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Ich widme dieses Buch allen, die Spaß am Sex haben, und ich möchte denen danken, die mich unterstützt haben, dieses Projekt zu verwirklichen.

© Querverlag GmbH, Berlin 1998

Erste Auflage März 1998

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und graphische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie vor Renegade Studios

ISBN 978-3-89656-613-3

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Blanche: „Mein Leben ist ein Liebesroman!“

Dorothy: „Ach Quatsch! Dein Leben ist ein Gymnastikbuch!“

Golden Girls

Die Pornomaschine

Vorwort

Holger und ich lernten uns im Frühjahr 1996 kennen, wenige Monate nach seiner unfreiwilligen Rückkehr aus Kalifornien. Ich interviewte ihn für ein schwules Magazin, und er erzählte mir von seiner Idee, ein Buch über seine Erlebnisse in der Pornowelt zu schreiben.

Ehrlich gesagt war ich zu Anfang ein wenig skeptisch. Bekenntnisbücher der sexuellen Sorte sind mittlerweile so zahlreich wie die Callboy-Anzeigen in Stadtmagazinen und meist wenig erhellend. Ich habe es getan und stehe dazu! – das genügt schon längst nicht mehr, um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch in unseren Gesprächen merkte ich schnell, daß es ihm nicht alleine darum ging, sich die spannendste Zeit seines Lebens von der Seele zu schreiben. Holger hatte einen umfassenden Einblick in das gewaltige amerikanische Porno­busineß – und den anderen, den deutschen Blick darauf. Dazu kommen seine Fähigkeit zur Analyse und sein trockener, pointierter Humor. All das machte mir klar, daß es bei diesem Projekt um mehr ging als nur um Bekenntnisse.

Richtig spannend wurde es für uns ein halbes Jahr später. Ich hatte beschlossen, selbst nach Kalifornien zu ziehen, um von dort aus für die Sendung liebe sünde über die amerikanische Sexindustrie zu berichten. Die Idee, gemeinsam dieses Buch zu schreiben, bekam nun eine neue, geographisch bedingte Dimension. Von Berlin aus würde Holger im Rückblick seine Zeit als Wolff niederschreiben, während ich mich in San Francisco und Los Angeles mit all jenen Menschen traf, die damals sein Leben bestimmten und die Orte besuchte, an denen er sich aufgehalten hatte. Tatsächlich führte mich einer meiner ersten Fernsehbeiträge zu Sharon Kane, die eng mit „Wolff“ befreundet war. Holgers persönliche Erfahrungen und die Möglichkeit intensiver Recherchen vor Ort – das war zusammen allemal genug für ein Buch zum Thema Schwulenporno in Hollywood. Es entstand in langen Internet-Sitzungen und E-Mail-Arien, in denen wir beide mehr über Computer gelernt haben, als wir je wissen wollten.

Am Ende ist mehr dabei herausgekommen als ein einfacher Erlebnisbericht. Dieses Buch bietet einen tiefen Einblick in die kalifornische Pornomaschine. Und das ist gut so, denn für die Bedeutung, die der Pornofilm in der schwulen Kultur genießt, gibt es erschreckend wenig Literatur zum Thema. Und wenn, dann sind es entweder langatmige akademische Abhandlungen oder aber Publikationen, die selbst den Stempel pornographisch verdienen. Dieses Buch versucht eine Lücke zu schließen, einem breiten Publikum verständlich und unterhaltsam die Gesetze des Pornogeschäfts näherzubringen – aus der Sicht seiner Macher. Das schließt eine kritische Auseinandersetzung damit nicht aus – ganz im Gegenteil! Weder Holger noch die anderen Interviewpartner in diesem Buch haben es nötig, nur freundlich mit ihrem Busineß umzugehen. Und sie nehmen kein Blatt vor den Mund.

