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Jacky Dreksler

Ich wünsch dir ein glückliches Leben

Das Leid meiner Mutter und ihr Geschenk an mich

Für meine Töchter
Noemi und Noelani

Morgen, morgen schreibe ich

meine Träume auf und sehe,

wie in der Vergangenheit

der Schmutz in meinen Eingeweiden,

im Rückenmark, im Hirn

begonnen hat zu faulen

und zu Gift geronnen ist.

Morgen werde ich dann wissen,

wie es heißt, woher es kommt,

und wenn ich erst den Namen kenne,

bringt dies Gift mich nicht mehr um.

Hannes Wader,

»Unterwegs nach Süden«

Jüdisches Bauchgrummeln

Geboren bin ich im Gefängnis. In einem gelb-grauen Steinkasten in den südlichen banlieues von Paris, 1946, ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Mutter war eine polnische Jüdin, mein Vater ein französischer Jude. Ihn habe ich nie kennengelernt. Ein Jahr lang war ich hinter Gittern, die nächsten drei in deutschen und französischen Kinderheimen.

Aufgewachsen bin ich in einem deutschen Gefängnis. Keins aus wirklichen Mauern und Gittern. Das Gefängnis bestand aus unsichtbaren Wänden der Unterdrückung, die meine christliche Pflegemutter um mich herum erbaute, nachdem meine Mutter gestorben war, als ich neun war; und es bestand aus den jüdischen Gittern in meinem Kopf, durch die ich die Welt betrachtete, bis ich ein junger Mann war.

Dies ist eine jüdische Geschichte. Die wahre Geschichte dreier Menschen, jeder beschädigt vom Gift der Nazis, jeder auf eigene Weise. Drei Menschen – drei Teile:

Im ersten Teil dieses Buches geht es um die Geschichte meiner jüdischen Mutter Fela. Die Anstifter des Zweiten Weltkriegs haben sie durch zwei Ghettos und zwei Konzentrationslager getrieben; die Sieger haben sie Anfang Mai 1945 befreit und in Paris schon einen Monat später wieder eingesperrt, weil sie in Auschwitz Mitgefangene misshandelt haben soll.

Der zweite Teil handelt von der Geschichte meiner christlichen Pflegemutter. Sie war Mamis Gefängniswärterin in einem deutschen Gefängnis, suchte Zeugen für die Unschuld meiner Mutter, holte die todkranke Frau nach der Begnadigung in ihre Wohnung, pflegte sie bis zum Ende und zog mich weiter auf. Bis ich entdeckte, dass sie ein Gebäude aus halben Wahrheiten und ganzen Lügen gemauert hatte und dass sie ein glühender Nazi gewesen war.

Und der dritte Teil ist die Geschichte eines Jungen, der schon mit fünf bei Kakao und Marmeladenbrötchen von seiner Mutter lernte, wie lange Juden in der Gaskammer nach Luft schnappen, eines Jungen, an dem zwei Religionen zerrten und der von seiner Pflegemutter eingesperrt und ausgebeutet wurde, der von seiner Mutter auf dem Sterbebett den Auftrag erhielt, glücklich zu werden – meine Geschichte.

Ich bin Jude

Meinen Freund Hugo Egon Balder lernte ich 1983 beim Radio kennen, sieben Jahre vor Beginn seiner Fernsehkarriere. Wir waren Gag-Autoren und sollten Witziges zu aktuellen News basteln. Meine Begrüßung überraschte Hugo: »Hi, ich bin Jacky … Sag mal, bist du etwa Jude?«

In den Augen des Berliners glitzert Adrenalin. Aber der Schillertheater-Schauspieler hat sich im Griff: gepflegtes Zusammenzucken, entspanntes Lächeln, ein Zug an der Reyno: »Ja, ick bin Jude. Haste wat jejen Juden?«

Ich halte ihm mein Feuerzeug ans Ohr – zisschhh: »Ja, Gas.«

»Na, dann Schalömchen«, lacht Hugo und highfived mich, »noch ’n Judenbengel!«

Woran haben wir uns erkannt? Der alte SS-Kalauer war für Hugo ein untrügliches Kennzeichen: Nur Nazis machen solche geschmacklosen Witze – und Juden. Öffentlich nur Juden. Und nur Nazis und Juden würden – wie ich – die beiden winzigen Silberwinkel, die am Ende eines Kettchens aus Hugos T-Shirt lugten, sofort zu einem vollständigen Davidstern ergänzen. Nazis und Juden können Juden »riechen«.

