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© Querverlag GmbH, Berlin 2009

Erste Auflage September 2009

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von gettyimages.

ISBN 978-3-89656-609-6

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Für Detlev Meyer

Römische Wölfe

Christoph Klimke

Wie heiß es ist! Ich sitze auf der Piazza Santa Maria in Trastevere in der Bar Marzio und nehme meinen morgendlichen Espresso. Die Sonne steht an diesem Augusttag schon so hoch, dass die Schatten bis zum Mittag immer kürzer werden, bis man beim Gang durch die leere Stadt schließlich gar keinen Schatten mehr wirft. Das muss der Tod sein und nicht die nordische Nacht. Doch ich sitze genüsslich an meinem Stammplatz unter dem großen Sonnenschirm und sehe den Hunden zu, wie sie um den Brunnen auf der Piazza herumtollen. Die Römer sind längst am Meer oder in den kühleren Bergen und machen Ferien. Die meisten Geschäfte, Bars und Restaurants sind geschlossen, nur die ewigen Verdächtigen treffen sich Morgen für Morgen und ver­stecken sich hinter den Gazetten.

Unsereins hat keine Lust auf Liegestuhl oder Wandern, sondern genießt Rom, wie es das ganze Jahr nicht sein kann. Nachts kann man mitten auf dem Pflaster der ansonsten zugestopften Straßen am Lungotevere spazieren, die Platanen und den hellen Mond bewundern, die Kulissen dieser Stadt, als wären sie nur für dich errichtet. Mein Kellner fragt, ob es ein cornetto sein darf, doch der späte Fisch von gestern Nacht wiegt noch zu schwer, ich winke ab und nicke ankommenden und gehenden Stammgästen zu, die ihre Augenringe hinter großen Sonnenbrillen zu verbergen wissen.

Die Lektüre der Repubblica erweist sich heute als noch öder als gewöhnlich, die Politik ist in Ferien, Feuerquallenplage an den Stränden, Raubmord in Catania, Radsport fand ich schon immer entsetzlich langweilig und der Papst sitzt bei frischem Weißwein und jungem Gefolge in seinem Sommersitz und betet für das Wohl der Welt. Ich winke die Rechnung herbei, da kommen zwei schwitzende Gestalten zielsicher auf mich zu und setzen sich an den Nachbartisch. Ein Herr jenseits der Blüte seiner Jahre mit einer enormen Fotoausrüstung und einem nervösen Blick, der mich treffen soll, und ein für ihn gewiss zu junger Mann, der demonstrativ an mir vorbeisieht. Das kann ich natürlich nicht verstehen und schaue umso mehr auf meine neuen Nachbarn. „Kannst du ein Bild von uns beiden machen“, fragt dann auch sogleich der französische Fotograf mit einem unanständigen Lächeln und ich willige spröde ein. Durch die Linse sehen die zwei wirklich nicht aus wie ein Paar und meine Laune steigt. „Setz dich doch zu uns“, lädt mich der Schöne ein und tatsächlich, ich sage: „Ja.“ Der eine ist Fotograf in Paris – wen interessiert das eigentlich? –, der andere Maler, in Neapel geboren und seit Jahren selbstverständlich im Montmartre ansässig. Mit Luciano – wie hieß noch der andere? – rede ich italienisch und erzähle von meinem Leben zwischen Trastevere und Kreuzberg. Espresso um Espresso vergeht die Zeit, die Mittagsluft flirrt und die Hunde haben sich auf die kleinen Schatteninseln verkrochen.

Ich lade die beiden zum Pranzo ein und bei Spaghetti alle Vongole erfahre ich, dass das ungleiche Paar am Abend zurückfliegt Richtung Parigi. Wir tauschen Adressen und ich versichere, in einer Woche komme ich zu Besuch. Luciano lädt mich in sein Atelier ein und schlafen darf ich bei ihm auch. Ciao!

Diese eine Woche wird zu einer Ewigkeit. Ich rufe jeden Tag in Frankreich an und habe das Ticket sicher in der Tasche. Meinen Freunden in Rom und Berlin versichere ich, ich ziehe nach Paris, die Wohnungen sind aufzulösen, aber das nach meiner Ankunft bei Luciano. Was sollte er dagegen haben? Zu eindeutig zu verstehen war diese Geheimsprache zwischen uns und somit ändert sich mein Leben vollkommen. Wie es sich schon oft verändert hat.

