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© Querverlag GmbH, Berlin 2002

Erste Auflage Februar 2002

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und graphische Realisierung von Sergio Vitale

ISBN 978-3-89656-611-9

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

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1. Kapitel

in dem sich eine Statistik als gefährlich für die Beziehungsharmonie erweist

Manchen Menschen sind Gewohnheiten ein Graus. Ihre wichtigste Maxime heißt Abwechslung. Sie fangen an, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen oder mit den Fingern auf der Stuhllehne herumzutrommeln, wenn nicht jeder Moment ihres Lebens voller unvorhergesehener Ereignisse ist.

Andere wiederum – und zu ihnen gehörten Carmen und Dolores – lieben das Gleichmaß, die Vorhersehbarkeit. Sie behaupten vielleicht, sich über Überraschungen zu freuen, aber im Grunde stimmt das nicht: Eigentlich hassen sie alles, was ungeplant über sie hereinbricht – sei es die Geburtstagsparty oder der Gerichtsvollzieher. Sie entwickeln Rituale und Abläufe, so selbstverständlich wie Atmen und Essen.

Carmen und Dolores waren seit mehr als zehn Jahren ein Paar – schon das allein zeugt von ihrem Hang zur Stetigkeit. Beide waren Ende dreißig.

Früher hatte Carmen einen knallroten, Henna gefärbten Stiftekopf gehabt und Dolores einen pechschwarz getönten asymmetrischen Schnitt, rechts lang, links kurz. Man konnte die ausgefallenen Frisuren noch auf einem Bild bewundern, das neben dem Fernseher, den sie übrigens sehr selten anschalteten, auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Wohnzimmers stand. Von den ausgefallenen Frisuren ihrer frühen Erwachsenenjahre war mittlerweile nichts mehr übrig geblieben. Zu viel Aufwand, fanden sie und hatten sich unwillkürlich einander angeglichen: Die Haare beider hingen nun knapp schulterlang, gefärbt wurde nicht mehr. Die eine – Carmen – war jetzt mittelblond, die andere – Dolores – mittelbraun.

Immerhin waren Carmen und Dolores unterschiedlich groß, was es erleichterte, sie auch von weitem zu unterscheiden: Carmen maß einen Meter sechzig, dokumentiert durch einen Bleistiftstrich im Türrahmen der Küche, Dolores eins fünfundsiebzig, ebenfalls genau angezeichnet. Vielleicht verhinderte nur die Biologie, dass sie sich auch hier einander anglichen. Wer weiß. Aber es gab ja auch noch die Augen, die bei Carmen hellblau und bei Dolores hellbraun leuchteten. Nur konnte man die von weitem nicht erkennen.

Beide hassten Sex unter Zeitdruck. Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Jahren fielen sie auch tiefnachts übereinander her, wenn sie sich danach fühlten, oder blieben morgens länger liegen und entschuldigten sich dann beim verspäteten Auftauchen am Arbeitsplatz oder im Seminar mit Weckerversagen. Mit den Jahren ließ das nach, und inzwischen schliefen sie eigentlich nur noch sonntagmorgens miteinander.

Carmen bedauerte das gelegentlich in aller Stille, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Manchmal, wenn Dolores sie nicht beachtete oder nicht zu Hause war, saß sie versonnen auf der schweren, braunen Ledercouch. Zum Beispiel samstagmorgens, wenn Dolores noch im Laden arbeitete.

Die Ledergarnitur war ihrer und Dolores’ ganzer Stolz. Sie stammte aus einem teuren Designerladen in der Fußgängerzone. Anlässlich ihres Umzuges hatten die beiden Frauen ihre Ersparnisse zusammengelegt, die wackligen Regale und ausgeleierten Sessel aus einem großen schwedischen Möbelhaus dem Sperrmüll überantwortet und waren losgezogen, um sich neu einzurichten. Für ein kirschholzfurniertes Regal hatte es auch noch gereicht. Das zog sich eine Wand entlang. Zum Teil war es mit Büchern, zum Teil mit Fotos und Postkarten vollgestellt, und ein Fach füllte Carmens Glaskatzensammlung.

Dolores fand die zwar scheußlich, hatte jedoch um des lieben Friedens willen nicht darauf bestanden, sie in Carmens Zimmer zu verbannen. Immerhin musste Carmen wegen Dolores’ Allergie gegen felltragende Haustiere auf echte Stubentiger verzichten, die sie sonst liebend gerne besessen hätte. Um das Allergie-Risiko zu senken, gab es auch keine Teppiche, sondern nur blanken Parkettboden, den sie bereits vorgefunden hatten, breites Fischgrätmuster immerhin, edel wie in Gründerzeitvillen.

Carmen und Dolores hatten die Möbel gekauft, nachdem sie in diese schönere, größere und hellere Wohnung im dritten Stock gezogen waren. Sie lag in Sendling, einem ruhigeren Stadtviertel unweit von Isar und Innenstadt. Altbau, wenn auch ohne Fahrstuhl, aber mit Stuck an der Decke. Die Wohnung hatte drei Zimmer, eine große Küche mit Esstisch, einen Flur, der günstig in der Mitte lag, einen Winzlingsbalkon im Wohnzimmer und ein Bad, das Dusche und Badewanne besaß. Auch an der Haustür sollte es nun etwas Gediegenes sein, kein handgemaltes und mit Tesa befestigtes Namensschild mehr. So prangte dort ein kupfernes Türschild mit geschwungenen Rändern. Darauf stand in Schreibschrift: „Carmen Sowirowski, Dolores Düllmann“.

Zuerst hatten beide in winzigen Zimmern in Zweck-WGs gewohnt. Damals steckte Carmen gerade im BWL-Examen. Dolores stand im Begriff, ihren Laden Ramsch und Reste zu eröffnen, nachdem sie das Völkerkunde- und Philosophie-Studium wegen Nutzlosigkeit aufgegeben hatte. Sie hatte ihr ökonomisches Talent, Sachen superbillig einzukaufen und sie teurer zu verkaufen, entdeckt. Es dauerte allerdings einige Jahre, bis es sich zur vollen Blüte entfaltet hatte, und bis dahin war das Geld knapp, daher die Wohngemeinschaft.