Das war übrigens keine überraschende Erfahrung für mich. Seit vier Jahren arbeite ich journalistisch fast ausschließlich rund um die Sex-Industrie, und in keinem anderen Bereich habe ich mehr ehrliche Menschen kennengelernt – jedenfalls nicht während meiner Arbeit in Politik-Redaktionen. Politiker müssen irgendwann anfangen, auch sich selbst zu belügen – oder sie gehen an ihrem Beruf kaputt. Aus dem gleichen Grund muß man als SexarbeiterIn sich selbst gegen­über eine gewisse Ehrlichkeit entwickeln. Das ist der Unterschied. All den Callboys und Huren, Stripperinnen und Porno­darstellern, die im wahrsten Sinne des Wortes ihren Arsch hinhalten müssen, möchte ich ein kleines Dankeschön aussprechen. Danke dafür, daß sie eine harte Arbeit für vergleichsweise wenig Geld machen, die ihnen keine gesellschaftliche Anerkennung und kaum Sicherheiten bietet. Es wird Zeit, daß sich das ändert!

Die Arbeit an diesem Buch hat mir außerordentlichen Spaß gemacht, und ich wette, dieser Spaß vermittelt sich auch beim Lesen. Denn Sex hat in allererster Linie mit Spaß zu tun. Wenn neben all den Anekdoten, die Holger so herzhaft erzählen kann, am Ende auch noch ein bißchen Verständnis für Schwulenporno hängenbleibt, dann hat sich unsere Arbeit gelohnt. Ob Pornofan oder Pornohasser: Mit diesem Buch bist du für die nächsten Gespräche zum Thema auf das Beste gewappnet. Und wetten? Sie kommen bestimmt!

Dirk Ludigs

San Francisco im Februar 1998

Mein Körper, mein Kapital

Einleitung

Vielleicht werde ich eines Tages meine Memoiren schreiben. Dann wird Wolff, der Pornoimport, allenfalls ein Kapitel bekommen, und das ist gut so, denn deine Zeit als Pornostar ist begrenzt. Wenn du nach anderthalb Jahren nicht oben stehst, wirst du es nie schaffen. Und wenn du nach zehn Jahren immer noch im Geschäft bist, wirst du irgendwann tiefer unten sein, als dir lieb ist. Nach zweieinhalb Jahren wurde ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere herausgerissen, und nachträglich betrachtet bin ich froh darüber.

Du kannst nicht beliebig oft vor dem Whirlpool, auf dem Küchentisch, vor dem Kamin oder im Schlafzimmer herumlümmeln, ohne daß dein Publikum dich schon überall fickenderweise gesehen hat, denn es gibt nur einen begrenzten Vorrat an kommerziell ausbeutbaren Stellungen und Situationen. Als Pornostar ist es eigentlich egal, ob du gut oder schlecht bist – am Ende ist immer nur dein Körper dein Kapital. Du bist das Futter für die Kameras, für die Porno­maschine, die endlos weiter feuchte Träume produziert für den immer wachsenden Bedarf.

Ich war ein Pornostar, weil meine Fans mich sehen wollten und ich Lust hatte, meinen Körper zur Schau zu stellen. Fehlt eine der beiden Komponenten, wird es nichts mit deiner Karriere in der Branche.

Eines wird in diesem Buch nicht vorkommen: eine moralische Wertung der Industrie, in der ich gern gutes Geld verdient habe. Das überlasse ich lieber den Scharen selbsternannter Experten zum Thema: Pfarrern, Politikern, Journalisten und Soziologen. Was der übergroßen Mehrheit dieser Kritiker und Analytiker allerdings allzuoft entgeht, ist ein Blick hinter die Kulissen. Wenn sie sich dem „Phänomen“ nähern, wissen sie meistens bereits, was sie davon zu halten haben, und stellen die Fragen passend zu ihren vorgefertigten Antworten.

Wer dieses Buch liest, weiß am Ende mehr – vielleicht mehr als ihm lieb ist – über die größte schwule Pornoindustrie der Welt, auf jeden Fall genug, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Es ist ein Erlebnisbericht über die Zeit, in der ich Wolff war. Wolff, der Pornostar.

Und das ist, verdammt nochmal, spannend genug.