Luciano holt mich am Flughafen Charles de Gaulle ab. Wir fahren schweigsam in die Stadt und ich muss an Robin denken. Robin aus Südafrika hatte ich im Flughafenrestaurant von Paris kennengelernt. Es war am frühen Vormittag und ich musste auf einen Anschlussflug warten. Das Restaurant mit sicher hundert Tischen war noch leer und ich saß allein und las. Da steht er plötzlich neben mir und fragt, ob noch ein Platz frei ist. Natürlich! Robin, früher Tänzer, jetzt Künstler in Amsterdam, und, wie ich nach dem Ende der Apartheid erfuhr, in den Theaterferien Ausbilder an Waffen bei den Partisanen.

Doch wir nähern uns jetzt Montmartre und Robin war und nun ist Luciano, dessen Kassettenrekorder mich mit der „Matthäus­passion“ anrührt. Größer kann ein Willkommen nicht sein. Erst ins Atelier und ich bestaune seine Bilder, Collagen aus Farben und Text und jenen geheimen Zeichen, die ich auch zwischen uns auszumachen wusste. Dann Wein und ein leichtes Lamm und ab in seine Wohnung, die nur aus einem Zimmer mit dem einladenden Bett besteht. Er lächelt mich an und wir steigen ein in unser Boot. Wohin nun? Von draußen der leise Lärm der Flaneure, die Lichter der Autos flackern an der Zimmerdecke und ich weiß, hier werden wir beide unsere Reise durchs Leben bestreiten. Ich schließe die Augen und warte auf ihn. Da flüstert er mir schon ins Ohr: „Bist du auch so unglücklich?“ Wie könnte ich? Größer war mein Glück selten! „Ich bin verliebt!“, gesteht Luciano und ich weiß ja, in wen. „Ich auch“, antworte ich. „Mein Zahnarzt hat aber einen anderen. Und ich liebe ihn doch so sehr!“ Ich versinke endgültig in sämtlichen Kissen, mein Kopf glüht, mein Herz überschlägt sich und ich weiß nicht, wie ich mich von dieser sinkenden Arche wegbeamen kann.

Luciano bei seinem Glück zu helfen, war mir somit nicht vergönnt und meinen Umzug nach Paris sagte ich dann auch ab. Doch wieder in Rom zurück wusste ich, an gewissen Plätzen warten schon wieder die Wölfe. So treffen sich Verliebte unter dem Balkon von Mussolini an der Piazza Venezia oder zu Füßen des Heiligen Franziskus nahe der gewaltigen Kathedrale von San Giovanni in Laterano, auf deren Dach die riesigen Statuen gewichtiger Kirchenmänner neidisch auf unser irdisches Glück schauen.

Eines Abends nach dem Cena warte ich also sotto i piedi di San Francesco auf meinen Freund. Ich sehe, wie all die Mädchen und Jungen sich hier finden und auf ihren Vespas im Nirgendwo dieser Stadt verschwinden. Plötzlich setzt sich jemand neben mich, der offensichtlich auch ein appuntamento hat, wir blicken uns an und schon sind wir auf und davon. Ob die beiden zu erwartenden Ankömmlinge sich ebenso schnell einig sein werden, ist uns egal.

Mit Giorgio also, einem wunderbaren Möchtegernjourna­listen, reise ich durch die nächsten römischen Nächte, aber auch in seine Heimat Kalabrien und im Sommer darauf nach Sizilien. Auf dem Nachtschiff von Neapel nach Palermo erzählt er mir von seinem Freund Ninni, bei dem wir wohnen werden. Ninni verdankt sein Leben dem Tod seines Bruders. Ninnis Bruder geht an seinem achtzehnten Geburtstag von der Schule nach Hause. Er hat das Abitur in der Tasche, ein fröhlicher, junger Mann, der voller Pläne und verliebt in eine schöne Sardin ist. Doch er ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Eine Autobombe explodiert und Ninnis Bruder ist auf der Stelle tot. Seine Mutter verkraftet dieses Unglück nicht und nur ein Kind, ein Sohn, meinen die Ärzte, könne ihr Leid lindern. Und Ninni wurde geboren.