Nach drei Beziehungsjahren mieteten die beiden Frauen ihre erste gemeinsame Wohnung. Carmen war mittlerweile studierte Sachbearbeiterin mit einem wenig beeindruckenden Gehalt. Es herrschte gerade eine Betriebswirtschaftler-Schwemme, und da ihr Examen wegen des unglücklichen Zusammentreffens mit der ersten stürmischen Verliebtheit in Dolores nicht berühmt ausgefallen war, hatte sie nichts Besseres gefunden. Daher beschränkte das Budget der beiden Frauen die Auswahlmöglichkeiten beträchtlich – schließlich war München ein teures Pflaster.

Sie fanden zwei geräumige Zimmer ohne Balkon, dafür aber mit reichlich Verkehrslärm an einer der Hauptverkehrsstraßen im West­end. Der Blick ging auf eine krakenartige Kreuzung. Die Heizung funktionierte nicht richtig, und die weiße Rauhfaser mussten sie zweimal überstreichen, ehe sie wieder jungfräulich wirkte. Darauf befestigten die beiden Frauen zwei Plakate. Eins zeigte k.d. lang und eines Blumen von Georgia O’Keefe.

Die hatten sie beim Umzug auch weggeworfen. Weil Carmen und Dolores ziemlich heikel in Geschmacksfragen waren, leuchteten die meisten Wände der nun schon nicht mehr ganz neuen Wohnung noch weiß. Einzig das Gemälde einer Münchner Szenekünstlerin in Orange und Hellblau mit etwas darauf, das einem lächelnden, fliegenden Hund relativ ähnlich sah, hatte ihre Gnade gefunden und zierte nun eine Wand des Wohnraums. Sie meinten übereinstimmend, das Bild hätte eine positive Ausstrahlung. Außerdem kannten sie die Malerin – sie hatte ihnen das Werk höchstpersönlich in die Hand gedrückt, nachdem sie es während einer Ausstellung im Café Glück gekauft hatten. In der Ecke daneben stand ein Ficus in einem riesigen Topf. Carmen hasste Ficus-Büsche, aber Dolores hatte auf dem Grünzeug bestanden. Heimlich hoffte Carmen, ihre stille Verachtung werde das Ding irgendwann eingehen lassen – Pflanzen sollten ja angeblich so empfindsam sein –, doch dieser hier hatte anscheinend ein dickes Fell und dachte gar nicht daran. Obwohl zumindest von Carmen ziemlich stiefmütterlich behandelt, wuchs und wuchs er.

Immerhin war die alte Wohnung billig. Außerdem lebte über ihnen ein schwules Paar, das mitten in der Nacht lauthals zu vögeln pflegte, was die beiden Frauen häufig ebenfalls zu sexuellen Aktivitäten anregte. Manchmal stöhnten sie zu viert im Chor, um sich am nächsten Tag im Treppenhaus anzüglich anzugrinsen. Zu einer Freundschaft war diese seltsame akustische Beziehung aber nie gediehen – warum, wusste Carmen selbst nicht.

Damals, in der alten Wohnung, hatten Carmen und Dolores auf einer Doppelmatratze auf dem Boden geschlafen. Ein Bett war ihnen zu etabliert. Der Liebe hatte das nicht geschadet, aber dem Rückgrat. Carmens ewige Rückenschmerzen hätten sie sowieso gezwungen, ein neues Bett zu kaufen, und so erledigten sie das beim Umzug gleich mit: Jetzt hatte jede von ihnen ihr eigenes Boudoir. Das von Carmen diente gelegentlich als Gästezimmer, während Dolores in ihrem einen kleinen Schreibtisch aufgestellt hatte, auf dem sie manchmal am Wochenende genervt die Bücher ihres Geschenke- und Restposten-Geschäfts in Ordnung brachte. Die Matratzen auf dem Boden waren geräumigen Betten gewichen; jedes war so breit, dass zwei Personen bequem darin Platz fanden, obwohl sie oft genug allein schliefen. Auch im Schlafzimmer war Schluss mit der Naturholz­romantik. Dolores hatte sich bei Schrank und Bett für Schwarz mit schmalen Silberstreifen am Rand entschieden, Carmen für Schiebetür-Schränke in Eiche hell.

Als sie hier eingezogen waren, vor genau drei Jahren, an einem scheußlich kalten spätwinterlichen Tag im frühen Januar, hatte Carmen zum ersten Mal das Gefühl, es geschafft zu haben. Was genau diese Empfindung in ihr auslöste, wusste sie selbst nicht. Die Maßstäbe ihrer Erzeuger – Auto, Haus und Ferienreise in den Süden – lehnte sie jedenfalls ab. Ihre Eltern lebten in einer württembergischen Kleinstadt im Eigenheim – mit Kehrwoche und allem Drum und Dran. Nur ungern erinnerte sich Carmen daran, dass sie mit einem schweren Reisigbesen den Bürgersteig fegen musste. In München machten das Hausmeister oder die Stadtreinigung.

Manchmal schämte sich Carmen für die unbestimmte Empfindung, irgendwo angekommen zu sein, weil sie es spießig fand. Gelegentlich stand sie im Flur, warf einen Blick in die gediegen eingerichteten Zimmer und dachte: fast wie zu Hause. Gutbürgerlich eben. Dann lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, und sie ging schnell in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen.

