsunfall eine Zeitlang auf dem Grund der Seine gelegen.8 Der 10. November war der Tag, da »ich von Enthusiasmus erfüllt war und die Grundlagen einer erstaunlichen Wissenschaft entdeckte«. Hier liegt also eine Spur, die anzeigt, aus welchen traumartigen Kräften die Revision der Philosophie gespeist wurde.