Gianpiero aus Messina, nun Schauspielschüler in Rom, lerne ich am Monte Caprino kennen, wo Nacht für Nacht die Hungrigen sich auf die Jagd begeben. Zwischen Bäumen, Büschen, Mülleimern und mit dem unglaublichen Blick auf Kapitol und Tiber fühlt man sich hier wie in einem dekadenten Märchen. Zumindest wenn man Beute macht. Giampi entstammt einer großen sizilianischen Familie, der eine der beiden Tageszeitungen dieser Insel zwischen den Welten gehört. Und engagiert sich Ninni heute natürlich in der Anti-Mafia-Bewegung, so gehöre ich dank Giampi zum „club dei siciliani“, in dessen Nieder­lassungen weltweit sich die Mitglieder der Clans treffen.

Giorgio, Giò genannt, ist nach Jahren in Tunesien in seine Heimat Kalabrien zurückgekehrt, Giampi, der mehr und mehr dem fabelhaften Komiker Totò ähnelt, spielt auf den Bühnen Italiens und Luciano, der mir Jahr für Jahr seine neuen Ausstellungskataloge schickt, ist längst berühmt. Drei seiner Bilder, die er für mich gemalt und in die er Texte von mir eingearbeitet hat, hängen mit Widmung in meiner Berliner Wohnung, in der ein langsam, aber sicher ergrauender Wolf sich von den Träumen jener Zeit ernährt. Nachts kann man ihn manchmal noch bis nach Paris, Rom, Palermo oder die anderen Orte jener berüchtigten Safaris heulen hören.

Tristiane

Mario Wirz

Schnee auf allen Büchern. Schnee auf dem frostigen Gesicht des Buchhändlers. Schnee auf den Schuhen der wenigen, die sich an diesem Abend in die Buchhandlung am Marktplatz verirrt haben. Wahrscheinlich schneit es nur draußen vor dem großen Schaufenster der Buchhandlung, aber mir ist, als fiele der Schnee unaufhörlich auf die Kläglichkeit dieser Lesung. Es war wieder einmal ein Nichtereignis, hatte mein Dichterfreund Detlev Meyer früher schwermütig nach schlecht besuchten Veranstaltungen gelästert. Vielleicht wetteifert er jetzt himmlisch mit Stefan George um die Gunst von Rimbaud. Poeten langweilen mich. Sie sind mir nicht sinnlich genug. Ich habe mich ein bisschen mit James Dean befreundet, kichert es mir sachte wie eine Schneeflocke über die Schulter.

Herr Wirz scheint offensichtlich gerade an einen neuen Text zu denken.

Die Stimme des Buchhändlers klirrt vor vergeblicher Freundlichkeit.

„Können Sie von Ihren Büchern leben?“, wiederholt ein junger Mann seine Frage. Ich verzichte auf einen hysterischen Lachanfall und gebe artig Auskunft über die chronische Geldlosigkeit meiner Profession. Lyrik ist meistens ein Verlustgeschäft. Nicht nur für die Verlage, murmelt der Buchhändler und bereut, dass er keinen Bestsellerautor eingeladen hat. Zwei blondierte Damen kaufen aus Mitleid zwei Bücher und lassen sie sich von mir signieren. Ich krakele dankbar meinen Namen und denke an das traurige Hotelzimmer ohne Minibar, das mich gleich erwartet. Auch die Wiederholung der Wiederholung verweigert eine mögliche Gelassenheit. Immer wieder geriert sich der Jammer, als träfe er mich zum ersten Mal.

Warum stiert die dünne Frau mit dem Giraffenhals so aufdringlich in meine Richtung? Der Buchhändler räumt die Stühle weg. Ich starre auf mein Manuskript und das leere Wasserglas und bleibe auf meinem Stuhl sitzen, als wäre ich dort festgefroren.

Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern, aber wir haben als Kinder zusammengespielt. Ich bin die Christiane, sagt die Giraffe und lächelt lieblich auf mich herunter. Sie erscheint mir unglaublich dünn und groß. Als ich in der Zeitung gelesen habe, dass du heute hier lesen wirst, habe ich den Kegelabend abgesagt. Meinen Mann konnte ich leider nicht dazu überreden. Der ist eigentlich mit seinem Kegelclub verheiratet. Die Giraffe seufzt. Auf der Straße hätte ich sie nicht erkannt. Sie die alte Dichterkrähe bestimmt auch nicht. Schnee auf allen Tagen dieses glücklichen Winters.

Ich bin fünf Jahre alt und hocke auf dem Schlitten, den Christiane zieht, die schon seit zwei Jahren zur Schule geht. Nur meine Mama liebe ich ebenso bedingungslos wie Christiane, deren Namen ich nicht richtig aussprechen kann.

Tristiane! Tristiane! Ich stehe am Schultor und warte auf meine große Freundin. Manchmal beachtet sie mich nicht und geht mit ihren Mitschülerinnen an mir vorbei, als kenne sie mich gar nicht. Tristiane! Tristiane! Ich laufe hinter ihr her und kann nicht verhindern, dass ich wie ein Baby losheule. Alle lachen mich aus.

Tristiane! Tristiane!, spotten die anderen Mädchen.

An anderen Tagen küsst und umarmt sie mich und kämmt vor den anderen meine widerspenstigen Haare. Ich spüre, dass sie so tut, als wäre ich ihre Puppe, doch das ist mir egal. Ich bin der glücklichste Puppenjunge auf der ganzen Welt.

Tristiane spielt mit mir. Ich schenke ihr mein halbes Kinderzimmer, den Hasen und den Teddy, ohne den ich nicht schlafen kann, aber ihre Gefühle bleiben launenhaft.

Wenn ihre Freundinnen dabei sind, ist Tristiane anders. Selbst wenn sie mich mit Kosenamen überhäuft und drückt, als wollte sie mir die Rippen brechen, merke ich, dass sie lügt. Ich ver­stehe meine Freundin nicht, aber ein Tag ohne sie ist unerträglich. Die anderen Mädchen finde ich alle doof, und am liebsten wäre ich mit Tristiane alleine, doch das geschieht nur selten. Ohne die blöden Gänse, mit denen sie zur Schule geht, erzählt mir meine Freundin alles, was sie denkt, und behandelt mich, als wären wir gleichaltrig. Ich schlage Purzelbäume auf dem Asphalt und schenke ihr Blumen, die ich heimlich in den Gärten der Nachbarn pflücke. Feierlich überreiche ich ihr die glitzernde Brosche, die ich aus der Schmuckschatulle meiner Mama gestohlen habe. All das hindert Tristiane nicht daran, mich in Gegenwart ihrer Freundinnen mit Gemeinheiten zu quälen. Ich muss einen Regenwurm verschlucken und mich mit meiner neuen weißen Hose im Matsch wälzen. Einmal fesselt sie mich an einen Baum und erlaubt den anderen Mädchen, mich zu ohrfeigen. Ich kann nicht glauben, was geschieht. Weinend laufe ich später mit roten Backen nach Hause und lasse mich von meiner Mama trösten. Ich verspreche, dass ich nie wieder mit Tristiane spielen werde.

Am nächsten Tag stehe ich erneut vor dem Haus meiner Freundin.

Tristiane! Tristiane!

Als meine Freundin mit ihren Eltern in eine andere Stadt zieht, habe ich meinen ersten Liebeskummer. Wenn ich mal groß bin, heirate ich Tristiane, sage ich meiner Mama unter Tränen und verschlinge nur widerwillig die grüne Götterspeise, die mir auch jetzt schmeckt, was mich wundert.

Ich habe einen Tisch im Rathauskeller bestellt. Die Küche dort ist vorzüglich, säuselt der Buchhändler, der ein gemeinsames Essen am Ende einer Veranstaltung als Pflicht begreift.

Hast du noch etwas Zeit?, frage ich Christiane und weiß nicht, welche Antwort ich mir wünsche.

Der Schnee vergangener Tage fällt auf diesen Abend.

Sehr fern, sehr nah.