Die Küche, weiß mit grünen Rändern, war – wie alles – neu. Nur der alte Tisch, ein Ikea-Naturholz-Modell, die letzte Reminiszenz einer nunmehr abgeschlossenen Ära, durfte mitkommen. Seine Platte hatte Dolores im Schweiße ihres Angesichts mehrfach abgeschmirgelt und neu eingelassen. Drumherum standen drei Klappstühle aus rotem Plastik. Der Herd hatte eine von diesen modernen Induktionskochplatten, die man nur mit einem Spezialspachtel sauber bekommt; Spül- und Waschmaschine passten genau in die Küchenzeile. Direkt neben der Küchentür hing eine kleine Pinnwand, an die alles Mögliche geheftet war: Veranstaltungshinweise, Zettel mit Adressen, Einkaufslisten.

Drei Jahre wohnen wir nun schon hier, dachte Carmen, ohne genau zu wissen, warum eine leichte Wehmut sie dabei überkam. Sie saß auf der Ledercouch und starrte das Foto neben dem Fernseher an. Das Bild stammte aus einer dieser Fotomaschinen, die in U-Bahn-Stationen herumstehen. Es erinnerte sie an die erste wilde Nacht, nachdem es endlich gefunkt hatte zwischen ihr und Dolores. Daran, dass weder sie noch Dolores damals ein Auge zugetan hatten und dass ihnen das vollkommen egal gewesen war. Im Gegenteil, sie waren am folgenden Morgen geradezu triumphierend mit roten Wangen und strahlenden Augen losgezogen, um ihren jeweiligen Pflichten nachzugehen.

Die kamen allerdings in den nächsten Wochen reichlich kurz. Carmen und Dolores hatten Besseres zu tun. Schließlich gab es allenthalben noch geheime Winkel am Körper der anderen zu erkunden, ungeahnte Seufzer zu hören und Berührungen auszuprobieren. Und dann waren da noch die Passbildautomaten. Gleich mehrmals in dieser Zeit hatten sie einen von ihnen gestürmt und ein Großbild geschossen. Eines dieser Fotos, das beste, stand nun im silbernen Metallrahmen neben dem Fernseher und zeugte von fernen Zeiten.

Heute würden wir solche Fotos nicht mehr zustande kriegen, grübelte Carmen. Vollkommen undenkbar, denn Dolores jammerte, wenn sie nicht mindestens acht, am besten aber neun oder zehn Stunden Schlaf bekam. Sie hatte dann tatsächlich sehr schnell Ringe unter den Augen. Mit ihr selbst war es auch nicht viel besser. Ihre Nächte vergingen ungestört von triebhaften Aufwallungen. Carmen seufzte tief. Waren das nur die Jahre oder vielleicht noch etwas anderes?

Während also Carmen auf dem braunen Sofa sann, sortierte Dolores in ihrem Laden eine Charge schwarz-weiß karierter Unterhosen, die sie für fünfzig Cent das Stück erworben hatte. Der Hersteller war insolvent geworden und sie hatte sich beim Ausverkauf bedient. Die Qualität war in Ordnung: Baumwolle, am Rand ein breites Gummiband, das bestimmt fünf Wäschen überstehen würde. Für eins fünfzig könnte sie die Dinger sicher losschlagen, ohne rot werden zu müssen. Satte zweihundert Prozent Profit! Aber solche Deals waren natürlich eher die Ausnahme.

Dolores’ Laden Ramsch und Reste war eine skurrile Mischung von Ausverkaufswaren, die sie billig erstand, Geschenk- und Scherzartikeln sowie allerlei Nippes. Das einzige, was sie nicht einkaufte, war Second-Hand-Ware. Dinge, die sich schon in den Schränken anderer Leute befunden hatten, wollte sie nicht um sich. Aber bei neuen Sachen schreckte sie vor nichts zurück: von innen beleuchtete Plastikgummibären in diversen Größen, Mini-Schirme mit obskuren Aufklappautomatiken, die erfahrungsgemäß spätestens beim ersten heftigen Windstoß ihren Geist aufgaben, Aschenbecher in Playgirl-Form (hier sträubten sich die Reste ihres Frauenbewusstseins ein wenig, aber die Dinger gingen nun mal gut), Klebebordüren mit mehr oder minder geschmacklosen Motiven für die Kacheln im Bad, Kissen, die quietschten, wenn man sich auf sie setzte, Knallbonbons, Feng-Shui-Brunnen in Einfachstausführung oder eben superbillige Unterhosen. Dolores glaubte es selbst kaum, aber die schräge Mixtur kam an. Viele Kunden besuchten den Laden wahrscheinlich nur, um im Sortiment herumzuwühlen. Dolores fand, das regte die Phantasie an. Manchmal kauften sie dann was, manchmal nicht.

Dolores hatte soeben die Ladentür abgeschlossen und räumte jetzt noch ein bisschen auf. Dann würde sie nach Hause gehen, wo wahrscheinlich Carmen wartete. Angesichts des vor ihnen liegenden Samstagnachmittags war ihr eher ungemütlich zumute, denn Samstag bedeutete Aufräumen, Putzen, Einkaufen, noch ein bisschen Papierkram erledigen, der in der Woche liegen geblieben war, und danach fix und fertig sein. Zu mehr reichte die Energie nicht, obwohl Carmen und sie eigentlich doch Zeit gehabt hätten. Nur selten rafften sich die beiden samstags zu größeren Taten auf, es sei denn, irgend­jemand lud sie zu einem Fest ein.

Noch nicht mal zum Sex hatten sie Lust. Das war allerdings eine neuere Erscheinung, die vielleicht damit zusammenhing, dass die neue Wohnung größer, schöner und damit auch aufwendiger zu reinigen war als die alte und eine Putzhilfe schwer zu finden, abgesehen davon, dass es Carmen vor Fremden in ihren vier Wänden grauste. Vielleicht liegt das mit der Lust auch noch an etwas anderem, dachte Dolores, und dabei wurde ihr ein wenig unwohl, so dass sie diesen Gedanken nicht weiter verfolgte.