Vor fünfzehn Jahren hätte ein Verlag dieses Buch wahrscheinlich noch als „Beichte eines gefallenen Engels“ oder so ähnlich vermarktet. Genau drei Dinge daran wären falsch. Erstens: Kein Pornostar, ob männlich oder weiblich, war je ein Engel, und niemand mußte mir die Flügel amputieren, damit ich vor der Kamera Sex machen konnte. Zweitens: Niemand fällt in dieses Busineß. Der Pornokarriere geht immer eine bewußte Entscheidung voraus. Manche sind vielleicht sehr jung oder unerfahren, wenn sie anfangen, Pornos zu drehen, oder sie stellen fest, daß es nicht das Richtige für sie ist. Aber das gleiche könnte ihnen auch mit einer Schrei­nerlehre passieren. Drittens: Ein Bericht über einen Beruf in der Sexindustrie ist keine Beichte. Meine Motive, dieses Buch zu schreiben, sind vielfältig – aber Vergebung für meine Sünden zu erhalten gehört nicht dazu.

Eine Branche zu beschreiben, und gelegentlich auch zu entmystifizieren, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren unsere Sexualität und damit unser Leben entscheidend beeinflußt hat – dazu braucht es keine Beichten und keine gefallenen Engel. Ich sage es mal frei heraus: Ich hatte Sex mit den heißesten Männern Hollywoods, bin dafür gut bezahlt worden und habe eine Sammlung von Erinnerungsvideos zu Hause im Wohnzimmerregal. Das erfüllt mich mit Stolz und Zufriedenheit. Was, lieber Leser, war denn dein geilstes Sex-Erlebnis?

Genau deshalb wollen natürlich alle Homos heimlich Porno­star werden. Und darum schauen sie unendlich viele Videos an, prägen sich die wichtigsten Stellungen und Sätze ein (oh, yeah, fuck me harder, baby, oh!) und antworten gelegentlich auf Anzeigen wie: „Seriöse Pornoproduktion in Holly­wood sucht engagierten Darsteller mit abgeschlossenem Studium der Pornographie oder vergleichbarem Hochschulabschluß.“

Warum schaffen es dann nur die wenigsten, ein Pornostar zu werden?

Natürlich, weil sie vor ihren eigenen Fantasien Angst haben. Weil sie es nicht gelernt haben, mit ihrer Sexualität anders umzugehen als alle anderen. Weil sie nicht leben, was sie sich wünschen. Das ist okay. Das sind genau die Leute, von denen das Busineß profitiert, denen es die Sehnsüchte 90-minutenweise verkauft. Die große „sexuelle Befreiung“ der letzten dreißig Jahre hat vielleicht nicht allzuviel von der Unterdrückung der Sexualität in unserer Gesellschaft und in uns selbst abgeschafft, dafür aber um so mehr eine weltweite Industrie entstehen lassen, die uns mit den Mittelchen versorgt, um unsere Frustration zu vergessen. Das kann man bedauern, man kann sich aber auch darüber freuen, daß es diese Mittel wenigstens legal zu kaufen gibt. Und Arbeitsplätze werden damit auch geschaffen, meiner zum Beispiel.

Wer ein Pornostar werden will, braucht zumindest einen geilen Körper, einen dicken Schwanz und muß dazu folgende Fragen mit Ja beantworten können:

1. Macht es dich geil, wenn andere dir beim Ficken zuschauen?

2. Bist du dir im klaren, daß du mit Männern für Geld schlafen wirst?

3. Kriegst du auf Kommando einen hoch?

Ich habe im Pornobusineß auch Leute getroffen, die sich diese Fragen vielleicht nie richtig gestellt haben, und wenn, dann hätten sie sie mit Nein beantworten müssen. Das sind oftmals dieselben Leute, die ihre unverarbeiteten Probleme in Suff und Drogen ertränken – die Minderheit der tragischen Figuren im Hollywood-Porno. Es sind jene, die ob der gesellschaftlichen Ächtung, dem Verschweigen der eigenen Familie gegenüber oder dem Zwiespalt zwischen ihrem Tun und ihren persönlichen Moralvorstellungen seelisch zerbrechen. Nicht der Beruf selbst hat sie dazu gemacht, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeit ausführen müssen!