Der Papierkorb

Christoph Klimke

Die Felder glänzen im weißen Schneelicht an diesem Dezembernachmittag. Ich fahre mit dem Auto durch Brandenburg Richtung Stendal, wo ich in der Nähe in einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, eine Lesung halten darf. Ein Kollege hat mich empfohlen und brav lud mich die Dame vom Gesundheitsamt ein. Schließlich ist an diesem Tag überall Welt-Aids-Tag und so muss auch hier etwas getan werden.

Im Gasthof stärke ich mich mit lokalem Wild, Rotkohl und Klößen, die in dunkler Soße schwimmen. Dazu ein Bier und die Kreiszeitung, in der meine Lesung tatsächlich angekündigt ist. Es ist längst dunkel draußen und die Gaststätte füllt sich vor allem mit den Herren der Schöpfung. Ich zahle und mache mich zu Fuß auf zu der in einer Seitenstraße gelegenen kleinen Biblio­thek, in der ich aus meinem Buch Der Test. Chronik einer veruntreuten Seele lesen werde. In dieser Erzählung zieht ein Mann sich vierundzwanzig Stunden lang in sein Haus zurück, nachdem er beim Arzt das Test-Ergebnis mitgeteilt bekommen hat. Was soll er tun angesichts einer Krankheit, die sein Leben begrenzt? Soll er sich töten, soll er weiterleben? In der Beantwortung dieser Fragen zwischen Erinnerung, Träumen und Ängsten besteht dieser Test seines Lebens.

Hier im Dorf hat man offensichtlich ganz andere Sorgen. Auch eine Viertelstunde nach dem offiziellen Lesungsbeginn sitzen im trüben Licht sieben ältere, wohlmeinende Damen und ein pausenlos mir zulächelnder Herr, der sich als Gemeinde­pfarrer entpuppt. Die Dame vom Amt stellt mich als typischen Fall des Großstadtlebens dar und freut sich, dass in ihrem gesunden Dorf „so was“, wie sie meint, „noch nicht vorkommt“. Aber man könne ja nie wissen, seufzt sie professionell und die Blicke des Publikums werden immer mitleidsvoller. Einzig dem Pfarrer gefriert das Lächeln, als ich zu lesen beginne. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie er die Hände faltet, die Augen schließt und an wer weiß wen denkt.

„Hat noch jemand Fragen an den Herrn Klimke?“, fragt die Gesundheitsexpertin, die Güte in Person, mit zittriger Stimme in die Runde und ich frage mich, wie schrecklich das sein muss, hier wirklich zu erkranken. Pasolini hatte schon Recht, wenn er meinte, das Land, das betont, ihn zu tolerieren, sei zutiefst intolerant. Der Pfarrer öffnet die Augen und sagt seinen Schäfchen: „So, und ich als einziger Mann hier heute Abend verteile jetzt Kondome.“ Hätte ich nicht schon einiges bei Lesungen erlebt, ich wäre in Ohnmacht gefallen vor Lachen oder Weinen. Die Kondome bleiben unangetastet, zumindest, bis alle den Raum verlassen haben. Die Damen wünschen mir einen schönen Heimweg und humpeln ihren Atemfahnen in dieser kalten Nacht hinterher. Der Pfarrer gibt mir allzu lange die Hand und sagt, ich solle die Zuversicht nicht verlieren. Dabei: hätte ich die verloren, ich wäre niemals hierhergefahren. Mit dem kleinen Hono­rar in der Tasche geht es zurück nach Berlin und erleichtert gebe ich auf den glatten Straßen Vollgas.

Solche Erlebnisse kennen Autoren unzählige. Das Angebot der Buchhändlerin Inge aus Düsseldorf, nach der Lesung: „Geld haben wir keins, aber ein kleines, tolles Publikum und schließlich zählt ja nicht, wie viele kommen, sondern wer.“ Inge bietet mir das Hochbett ihrer Freundin an, die den Bioladen nebenan führt und momentan verreist ist, zum Pennen, was ich dankend ablehne. Oder ein örtlicher Schwulenverband in Linz lädt mich zur Lesung hinter verschlossenen Türen, da öffentlich nicht für Homosexualität geworben werden darf. Am schlimmsten ist die Nacht nach der Lesung, eben wenn man übernachten muss und sich aus Verzweiflung darauf einlässt, auf ein Bier mit den Veranstaltern und wenigen Verzweifelten in die Kneipe zu gehen. Man kann sicher sein, dass wenigstens einer, der alkoholfreies Bier oder heutzutage eine Bionade zu sich nimmt, dem Autor einen dicken Din-A-4-Umschlag unter dem Tisch in die Hände schiebt und flüstert: „Ich schreibe auch!“

Dann braucht man dringend den großen Papierkorb, der schon von den eigenen verworfenen Geschichten überquillt.