Aber der Samstag würde vorübergehen wie die anderen Tage. Die waren immer im Nu vorbei. Von Montag bis Freitag waren sie sehr beschäftigt: Carmen arbeitete mittlerweile im Vertrieb einer Maschinenbaufirma, Dolores in ihrem Laden. Zum Ausgleich spielte Dolores Tischtennis bei den „Bunten Bällen“, Carmen schwamm beim lesbisch-schwulen Wassersportclub „Rosa Wasserratten“. Außerdem mochten Carmen und Dolores gelegentlich Kino, Lesungen und Ausstellungen. Einmal alle vierzehn Tage gingen sie zum Lesbenstammtisch. Kein Wunder, dass sie sich am Samstag ausruhen mussten!

Am Sonntag waren sie dann meistens beide erfrischt und gut gelaunt. Die Sonntage waren daher die Höhepunkte der Woche, zumindest in sexueller Hinsicht. Irgendwann zwischen zehn und elf standen die beiden Frauen auf, knurrten sich ein wenig an, um zu signalisieren, dass sie noch etwas Zeit für sich allein wollten, frühstückten schweigsam und häufig sogar getrennt – Carmen auf dem Balkon, Dolores am Küchentisch – lasen etwas oder erledigten die am Samstag liegengebliebene Hausarbeit.

Meistens war es dann Dolores, die Carmen je nach Laune stürmisch umarmte oder sanft ihre Schultern massierte. Carmen pflegte in diesem Moment zu erschauern, die Augen zu schließen und lustvoll zu seufzen. Früher oder später liebten sie sich. Danach lagen sie ermattet auf dem Bett, räkelten sich wohlig und dösten vor sich hin. Schließlich griff jede zu einem anderen Teil der Tageszeitung: Carmen las immer zuerst das Vermischte, Dolores die Kultur. Auch an jenem kalten Januarsonntag, an dem diese Geschichte beginnt, war es nicht anders.

An diesem Sonntag – der Sex war bereits vorbei und wie immer ganz nett, aber nicht himmelsstürmend toll gewesen – entdeckte Carmen im Vermischten einen Artikel mit dem Titel: „Im Durchschnitt 2,5-mal in der Woche Sex“. Angesichts ihrer grüblerischen Gedanken auf dem braunen Sofa am Tag zuvor war es kein Wunder, dass er ihr Interesse erregte. Sie begann zu lesen: Eine Umfrage unter Tausenden zufällig ausgewählter Männer und Frauen zwischen zwanzig und sechzig in allen denkbaren Familienständen und Lebensformen in verschiedenen Ländern Europas habe ergeben, dass die meisten Menschen – nämlich so um die vierzig Prozent – zwei- bis dreimal in der Woche Sex hätten. Nur zehn Prozent würden es bloß einmal in der Woche tun, und immerhin zwanzig Prozent mehr als dreimal. Beneidenswerte zwanzig Prozent machten es öfter als dreimal oder behaupteten das jedenfalls, und zehn Prozent machten es anscheinend gar nicht mehr. Leider war die Statistik weder nach Singles und Paaren noch nach Homos und Heteros getrennt.

Carmen staunte und war gleichzeitig beunruhigt, obwohl sie von Statistiken eigentlich nichts hielt. Denn nach diesem Bericht gehörten sie und Dolores eindeutig zu den unteren zehn Prozent der Lustpyramide! Waren sie auf dem Weg, den Tod in den Betten zu sterben? „Guck mal“, sagte sie dringlich und tippte Dolores aufmerksamkeitsheischend auf die Schulter.

Dolores studierte gerade eine Reportage im Reiseteil, in der es um Guatemala ging. Sie unterbrach ihre Lektüre, ließ sich von Carmen den Bericht zeigen und schüttelte dann den Kopf. „So ein Blödsinn! Glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast, hat meine Mutter immer gesagt.“

Aber Carmen war so einfach nicht zu beruhigen. „Überlege mal!“ insistierte sie. „Zwei-, dreimal in der Woche! Und wir? Wir schaffen’s gerade noch einmal. Wenn überhaupt! Ich sage dir, wir sind auf dem besten Weg zum Sexmuffel! Zum unteren Ende der unteren zehn Prozent der Skala!“

„Na gut, öfter wäre vielleicht besser. Aber es funktioniert nun mal nicht so: Entweder wir sind müde, oder wir sind nicht da. Und außerdem: Lesben sind Sexmuffel, das weißt du doch!“ Dolores hasste es, beim Lesen unterbrochen zu werden. Leicht gereizt wandte sie sich wieder ihrem Reisebericht zu. Aber sie konnte sich nicht mehr auf den Text konzentrieren. War es wirklich so, dass andere viel mehr Sex hatten?

Dolores’ scheinbare Gleichgültigkeit regte Carmen auf. „He, Lady! Leg gefälligst das blöde Blatt mal zur Seite! Hier geht es immerhin um unsere Lebensqualität!“

„Schon gut“, sagte Dolores. Carmen hatte ja Recht. Sex war wichtig, oder nicht? Und natürlich war ihrer beider Sexleben nicht mehr so intensiv wie am Anfang. Aber war das nicht normal, fragte sich Dolores – schließlich kannten sie sich sehr gut, der Reiz des Neuen, das Abenteuer der Verführung ließ sich beim besten Willen nach so langer Zeit nicht mehr zurückholen. „Reicht dir nicht, was wir haben? Willst du mehr?“ fragte sie Carmen.

„Ich weiß nicht. Eigentlich bin ich ganz zufrieden, und dann auch wieder nicht.“

Dolores verdrehte die Augen. „Eigentlich und dann doch wieder nicht? Was soll denn das heißen? Ich finde es immer noch toll mit dir, nur …“

„Nur?“ Carmen errötete.

Dolores sah zu Boden. „Nur ist es manchmal immer dasselbe und nicht so wie früher.“

„Manchmal immer dasselbe und nicht so wie früher? Das klingt ja genau wie eigentlich und dann doch wieder nicht.“

„Also haben wir vielleicht wirklich ein Problem“, fasste Dolores den Diskussionsstand zusammen.

„Wir haben kein Problem!“ Carmen hasste Probleme, auch wenn sie diejenige war, die diese Diskussion aufgebracht hatte. Probleme stahlen Zeit und Energie und waren sowieso vollkommen überflüssig.