Als Deutscher hatte ich es in einigen Punkten sicherlich leichter als meine amerikanischen Kollegen. Ich mußte nicht mit dieser unglaublichen Doppelmoral und Prüderie kämpfen, die Amerikas Erziehung beherrscht, diesem lärmenden Schweigen zum Thema Sex. In den USA wird dir ständig Sex um die Ohren gehauen in Form von gebetsmühlenartig wiederholten Tabus: Kein Sex unter Teenagern, kein Sex in der Öffentlichkeit. In manchen Staaten der USA ist selbst Oralverkehr verboten. Wie weit die Hysterie reicht, zeigt ein Beispiel: Während dieses Buch entstand, mußte in Kalifornien ein TV-Spot über Brustkrebs-Früherkennung vom Äther genommen werden, weil ein nackter Busen zu sehen war. Die Fernsehdirektorin erklärte, der Film sei höchstens geeignet, in der Privatheit des eigenen Wohnzimmers betrachtet zu werden. Dazu meine Frage: Wo steht denn Ihr Fernsehgerät?

Die USA haben die höchste Quote an Geschlechtskrankheiten und Teenagerschwangerschaften weltweit, die miserabelste Sexualaufklärung und die strengsten Sexualgesetze der westlichen Welt. Gleichzeitig entsteht im San Fernando Valley nördlich von Hollywood neunzig Prozent der weltweiten Pornoproduktion.

Das ist natürlich kein Widerspruch, sondern nur marktwirtschaftlich konsequent. Die Widersprüche sitzen nämlich in den Köpfen der Amerikaner und bringen manchen meiner US-Kollegen innerlich zur Verzweifelung. Einige wenige gehen auch daran zugrunde.

Umgekehrt war das einer meiner größten Vorteile. Die vergleichsweise liberale deutsche Haltung zum Sex hat mir schnell den Ruf eingebracht, uninhibited zu sein, unverkrampft also – oder einfacher: eine geile Sau! Und das sollte man sein, wenn man es im Porno zu etwas bringen will.

Ich habe immer gerne gevögelt, und wenn es Leute glücklich macht, mir dabei zuzusehen und ich damit mein Geld verdienen kann, dann ist das doch eine optimale Lösung. Sex war nie ein Fremdwort für mich, und so bin ich die Sache auch angegangen.

In Los Angeles habe ich als Pornodarsteller gearbeitet – L.A., Stadt der Sonne, Stadt des Pornos, „Stadt der verlorenen Engel“, wie sie liebevoll und schmerzhaft genannt wird. Ein Ort der Wärme, an dem die Menschen aber sehr kalt miteinander umgehen. Jeder, der nach Los Angeles geht, legt sich eine Fassade zu, ein vermeintlich besseres Ich, mit dem man die eigenen kleinen Unzulänglichkeiten zu vertuschen versucht. So entstand auch Wolff. Danach muß man diese Fassade nur noch gut verkaufen.

Wolff gab mir die Möglichkeit, Sex in der Öffentlichkeit zu haben und Holgers Fantasien umzusetzen. Alles, was Wolff erlebte, hat sich mir fest in die Erinnerung gebrannt und ist Teil meiner, Holgers, Realität geworden. Ohne Wolff wären es lediglich Traumsequenzen geblieben. Dafür bin ich meinem Alter ego dankbar. Doch im Grunde hat Wolff nichts getan, was Holger nicht gewollt hätte. Und das ist vielleicht das einzige, was uns beide von Dr. Jekyll und Mr. Hyde unterscheidet.

Noch ein Wort zum Busineß, bevor ich anfange, über meine Zeit als Pornodarsteller auszupacken. Nur damit keine falschen Erwartungen aufkommen: Porno ist ein Geschäft und funktioniert nach den Regeln der Geschäftswelt. Das heißt: Die meisten Pornoproduktionen werden am Tage gedreht. Um neun oder zehn Uhr morgens ist wake up call, Weckdienst also. Wie in jedem anderen Gewerbe gibt es im Pornobusineß Angestellte, die ihre acht Stunden arbeiten, manchmal auch zehn oder zwölf. Der ganze Alltag ist wenig glamourös; es ist halt ein Job wie überall. Wer erfolgreich sein will, muß sich auf seine Arbeit konzentrieren.