Überleben in Steglitz

Mario Wirz

Wer nach Steglitz zieht, muss vorher gestorben sein, sagt Tom. Dort wollte ich nicht tot überm Zaun hängen, knurrt Ron, der zu viele Western gesehen hat. Freunde vom Prenzlauer Berg wenden sich von mir ab. In Friedrichshain, Pankow und in Mitte wird mein Name aus den Adressbüchern gestrichen. Kreuzberg und Schöneberg verhängen ein Einreiseverbot. Selbst die Weddinger wollen nichts mehr von mir wissen. Nur eine Kollegin aus Spandau findet es aufregend, dass ich jetzt in Steglitz wohne.

Nach einigen Wochen bin ich extrem suizidgefährdet. Die zahlreichen Hunde am Grunewaldsee, zu dem ich oft flüchte, können mir nicht helfen, und auch die Nähe des Botanischen Gartens bietet keinen Trost.

Als ich wieder einmal weinend durch meinen neuen Kiez laufe, habe ich eine Vision: Beckett hockt berauscht auf einer blauen Wolke und trinkt Kilkenny vom Fass.

Du wehleidiger, alter Sack, trage deine jämmerliche Sterblichkeit ins General Post Office, Zimmermannstraße 22. Dein Leben in Steglitz ist sinnlos, das wäre es aber auch in Lankwitz oder in Köpenick, doch diese Einsicht lässt sich im G.P.O. leichter ertragen. Kapiert, du mittelalterliche Heulsuse? G.P.O., kichert der wohlwollende Wolkensäufer und verschwindet. Ich folge seinem Rat und entdecke, dass Irland gleich bei mir um die Ecke beginnt. General Post Office. Oase und Treffpunkt. Insel für Schiffbrüchige. Festung gegen die feindliche Welt der Tat­sachen. Kuschelzone und Schwatzclub. Anmachladen und sichere Höhle. G.P.O. Ausgezeichneter Guinness Irish Pub from 1996 until 2004. Stammkneipe und Refugium. Asyl für Singles und Paare. Youngsters und Grufties und alles, was unentschlossen dazwischen vor sich hin altert. G.P.O., eine therapeutische Maßnahme gegen Steglitz-Traumata und jene verlässliche Verzweiflung, die kiezübergreifend an jeder Straßenecke lauert.

Danni und Nadine, die Engel der Trostbedürftigen, schweben professionell durch den blauen Dunst der Zigaretten und stellen die gefüllten Gläser mit Anmut auf die Tische und urigen Fässer, an denen sich die Gäste schöntrinken.

Väterchen Frost geht durch die Stadt. Der Traum von einer heißen Tasse Tee mit Rum gefriert zu Eis. Unerbittlich ist dieser Winter.

Dankbar, dass wir jetzt im Warmen sitzen, mag an diesem Abend jeder jeden – und sogar sich selbst. Der Schauspieler und Kettenraucher aus der Ahornstraße liest demonstrativ dezent ein Drehbuch. Ab und zu übt er ein Lächeln, das geheimnisvoll sein soll. „Lady in Red“ trinkt auch heute zu viel Wodka Smirnoff und flirtet großzügig mit allen. Shane, der sanfte Ire, der mit seiner deutschen Frau Conny das G.P.O. vor zehn Jahren eröffnet hat, äugt versonnen und etwas somnambul auf eins der ungetümigen Telefone, die anachronistisch und charakterfest als Dekoration an den zitronengelben Wänden hängen. Joyce ruft erst morgen wieder an, scherzt der belesene Orthopäde aus der Lepsius­straße und bestellt sein drittes Guinness. Gunda und Manfred sind verliebt und schauen mit der Güte der Glücklichen auf den alten Mann, der gierig Erbsensuppe in sich hineinlöffelt. Mario und Jan, die seit über zwanzig Jahren ein Paar sind, oft geradezu einschüchternd zweisam, texten an diesem Winterabend ihre Freundin Sigrun zu, die der Musik lauscht und mit Appetit ein getoastetes Putenbrust-Sandwich verzehrt. Torsten, der zu chronischer Freundlichkeit entschlossene Schwager von Shane, steht geduldig hinter dem Tresen und beschwichtigt mit seiner Tom-Waits-Stimme einen Gast, der sich über den bellenden Hund seines eingeschlafenen Nachbarn aufregt. Max, eine selbst­bewusste Promenadenmischung, will nicht den hoch­prozentigen Schlaf seines Herrchens stören, sondern eine verzickte Pudelin anbaggern, die ihn pudeldämlich ignoriert.