Dolores hatte nicht vor, sich abwimmeln zu lassen: „Wem ist denn der Artikel aufgefallen? Dir doch. Und jetzt willst du plötzlich nichts mehr damit zu tun haben.“

„Okay, okay. Aber was machen wir mit unserer bahnbrechenden Erkenntnis?“

Dolores seufzte. „Du bist doch sonst immer die große Analytikerin. Vielleicht sollten wir erst mal herauszufinden versuchen, ob wir wirklich so wenig Sex haben?“

„Du meinst, indem wir andere fragen?“

„Zum Beispiel.“

„Und du glaubst, die sagen dir, wie das bei ihnen läuft?“

„Warum nicht?“

„Weil ich mir das nicht vorstellen kann. Außerdem geht es doch gar nicht um die Menge!“

„In dem Artikel ging es aber schon darum!“

„Aber du hast dich doch darüber beklagt, wir würden immer dasselbe tun.“

„Ach, hör auf! Das ist Haarspalterei.“ Dolores wandte sich ab. Sie hasste Diskussionen, die sich im Kreis drehten. „Ich werde mich jedenfalls erst mal erkundigen.“

„Na schön. Du wirst ja sehen, was du davon hast.“ Nachdenklich wandte sich Carmen wieder der Zeitung zu. Die schöne Sonntagsstimmung war dahin. Und das alles wegen eines Artikels. Sorgfältig schnitt sie ihn aus und hängte ihn an die Pinnwand.

Der Montagabend verstrich in düsterer Stimmung. Carmen und Dolores gingen sich aus dem Weg – Dolores, weil sie nicht wieder über ihren Recherche-Plan diskutieren wollte, Carmen, weil sie genau wusste, dass sie Dolores doch nicht von dem abbringen würde, was sie sich einmal vorgenommen hatte. Dazu war Dolores viel zu dickschädelig.

Am Dienstag ging Dolores allein zum Stammtisch, weil Carmen wegen eines Abendessens mit ausländischen Kunden ihrer Firma verhindert war. Der Stammtisch war schon vor Jahren gegründet worden. Einige Lesben fanden es blöd, immer in die Szenekneipen in der Innenstadt fahren zu müssen, um ihresgleichen zu treffen. Also setzte eine von ihnen eine Einladung an alle aus dem Viertel mit Termin und Ort ins Mitteilungsblättchen der Frauenszene, und schon war der Stammtisch gegründet. Der Zuspruch war nicht überwältigend, doch die Institution hielt sich. Schließlich musste man weder weit fahren noch Mitgliedsbeiträge bezahlen, um ab und zu Frauen zu treffen, die in der Nähe wohnten. Mittlerweile gab es solche Stammtische in allen möglichen Stadtteilen, aber die Frauen von Carmens und Dolores’ Stammtisch waren stolz auf ihre Pionierrolle.

Sie trafen sich im Wirtshaus Zum Grünen Krug, dessen größte Eigenheit darin bestand, dass es eigentlich keine hatte. Das Essen schmeckte äußerst mittelmäßig, die Tische bestanden aus schwerem, naturfarbenem Holz wie in tausend anderen bayerischen Bierschwemmen, auf modischen Szene-Schnickschnack hatten die Wirte gänzlich verzichtet und an der Wand hingen speckige Bilder, die bajuwarisches Bauernglück zeigten. Das Etablissement hätte sich eher in Bayreuth, Memmingen, Passau oder Kleindingharting befinden können als im schicken München.

Weil meistens nur wenig Gäste hinter ihren Bieren dräuten, musste man nie lange darauf warten, bedient zu werden, und da es auch keine Musikbox gab, war es angenehm still, so dass sich die Frauen leise unterhalten konnten. Die Stille war das wichtigste Argument von Karin und Ulrike, den Gründerinnen und Hauptorganisatorinnen. Denn in den etwas trendigeren Lokalen wurde mit Essen und Trinken ein mehr oder weniger lautes akustisches Gebräu aus diversen Boxen auf die Gästeschar ausgeschüttet, das jedes Gespräch zunichte machte. Und ums Reden ging es hier schließlich, fanden sie. Die Ästhetik musste demgegenüber zurückstehen, fertig. Ihren Kunstsinn konnte die Lesbe von Welt schließlich in einer der zahlreichen Ausstellungshallen befriedigen.

Der harte Kern der Gruppe bestand aus drei Paaren, die alle schon Jahre zusammen waren: Karin und Ulrike, Bernie und Angie sowie Dolores und Carmen. Ansonsten hatten die Gesichter im Lauf der Jahre gewechselt. Manchmal kamen mehr Frauen und gelegentlich sogar eine, die noch keine kannte, aber das geschah inzwischen sehr selten. Sicher konnte man jedenfalls meist mit diesen sechs Frauen rechnen.

Am Dienstag nach der schicksalhaften Statistik-Diskussion waren außer Dolores nur Karin, Ulrike, Bernie und Angie gekommen. Dolores saß vor ihrem Bier und zögerte, froh, dass heute keine Neue erschienen war. Schließlich drängte es sie, das heikle Thema vom Sonntag anzusprechen. Aber wie, ohne gleich den Verdacht, das häusliche Glück hänge schief, auf sich zu lenken? Geduldig wartete sie auf eine Gelegenheit. Aber vorläufig drehte sich alles um das Coming-out eines weiblichen Filmstars.

Als das Gespräch kurz stockte, ergriff Dolores die Gelegenheit beim Schopf. „Habt ihr den Artikel in der Zeitung vom Wochenende gelesen?“

„Welchen?“ fragte Ulrike und fuhr mit der Hand durch ihren frisch geschnittenen Kurzhaarschnitt in Hellblond.

„Den mit dem Sex.“

Dolores erntete verständnislose Blicke.