Die Konzentration ist ein verdammt wichtiger Faktor. Wenn du mit deinem Partner am Set Sex hast, dann mußt du dich auf ihn fokussieren, oder du kriegst keinen hoch. Letztendlich ist es ein sehr intimer Moment, in dem alles andere seine Bedeutung verliert. Ich habe mich in diesen Situationen immer nur um das gekümmert, was mir wichtig schien, und das waren eben meine Partner. Wenn ich an nichts anderes denke, kann nichts schiefgehen. Ich hatte nicht selten Szenen, bei denen dreißig oder mehr Leute um uns herumstanden und zuschauten. Das machte mir aber nichts aus, weil ich mit meinem Partner allein war in unserer Welt. Ich habe immer wieder gesagt: Ich kann mir auf dem Mittelstreifen einer Autobahn einen runterholen, denn wenn ich geil bin, interessieren mich die vorbeifahrenden Autos nicht.

Diese Fähigkeit, sich selbst zu befriedigen, ist auch Voraussetzung dafür, andere zu befriedigen: deinen Partner zu Hause, deinen Partner am Set und letztlich auch den Zuschauer. Und diese Fähigkeit ist ein Talent, das einen Pornodarsteller wirklich auszeichnet.

Die zweite Fähigkeit heißt: zu wissen, wann Schluß ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich gewußt hätte oder ob ich mich hätte verschleißen lassen wie die Eisprinzessin, die am Ende nur noch in billigen Revuen in der dritten Reihe tanzt. Doch Gott sei Dank mußte ich die Entscheidung nicht selbst treffen.

Sie wurde für mich gefällt.

Ein Ende als Anfang

Prolog

Ich habe nie herausgefunden, wer mich verraten hat. Nicht viele wußten, daß ich ein illegal alien war und daß ich weder ein Visum, noch eine Arbeitserlaubnis für die Vereinigten Staaten von Amerika besaß. Selbst ich hatte es nach all der Zeit vergessen. Bis zu diesem Moment.

Draußen war es noch dunkel – der Morgen nach Thanksgiving: der Tag, an dem ganz Amerika lange schläft. Von ferne drang ein Klopfen in meinen Traum. Nackt und noch halb im Schlaf kroch ich aus dem Bett, Zimmer 206, Allison Hotel, San Francisco. Ich riß die Tür auf, bereit, wen auch immer anzubrüllen, er habe sich wohl in der Zeitzone geirrt.

„Immigration!“ bellte mir jemand entgegen. Einwanderungsbehörde! „Holger Zill, you are under arrest!“ Holger? So hatte mich lange keiner mehr genannt. Sie kamen zu dritt, und einer fing an, mir meine Rechte vorzulesen. Ich stand fassungslos da, die Hände vorm Schwanz – und im Bruchteil einer Sekunde hellwach. Ich konnte nicht glauben, daß man mich nach einer stressigen Woche mit 28 Stripshows am Morgen nach einem nationalen Feiertag verhaftete. Hätten sie nicht bis Montag warten können?

Die drei Herren machten mir klar, daß ich mich noch schnell anziehen sollte. Pulli, Hose und Schuhe ohne Socken, zu mehr kam ich nicht. Die Haare standen mir zu Berge, und gerade noch rechtzeitig, bevor sie mir Handschellen anlegten, konnte ich nach meiner Sonnenbrille greifen. So wurde ich wenigstens mit Stil durch die Hotelhalle geführt.

Die Einwanderungsbehörde ist nicht viel mehr als ein einziges Stockwerk eines Bürogebäudes in der Innenstadt von San Francisco. Sie sperrten mich in eine vollklimatisierte Zelle neben den Büros ein – in eine Eistruhe, besser gesagt. Ich sollte bald lernen, daß die amerikanischen Vollzugsbehörden ihre Klimaanlagen als Waffen benutzen: Damit stellen sie dich kalt! Allerdings hat das einen Vorteil: Wer friert, spürt den Hunger nicht. Bibbernd und völlig übermüdet erfuhr ich nach einigen Stunden, daß es mit meinen Papieren länger dauern würde.