Hugo lächelt: »Der Führer hätte seine Freude an dir gehabt. Meine Mutter war in Theresienstadt. Und deine?«

»Auschwitz.«

»Auch nicht schlecht«, sagt Hugo anerkennend nickend, »und wie hat’s ihr gefallen?«

»Na ja, sie haben halt viel gelacht.«

Comedy ist Schmerz und Wahrheit!1 – Warum nur neigen Juden wie Hugo und ich zu dieser bemüht lockeren Form ironischer Vergangenheitsbewältigung? Unsere Mütter verloren im KZ ihre Würde und ihre Familien. Und wir Söhne spielen die Eiche, die es nicht kümmert, wenn ein Schwein sich an ihr kratzt.

Vielleicht sind wir, was Jean-Paul Sartre in seinem 1944 veröffentlichten Essay Überlegungen zur Judenfrage als »unauthentischen Juden« typisiert hat: Er stehe abseits, sei zwischen Demütigung, Furcht und Stolz hin- und hergerissen, aber »was er auch tun mag, in den Augen der anderen ist er und bleibt er Jude«. So entwickele er einen Minderwertigkeitskomplex und die Angst, jüdisch zu fühlen, zu handeln und zu denken. Er lebe nicht authentisch, sondern reflexiv: »Er sieht sich handeln, er sieht sich denken.« Und er entwickele – wie Hugo und ich – eine zuweilen masochistische jüdische Ironie, »die meistens auf Kosten des Juden selbst geht und der ständige Versuch ist, sich von außen zu sehen«. Der unauthentische Jude wolle »alle Bande mit der jüdischen Gemeinschaft … zerreißen und findet sie dennoch in der Tiefe seines Herzens wieder«. Laut Sartre spielen Juden das zynische Spiel, gar keine Juden zu sein – wie Hugo und ich.2

In seinen Memoiren Ich habe mich gewarnt erzählt Hugo, wie es weiterging:

Schnell stellten wir fest, daß […] wir über die gleichen Dinge lachen konnten – und daß wir beide nichtpraktizierende Juden waren, was zumindest die Sache mit dem Humor erklären konnte. Wir hatten das Gefühl, uns schon eine Ewigkeit zu kennen.3

Wir wurden Freunde, arbeiteten viel zusammen und produzierten gemeinsam über zweihundert TV-Unterhaltungssendungen. Darunter von 1993 bis 1998 RTL Samstag Nacht, die Kult-Comedy der Neunziger.

Eine jüdische Freundschaft unter erklärten Nichtjuden. Hugos Gefühl, dass wir uns schon »eine Ewigkeit« kennen, entspringt wohl dem Wissen, dass der andere im gleichen Teufelskreis reflektierender Reflexionen umherirrt wie man selbst – wie ein Chamäleon in einem Spiegelkabinett.

So ein rekursiv sozialisiertes Hirn ist allerdings im Comedybereich durchaus nützlich. Wie heißt der alte Spruch aus der Zeit der amerikanischen Vaudeville- und Radiocomedy? You don’t have to be Jewish, but it helps.

Eine typisch jüdische Sentenz der Selbstvergewisserung – Hybris im Gewand der Bescheidenheit. Warum sind Juden stolz auf sich? Im Internet heißt es: »Ein Jude ist stolz, ein Jude zu sein, denn wäre er nicht stolz, wäre er auch Jude; also ist er gleich stolz.« Aha. Und mit stolzer Rabulistik gewinnen wir jeden Schwanzvergleich: Du kannst deine adeligen Vorfahren bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen? Ich stamme von König David ab! Gott ist auf deiner Seite? Ich gehöre zum Volk seiner Lieblingsmenschen! Du sprichst mit dem Allerhöchsten? Ich rede mit ihm Hebräisch, seine Muttersprache! Deine Großeltern haben zwei Weltkriege erlebt? Wir haben 2500 Jahre Antisemitismus hinter uns! Du hältst dich für intelligent? 15 Millionen Juden stellen 0,2 Prozent der Weltbevölkerung, aber 20 Prozent der Nobelpreisträger! Du hast einen schönen Schwanz? Meiner hat schon im Babyalter eine Schönheitsoperation bekommen! Du glaubst an Jesus? Selbst Jesus war ein verdammter Jude! Wir sind arrogant? Ja, aber die, die bescheiden sind, sollten es auch sein! Wir sind Narzissten? Ja, aber die besten der Welt! – Nimm das, Goj!