„Er stand auf der Seite mit den vermischten Meldungen und handelte von einer statistischen Erhebung darüber, wie oft Leute im Durchschnitt Sex miteinander haben.“

„Und wie oft haben sie?“ insistierte Karin, während sie nervös ihre Brille, die gern in Richtung Nasenspitze rutschte, nach oben schob.

„Haben sie angeblich“, korrigierte Ulrike und presste indigniert die schmalen Lippen zusammen. Sie nahm alles sehr genau.

„Zwei- bis dreimal die Woche“, sagte Dolores.

„Oho!“ Angie warf demonstrativ ihre blonde Mähne über den Rücken. Sie und ihre Freundin Bernie lebten in demonstrativer Disharmonie, aber dennoch höchst dauerhaft miteinander.

„Was meinst du mit ,oho’?“ fragte Bernie angriffslustig mit einem bösen Glitzern in den Augen. Eigentlich hieß sie Bernardette, aber sie fand das in Anbetracht ihrer raffelkurzen Haare, der schweren Lederjacken, die sie bevorzugte, und der BMW vor dem Haus dermaßen unpassend, dass sie in ihrem Freundeskreis kurzerhand den Namen Bernie durchgesetzt hatte.

Bernie und Angie ähnelten etwas dem Klischee altmodischer Butch-Femme-Paare von vor dreißig Jahren. Angie ließ ihr fast hüftlanges Haar frei wallen und flocht im Sommer manchmal sogar ein Schleifchen hinein. War es warm, trug sie gern lange Schlabberröcke. Häufig ließ sie sich von Bernie die Tür aufhalten, nicht ohne zu versichern, dabei handele es sich um Ironie. Aber auch Bernie spielte ihre Rolle mit Bravour – sie brachte es sogar fertig, hinter Angie den Stuhl anzurücken, wenn diese sich setzte.

„Ich meine damit gar nichts“, sagte Angie. Sie wusste, dass Bernie öffentliche Erörterungen sexueller Themen zuwider waren. Obwohl normalerweise streitlustig, respektierten die beiden in derart intimen Dingen meistens die Einstellung der anderen.

„Schade. Und ihr?“ Dolores wandte sich Ulrike und Karin zu. Keine sagte etwas. „Bitte nicht vordrängeln!“ Dolores grinste. „Meine Güte, ihr seid doch erwachsene Frauen. Kann man denn mit euch nicht mal vernünftig über Sex reden?“

Karin drückte ziemlich umständlich ihre Zigarettenkippe aus. „Sagen wir mal so: Montags habe ich Arbeitskreis für im Angestelltenverhältnis tätige Lesben, dienstags ist Stammtisch, mittwochs sind wir beide zu Hause, am Donnerstag habe ich Englischkurs, am Freitag ist Politgruppe oder Putzen, samstags fahren wir oft raus und am Sonntag sind wir meistens zu Hause. Ihr seht, wir sind gut beschäftigt.“

„Habe ich mich unklar ausgedrückt? Ich wollte doch nicht deinen Wochenfahrplan wissen, sondern wie oft ihr es miteinander macht.“

Ulrike öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, unter dem Tisch gab es ein scharrendes Geräusch, dann schloss Ulrike den Mund wieder und presste die Lippen zusammen, als hätte ihr jemand gegen das Schienbein getreten. Wahrscheinlich stimmte das auch, denn der Blick, den Karin ihrer Freundin zuwarf, war alles andere als freundlich. Dann redete sie weiter.

„Und ich sage dir hiermit hochoffiziell, dass dich das nichts angeht. Wenn ich mein Intimleben öffentlich breittreten will, gehe ich zu Arabella Kiesbauer oder Pastor Fliege, aber doch nicht zum Lesbenstammtisch! Außerdem habe ich dir schon genug Hinweise gegeben, mal angenommen, dass man für Sex ein Minimum an Zeit und Ruhe braucht. Ach, übrigens: Warum willst du das überhaupt wissen? Klappt es bei euch etwa nicht mehr richtig?“

„Nein, ich meine ja, …“, verhaspelte sich Dolores. Gleichzeitig kalkulierte sie blitzschnell: Mittwoch und Sonntag. Und Samstag vielleicht nach dem Bergwandern, wenn sie dann nicht zu müde waren. Und sonntags auch noch, wenn es samstags nicht geklappt hatte. Machte drei. Mindestens! Das Ergebnis ihrer Berechnungen frustrierte sie: Dann stimmte es also wirklich! Ihre Freundinnen Karin und Ulrike, ebenfalls langjährig verpaart und auf den ersten Blick ziemlich verschlafen wirkend, hatten wahrscheinlich dreimal pro Woche Sex. Während sie es gerade einmal schafften, wenn überhaupt. Eine niederschmetternde Erkenntnis.

„Wenn du solche intimen Details wissen willst, möchten wir von dir auch was hören!“ setzte Ulrike nach und kniff wieder einmal die Lippen zusammen, wobei sie diesmal auch noch die Brauen runzelte.

Dolores errötete. „Ja, also kommt irgendwie schon hin, die Statistik, glaube ich“, stotterte sie. Sie war schon immer eine miserable Lügnerin gewesen.

„Na, dann ist ja alles prima und wir können uns wieder über was anderes unterhalten“, sagte Karin betont gleichgültig. „Gibt es diesen Winter eigentlich noch einen Tanzkurs? Letztes Jahr hat doch im Februar einer angefangen.“

Dolores war den Rest des Abends ziemlich still. Angie und Bernie auch noch zu fragen, traute sie sich nicht. Die Stimmung war schon geladen genug.

Sie berichtete Carmen bei ihrer Heimkehr gegen zehn, die durchschnittliche Sexualfrequenz der Stammtischfrauen liege bei mindestens 2,5-mal Sex pro Woche.

„Tatsächlich?“

Dolores überlegte einen Moment. Sie nickte. Natürlich stimmte das nicht, aber andererseits war es auch nicht unwahrscheinlich, denn immerhin entsprach es den Ergebnissen dieser statistischen Erhebung und war nach Karins Angaben durchaus möglich.