Meine Papiere? Ich hatte keine Ahnung, was die Herren von der Immigration damit meinten. Erklären wollten sie es mir auch nicht, und so fügte ich mich in mein Schicksal. Mir wurde gesagt, daß ich nicht in San Francisco, sondern im Knast von Santa Rosa übernachten würde, von dort würde man mich am nächsten Tag abholen. So wurde ich mit zehn anderen, brav zwei an zwei gekettet, in einen vergitterten Polizeibus gebracht. Dort saßen wir, abgefertigt wie ein Stück Fleisch – und ich mußte daran denken, wie teuer ich das am Vorabend noch verkauft hatte.

Der Bus war völlig überheizt, und binnen Minuten schlief ich ein. Ein unsanftes Rütteln weckte mich und meine zumeist mexikanischen Schicksalsgenossen. Wir waren angekommen.

Das Alameda County Jail in Santa Rosa liegt knapp eine Stunde östlich von San Francisco hinter einer Bergkette auf der anderen Seite der Bucht; ein Neubau aus den siebziger Jahren, keine fünf Minuten vom Highway, doch in einer Senke so gut versteckt, daß man es von der Autobahn aus nicht sehen kann. Endlose Gänge, Gitter, und wieder Gänge. In einer Art Aufnahmehalle mußte ich meine Fingerabdrücke hinterlassen und meine Klamotten obendrein. Ich zog mich aus, und alle schauten hin, aber keiner gab Trinkgeld. Stattdessen warfen sie mir ihre Anstaltsklamotten auf den Tisch: eine übergroße gelbe Leinenhose, ein kurzärmeliges Oberteil im gleichen Farbton mit V-Ausschnitt und Nummer und zwei häßliche Plastiklatschen, einer grün, einer gelb: ein Verbrechen! Und wie ein Verbrecher sah ich auch aus! In diesem lächerlichen Kostüm verbrachte ich meine letzten zehn Tage in den USA.

„Sind Sie schwul?“ Völlig desinteressiert rasselte die Vollzugsbeamtin den Fragenkatalog runter.

„Ja!“ antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Wir werden Sie dann besser zu Ihrem eigenen Schutz in Einzelhaft nehmen, Mr. Zill.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Im offenen Vollzug könne man für meine Sicherheit nicht garantieren, war die Begründung. Was für eine Farce!

Am nächsten Morgen holte mich niemand ab, wie die Beamten von der Einwanderungsbehörde eigentlich versprochen hatten, also fragte ich nach: „Wann kommen die Typen von der Immigration zurück?“

„Diese Frage müssen Sie schriftlich einreichen.“

„Dazu brauche ich Papier und Bleistift!“

„Das müssen Sie schriftlich beantragen!“ In der Stimme des Beamten lag Feindseligkeit. Er hatte offenbar beschlossen, es mir so schwer wie möglich zu machen. Keine Frage: Die Wärter dachten natürlich, ich sei ein Schwerverbrecher wie angeblich alle anderen, die in diesem Trakt in Einzelhaft saßen.

Einzelhaft. Dreiundzwanzig Stunden am Tag alleine in einer viel zu kalten Zelle. Ununterbrochen Schreie, Jammern und Brüllen von Mitgefangenen von irgendwoher. Es machte mich langsam wahnsinnig. Ich werde in diesem Loch einfach vergessen und irgendwann sterben, soviel war klar.

Am zweiten Tag noch immer keine Antwort, kein Stift, kein Papier. Aber eine Stimme. Eine weibliche Stimme, die fragte, ob ich für eine Stunde aus der Zelle wolle. Ich antwortete mit Ja, und meine Tür sprang auf.

Ich durfte duschen und telefonieren. Sofort rief ich meinen besten Freund und Pornokollegen Adrian Gronsky in San Francisco an. Er wußte schon alles, hatte meine Sachen aus dem Hotel gerettet und wollte mich besuchen kommen. So ein Engel! Auf dem Weg zurück zur Zelle sagte mir einer der Wärter, es könnte im schlimmsten Falle drei Monate dauern, bis meine Papiere beisammen wären. Drei Monate!