Jetzt fehlen nur noch Jenny und ihr überkandidelter Papagei, lästert Horst, bevor er wieder im Irischen Tagebuch von Böll versinkt.

Wie viele Jahre vergehen an einem Abend im General Post Office? Auf dem Grund der Gläser verschwinden unsere Tage. Wie viele Promille braucht eine Nacht?

Singt „Lady in Red“ in diesem Augenblick einen Blues von Billie Holiday oder erinnere ich mich gerade an einen anderen Abend im G.P.O.? Die Zeit ist ein Fass ohne Boden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind versöhnt in den blauen Stunden unserer Zuversicht.

Es wird Frühling in der Zimmermannstraße. Endlich können wir wieder draußen sitzen. Die Steglitzer Spatzen, die wir mit Weißbrot füttern, pfeifen mit uns auf die Vernunft. Wir haben Lust, etwas Verrücktes zu tun. Manchmal singt die Amsel.

Wie genügsam wir sind. Drei, vier bauchige Fässer, an denen wir im T-Shirt hocken, einige schlichte Holztische, und der Himmel groß und verheißungsvoll über uns. Wir sind berauscht von gelber, roter und grüner Fassbrause. Noch mal mit Waldmeister!, schreien Hans-Uwe und Rainer. Nadine lächelt. Es ist Sommer.

Nicht mehr lange, und die Nacht riecht nach Herbst. Wovor fürchte ich mich?

Ich will noch nicht ins Bett. Lass uns im G.P.O. was trinken, sagst du und schaust mich an. Kristallweizen? Guinness? ruft Torsten und winkt uns zu.

Schnee fällt auf unsere Geschichten und alle Wiederholungen. Die weiße Nacht vor den Fenstern des G.P.O. leiht uns für einige Stunden ihre Unschuld. Wir schauen uns an, als sähen wir uns zum ersten Mal. Alles ist möglich. Der verschwatzte Papagei von Jenny schweigt nachdenklich. Shane spendiert uns Irish Coffee mit Whisky. Gleich wird eins der zeitlosen Telefone an den Wänden klingeln. Joyce hat uns nicht vergessen.

Cornetto caldo

Christoph Klimke

Giorgio und ich nehmen die U-Bahn an der Piazza Barberini und fahren bis zur Haltestelle Numidio Quadrato. Wir sind müde vom Feiern meines dreißigsten Geburtstages. Es hat die ganze Nacht geregnet, aber wir haben uns in meiner Wohnung in der Via San Francesco a Ripa in Trastevere nicht stören lassen. Alle waren da, meine römischen Freunde, Katja aus Berlin, die nach dem fünften Glas Rotwein in erstaunlich flüssigem Italienisch eine Rede auf mich hält, und natürlich Marisa, meine Mitbewohnerin.

Marisa, eine üppige Sizilianerin mit zwei Siam-Katern, hat für uns eine Pasta und dann ein Fisch-Gericht aus ihrer Heimat gekocht. Sie trinkt gern und viel Peroni-Bier, liebt Musik und Literatur und ab und zu kräftige Männer aus arabischen Gefilden. Aber eigentlich liebt sie Sandra, die die wunderbare Enoteca Giano bifronte betreibt. Hier gibt es die besten Weine, Käse, Oliven, Schinken, Salami und selbst gebackenes Brot und nach dem Essen gewiss einen Grappa.