„Na, prächtig!“ seufzte Carmen. „Dann sind wir also wirklich irgendwie gestört.“ Insgeheim wurmte es sie allerdings, dass Dolores’ Recherche wider alle Skepsis so klare Resultate erbracht hatte, und sie beschloss, nun auch selbst aktiv zu werden.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, grummelte Dolores, die mittlerweile sehr verunsichert war. „Wenn wir wirklich sexuell gestört sind, können wir uns ja entstören.“

„Aber nicht mehr heute abend, ich bin nämlich völlig k.o.“, sagte Carmen. Es klang sehr endgültig.

Damit war das Thema fürs erste beendet. Die Stunden vor dem Schlafengehen saßen die Frauen eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa und verfolgten einen kitschigen Spielfilm. Er handelte von einem Liebespaar, das viele Hürden überwinden musste, um zusammenzukommen. Als Held und Heldin es endlich geschafft hatten, versanken sie in einem leidenschaftlichen Kuss.

Hämisch bemerkte Carmen: „Ja, küsst euch nur! In zehn Jahren sprechen wir uns wieder. Mal sehen, wie es dann aussieht mit der Leidenschaft!“ Sie schaltete das Gerät aus und verschwand in ihrem Zimmer.

„Man muss auch gönnen können!“ rief ihr Dolores nach. Sie schüttelte den Kopf. War Carmen jetzt schon auf Filmliebhaber neidisch?

Carmen ließ das leidige Thema Sex keine Ruhe mehr. Sie hoffte auf das lesbisch-schwule Schwimmtraining am Mittwoch, um mehr herauszufinden. Das Training fand in einem städtischen Bad statt. Im letzten Winter hatte die Stadt renoviert. Seitdem gab es neben dem Becken massenweise exotische Palmen in Pflanzkübeln und die Zahl der BesucherInnen hatte stark zugenommen. Außerdem hatte man im ersten Stock eine großzügige Sauna eingerichtet. Es tat gut, nach dem Training in der Hitze die angespannten Muskeln zu lockern – vor allem im Winter. Das Becken war nach wie vor nur 25 Meter lang, was dem Ehrgeiz Grenzen setzte, und das Wasser chlorten die Bademeister so stark, dass sich die Augen schon nach wenigen Minuten röteten. Carmen trug wie alle eine Schwimmbrille, mit der sie, wie sie selbst fand, aussah wie ein Grottenolm. Außer Umkleideräumen, Sauna und Schwimmbecken gab es noch eine ziemlich trostlose Kneipe, die billig heiße Suppen und kühle Biere servierte. Dort kehrten die SchwimmerInnen manchmal ein.

Als Carmen sich endlich umgezogen hatte, strampelten die SchwimmerInnen schon mit flachen Plastikbrettern, die sie mit den Armen unter den Oberkörper geklemmt hatten, durchs Nass. Das war gut, um den Beinschlag zu üben. Carmen hasste diese Übung, bei der sie sich immer vorkam wie eine bleierne Ente. Sie war froh, sie diesmal aufgrund ihrer Verspätung zu verpassen.

Am Beckenrand stieß sie auf Sabine, mit der sie sich von allen hier am besten verstand. Sabine war groß, breitschultrig und braungebrannt, was im Sommer an ihrem Job als Aushilfsschwimmmeisterin und im Winter an regelmäßigen Solariumsbesuchen lag. Sie war ziemlich schnell im Wasser. „Wenn mein Busen nicht so groß wäre, hätte ich es bestimmt in die Nationalmannschaft geschafft“, hatte sie einmal kokett bemerkt, und das stimmte vielleicht sogar. Gelegentlich ertappte sich Carmen dabei, wie sie über Sabines Körbchengröße sinnierte. Gab es eigentlich E?

In der Liebe schien Sabine bisher weniger Glück gehabt zu haben. Immer wieder tauchten sportliche junge Frauen an ihrer Seite auf, die ein paar Monate später sang- und klanglos verschwanden. Aber trotzdem wirkte sie meistens wohlgelaunt und munter. Mit breitem Lächeln sah sie nun aus der herausfordernden Höhe ihrer 180 Zentimeter auf Carmen hinunter.

„Du siehst so ernst aus. Ist dir was über die Leber gelaufen?“ fragte sie.

Sabine war vielleicht nicht ganz die richtige Gesprächspartnerin, wenn es um sexuelle Probleme von Langzeitpartnerinnen ging, zweifelte Carmen. Trotzdem, sie würde es versuchen. „Findest du es normal, sich darüber Gedanken zu machen, wie oft in der Woche man miteinander schläft?“ fragte sie ziemlich unvermittelt.

Sabine musterte sie erstaunt. „Ich bin zur Zeit solo, da erübrigt sich das. Ich nehme es, wie es kommt.“

Carmen wusste, dass weiteres Fragen ihr hinsichtlich ihrer ureigen­sten Probleme nicht viel brauchbare Informationen bringen würde, aber sie konnte einfach nicht anders. Die Neugier war stärker als die Vernunft. „Und wie kommt es?“ insistierte sie daher.

Sabine grinste. „Ich verfolge gerade eine heiße Spur.“ Affektiert verdrehte sie die Augen. „Eine ganz Süße, kann ich dir sagen. Sie besucht mich heute Abend zum romantischen Dinner à deux, und vielleicht wird mehr daraus.“

Carmen seufzte. Nun musste sie sich auch noch Ergüsse über die romantischen Erlebnisse anderer anhören. Wo ihr so ganz und gar unromantisch zumute war! Aber sie hatte es ja nicht anders gewollt. „Bringst du sie mal mit zum Schwimmen?“ fragte sie höflichkeitshalber.

„Wahrscheinlich schon, wenn es klappt mit ihr. Sie ist nämlich auch eine Wasserratte. Und ansonsten mache ich das doch sowieso immer.“

„Bist du eigentlich verliebt in sie?“

„Ja, ich glaube schon. Aber vor allem macht sie mich an. Sie hat eine tolle Figur.“ Sabine malte mit beiden Händen schwungvolle Linien in die Luft.