Adrian kam, und mit ihm kehrte ein bißchen Freude in mein Leben zurück. Wir saßen uns gegenüber in einer von mehreren, mit dünnen Spanplatten voneinander abgetrennten Kabinen, schußsicheres Glas zwischen uns. Reden ging nur mit Hilfe einer Telefonanlage, und zu diesem Zweck hatte man mir die Handschellen abgenommen. Doch der Typ neben uns schrie unentwegt auf Spanisch, und ich verstand kein Wort von dem, was Adrian sagte, bis ich schließlich heftig gegen die Trennwand hämmerte und brüllte: „Halt endlich dein verficktes Maul!“ Es half.

Adrian hatte eine Anwältin schon eingeschaltet, die ihm zwar gleich sagte, daß ich keine Chance hätte, im Land zu bleiben, wohl aber meinte, sie könne die Auslieferung beschleunigen. Wohl denn! Jeder Tag länger in dieser Zelle war einer zuviel.

Wenn ich mir vorstelle, lebenslänglich in so einem Loch zuzubringen – ich denke, es wäre der seelische Tod! Ich begann zu meditieren, und es half mir dabei, nicht durchzudrehen. Ab dem dritten Tag versorgte mich eine Angestellte der Gefängnisbücherei mit Lesestoff. Ich habe noch nie in meinem Leben in so kurzer Zeit so viele Bücher gelesen.

Am zehnten Tag um drei Uhr dreißig in der Früh zerrte man mich aus der Zelle. Genauer gesagt: Ich mußte meine Hände rückwärts aus der Luke der Zellentür halten, und erst, nachdem die Handschellen angelegt waren, öffnete sich die Tür.

Es dauerte wiederum Stunden, bis ich meine eigenen Klamotten am Leibe hatte, und wir fuhren zur Einwanderungsbehörde zurück, wieder zwei an zwei gekettet. Ich fand mich mit einem Deutschen wieder, einem Mechaniker, den sie auf einem Schiff verhaftet hatten.

Die Behörde konfiszierte meine letzten zweihundert Dollar und zahlte die fehlende Summe für das Flugticket nach Frankfurt aus dem amerikanischen Staatssäckel. Ich aber wollte nach Berlin, denn was sollte ich in Frankfurt ohne einen Pfennig Geld?

Nils aus Hamburg, der andere Deutsche, lieh mir freundlicherweise die nötigen zweihundert Mark, um meinen Flug umzubuchen. Bis heute hatte ich keine Möglichkeit, ihm diese Ehrenschulden zurückzuzahlen, denn er hat sich nie bei mir gemeldet, und ich habe seine Telefonnummer verloren. Wenn du dieses Buch liest, lieber Nils, dann ruf mich bitte an! Hier wartet Geld auf dich!

In Handschellen betraten wir das Flugzeug; erst in London wurden mir meine Papiere von einer Stewardeß überreicht. Ich kam in Berlin an mit dem, was ich am Leib trug, und ohne jegliches Gepäck. Die Nummer eines Freundes hatte ich aber Gott sei Dank noch im Kopf.

„Rate mal, wer in der Stadt ist?“ fragte ich am Telefon.

„Holger?“ hörte ich eine ungläubige Stimme.

„Ja. Was machst du gerade? Darf ich vorbeikommen?“

Ich durfte. Drei Monate sollte ich in seiner Wohnung bleiben, bis ich in Berlin wieder Fuß gefaßt hatte.

Ich legte den Hörer auf und verließ das Flughafengebäude, um mich auf dem Absatz wieder umzudrehen. Es waren minus achtzehn Grad draußen! Nach drei Jahren Kalifornien hatte ich keine Ahnung mehr, was diese Temperatur bedeutet.

Ich zog meine Jacke an und kämpfte mich durch die Kälte zum Taxistand. In diesem Moment fing es doch tatsächlich an zu schneien. Ich zurrte die Jacke fester zu und winkte ein Taxi heran. „Kein Wetter für Wolff“, dachte ich. Doch der junge Mann, der nach Berlin zurückkam, hieß einfach wieder Holger.

Frei wie ein Vogel

Erstes Kapitel