Wir reden und trinken bis in die Morgenstunden, dann raus an die frische Luft und mit dem keuchenden Bus durch den kalten Regen Richtung Piazza Barberini. In der U-Bahn sitzen die ersten Frühaufsteher, die zur Arbeit fahren. Ich will nur noch zu Giorgio nach Hause und ins Bett. Numidio Quadrato steigen wir aus und laufen zwischen den Hochhäusern entlang. Die ersten Bars öffnen gerade und die Gemüseläden bauen ihre Stände auf.

Un cornetto caldo“, wünscht sich Giorgio jetzt zum Frühstück. Wie könnte ich da nein sagen. Und tatsächlich duftet es nach frischen, warmen Hörnchen aus der Bäckerei an der Ecke. Der Bäcker, ein junger Mann mit schwarzen Augen und frechen Locken, grinst uns an. Wir können nicht abwarten und beißen sofort rein. Der Junge sieht uns zu und schaut uns solange an, bis wir verstehen. Er schließt einen Moment lang die Tür ab und wir drei vergnügen uns.

Das waren Jahre. Fast schon vergessen die Arglosigkeit, Freude, Spontanität, die Lust auf wieder und wieder. Wie viele Freunde sind gestorben. Mir unvergessen. Auch Marisa lebt nicht mehr. Wie habe ich es geliebt, wenn ich von meinen Streifzügen gegen morgen nach Hause kam, um dann mit ihr ein Peroni zu trinken, eine schnelle Pasta zu essen und, die Katzen auf unserem Schoß, zu rauchen, zu reden und selig einzuschlafen.

Im Traum lief ich dann mit Giorgio und seinem Sohn Lorenzo durch die Kirmes auf der Wiese in der Nähe seiner Wohnung. Jeden Sommer waren wir dort. Wir laufen nebeneinander her und ich nehme Lorenzo auf die Schultern. Es ist früher Nachmittag und die Kirmes ist fast leer. Nur eine Gruppe junger Transvestiten kommt uns lachend entgegen. Sie sehen uns an und singen: „Siete la coppia più bella del mondo!“ „Ihr seid das schönste Paar der Welt.“ Wie wahr! Und lange her.

Das Giano bifronte ist schon seit Jahren geschlossen und für mich gibt es kaum noch gute Gründe, nach Rom zu fahren. Vielleicht könnte ein cornetto caldo mich hierzu verführen. Schließlich zählen die römischen Bäcker immer noch zu den Besten ihrer Zunft.

Notizen eines ehemaligen Sexjunkies

Mario Wirz

Unter den Wolken blüht meinen Tagen jetzt keusche Friedlichkeit. Staunend äugt der Mond auf meinen zahmen Schlaf. Hat meine kränkliche Gegenwart alle wilden Jägerträume gebändigt? Bin ich nun ein ältlicher Idylliker mit Krampfadern, der nur noch dem Eros der Bäume verfällt? Warte ich, dass „Stolzer Heinrich“ mit seinem kräftigen, behaarten Stängel die Wollust des Naturliebhabers in mir weckt? Ist es nur noch der „Wollige Hahnenfuß“, dem ich in Stützstrümpfen läufig hinterherjage? Suhle ich mich jetzt schrullig auf nicht gedüngten Wiesen im breitblättrigen „Knabenkraut“?

Die Wolken und der Mond wissen, dass es andere Tage gab, andere Nächte, andere Ausschweifungen.

Sexsüchtig wilderte ich durch den Großstadtdschungel, ruhelos war ich Jäger und Beute in der Körperwildnis, unersättlich schienen alle Tage und Nächte.

Mannstoll trieb ich mich durch die jungen Jahre, gefräßig und einsam betäubte ich Sehnsucht und Schmerz mit fremder Haut, war namenlos unter Namenlosen. Den ich eben noch berührt hatte, vergaß ich, um von einem anderen vergessen zu werden.

Unbehaust in meinem mageren Körper, den ich nicht bejahen konnte, stürzte ich mich auf andere, als wollte ich sie mir einverleiben. Niemand konnte auf den maßlosen Hunger antworten, der mich durch die Stunden trieb, aber immer wieder hielt ich mich fest an den Schultern von Wildfremden, um nach einem flüchtigen Sexgerangel auf mich selbst zurückzufallen. Meine Jugend war ein pathetisches Fieber.