„Also geht’s dir in erster Linie um Sex?“ Carmen waren ihre eigenen indiskreten Fragen peinlich, aber sie musste es einfach ganz genau wissen. Bestand das Geheimnis eines aufregenden Sexuallebens vielleicht doch darin, dass man es so machte wie Sabine: Nehmen, was kommt, statt was zu Hause wartete? Das freilich passte kaum zu ihrem bisherigen Leben mit Dolores.

„Was stellst du nur für komische Fragen! Und wenn es so wäre?“ Sabine zog die Brauen zusammen.

Carmen sah ein, dass die Fragerei nur dazu führte, dass sie selbst schlechte Laune bekam. „Ach nichts, ich meine nur. Ich muss jetzt ins Wasser, sonst schaffe ich heute noch nicht mal einen Kilometer.“

„Bis nachher. Kommst du noch mit in die Sauna?“ fragte Sabine.

„Ich glaube nicht.“ Carmen ließ sich ins Wasser gleiten. Sabine ging kopfschüttelnd von dannen, um sich auf einer der geheizten Steinbänke am Rand aufzuwärmen. Was war nur mit Carmen los?

Die dachte, während sie ihre Bahnen zog, permanent daran, dass Sabine anscheinend nichts als Sex im Kopf hatte. Und wenn Sabine diese Frau herumkriegen würde, dann würde sie es wahrscheinlich Tag und Nacht mit ihr treiben. Mindestens dreimal die Woche. Dann würde Sabine endgültig zu den oberen zwanzig Prozent der Statistik gehören, während sie und Dolores weiterhin ganz unten herumdümpelten.

Heftiger Neid durchflutete Carmen, während sie sich im Freistil durchs Wasser kämpfte. Es musste wirklich etwas geschehen! Aber was?

Als sie nach Hause kam, hatte sich Dolores bereits schlafen gelegt. Carmen war froh darüber, denn so musste sie an diesem Abend nicht weiter über das leidige Thema diskutieren.

Am Donnerstag ging Dolores wie üblich Tischtennis spielen. Dort traf sie Tom und Holger, zwei Freunde in den Anfangsvierzigern, deren Haupthaar bereits kräftige Geheimratsecken zierten. Tom war groß und schlacksig. Er trug eine Nickelbrille. Sein Geld verdiente er als Lehrer an einer Berufsschule. Der stämmige Holger, von Beruf Maschinenbauingenieur, hatte einen walrossartigen Schnauzbart, wodurch er mit seinem kleinen Bauch eher gemütlich wirkte. Aber wehe, er stand hinter der Tischtennisplatte! Dann flitzte er viel schneller hin und her, als man ihm aufgrund seiner Statur zugetraut hätte. Tom, Holger und Carmen waren die Senioren unter den sonst eher jugendlichen TischtennisspielerInnen bei den „Bunten Bällen“. Das Durchschnittsalter der Übrigen lag bei etwa 25.

„Hallo“, rief Holger zu ihr herüber, als Dolores in die Halle kam. „Hast du Lust auf einen flotten Dreier?“

Dolores zuckte zusammen. Flotter Dreier! Dachte denn alles um sie herum ununterbrochen nur noch an Sex? „Ich komme gleich!“ rief sie mürrisch durch den Saal und verzog sich in die Umkleidekabine.

Dolores spielte schlecht. Egal, ob sie mit einem der beiden Jungs zusammen oder allein auf ihrer Seite des Bretts stand, meistens verpasste sie die Bälle. Ihre Schnitte misslangen: Entweder flog die kleine Plastikkugel weit über den Rand der Platte oder blieb an der Netzkante hängen.

Dann holten die drei Sibylle, eine jüngere Spielerin, dazu und wagten ein gemischtes Doppel: Tom spielte mit Dolores gegen Holger und Sibylle. An sich waren die Teams etwa gleich stark – sie waren schon öfters gegeneinander angetreten. Aber diesmal konnte sich Dolores nicht konzentrieren. Sie verschlug todsichere Bälle, so dass das Spiel für sie und Tom haushoch verloren ging.

„Menschenskind, was ist denn heute mit dir los? Liebeskummer?“ fragte Tom ungehalten.

„Tut mir Leid. Aber ich habe keine Lust. Ich höre besser auf für heute“, sagte Dolores.

Tom musterte sie besorgt. Irgend etwas stimmte nicht. „Gehst du noch auf ein Bier mit uns ins Beauty Queen?“

Dolores mochte die Kneipe nicht besonders, denn sie wurde hauptsächlich von schwulen Jungmännern frequentiert. Tom und Holger starrten die Gästeschar mit hungrigen Blicken an, während die jungen Gays Dolores behandelten, als wäre sie Luft, und zwar schlechte. Nirgends wurde sie so oft angerempelt und zur Seite geschoben. Tom und Holger waren eben potentielle Sexobjekte, obwohl schon etwas ältlich, wohingegen sie noch nicht mal im Traum für so etwas in Frage kam. Es sei denn, es hätte sich ein versprengter Bi in dem Etablissement befunden. Aber auf den hätte wiederum sie keine Lust. Wenn sie dennoch mitging, dann weil sie hoffte, dass sie mit den beiden vielleicht offener über ihr derzeitiges Lieblingsthema reden könnte als mit den Stammtischfrauen. Also nickte sie und wartete vor der Hallentür.

Gemeinsam fuhren die drei ein paar Stationen mit der U-Bahn und quetschten sich dann in die überfüllte Bar, in der es nach den verschiedensten Rasierwasservarianten duftete. Dolores konnte außer sich selbst keine einzige Frau entdecken.

„Heute bin ich also wieder die Alibi-Lesbe“, sagte sie seufzend.

„Stört dich das? Hattest du etwa noch was vor?“ frotzelte Tom.