Ein toller Hecht, sagte der Aphoristiker Manfred Hinrich, ist vielleicht nur ein unglücklicher Karpfen.

Als Jude bist du ein Antisemitismus-Detektor: Ich rieche ihn selbst da, wo es nichts zu riechen gibt. Der Spiegel schrieb zum Beispiel: »Genies wie der jüdisch-ungarische Emigrant John von Neumann und der Brite Turing …« Da! Unterschwelliger Antisemitismus – warum musste von Neumanns Judentum betont werden? Warum schrieb das Blatt nicht: »der jüdisch-ungarische John von Neumann und der christlich-britische Turing«?4 Und ich rieche ihn, wenn er sich hinter der (oft berechtigten) Kritik an Israel versteckt.

Als Jude bist du zudem ein Juden-Detektor: Welche Hollywood-Produzenten oder -Stars sind Katholiken, Buddhisten oder Baptisten? Ich habe keine Ahnung (und wozu sollte man sich so etwas auch merken?). Aber ich weiß, dass die Spiel-, Katzen- oder Eisenbergs und die Zuckers, Apatows und Bruckheimers Juden sind. Ebenso Stars wie Seth Rogen, Adam Sandler oder Sylvester Stallone; wie Natalie Portman, Gwyneth Paltrow und Scarlett Johansson. Ich kann mich nicht dagegen wehren, überall Juden zu »riechen« – wie ein guter Nazi.

Wenn du nur einen Hammer hast, sieht halt die ganze Welt wie ein Nagel aus.

Ich bin kein Jude

Nein, ich bin kein Jude.

Ich bin Atheist,5 seitdem ich mit dreizehn Bertrand Russells Warum ich kein Christ bin gelesen habe (sieht man von einem halbjährigen Ausflug zum Katholizismus ein Jahr später ab). Ich bin Atheist, das heißt, ich glaube nicht an die totale Überwachung durch Gott.

Aber du kannst die Kippa absetzen, den Priesterhut aufsetzen und den wiederum durch eine atheistische Narrenkappe ersetzen – egal, ob dein Vater Mullah ist, polytheistischer Pygmäe oder Adolf Hitler persönlich: Hast du eine jüdische Mutter, hast du jüdisches Blut, bist du Jude. So sehen das die Juden. Die Nazis auch.

Juden und Nazis verorten Juden aber nicht nur religiös und genetisch, sondern auch ethnisch. Für beide gehörst du zum sogenannten »jüdischen Volk«. Schon morgen könnte ich in Tel Aviv landen und mir aufgrund »meines Blutes« auf »meinem Boden« in »meinem Land«, in »Eretz Israel«, einen Pass ausstellen lassen – weil ich auch nach fast zweitausend Jahren seit der angeblichen Vertreibung der Juden aus dem römischen Judäa ein historisch legitimiertes Anrecht auf dieses Land habe. So lautet das israelische Rückwanderungsgesetz.6 Dabei ist es unerheblich, ob es überhaupt eine direkte Blutlinie von mir ins historische Israel gibt (ich könnte ein adoptiertes Christenkind sein) oder ob ich an Gott glaube (Beschneidung genügt).

Die Idee eines »jüdischen Volkes« ist ungewöhnlich: Stellen Sie sich vor, ein Katholik sagte, er gehöre zum »katholischen Volk«, und beantragte die Staatsbürgerschaft im Vatikan! Es gibt natürlich kein »katholisches Volk«. Aber ebenso wenig gibt es ein »jüdisches Volk« oder ein einzelnes »jüdisches Gen«, das sich bis ins historische Israel zurückverfolgen ließe (im ersten Jahrtausend nach Christus gab es im gesamten Mittelmeerraum massenhafte Übertritte von Nichtjuden zum Judentum). Und googeln Sie es: Europäische Juden sehen aus wie Europäer, äthiopische Juden wie Äthiopier und arabische Juden wie Araber. Das »jüdische Volk«, das auserwählte, ist eine sepiagetönte Legende von zwei Handvoll Wüstenstämmen mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein.7 Ein Mythos, auf dessen tönernen Füßen ein brüchiger Tempel von Ideologie und Gegenideologie errichtet wurde, von Hass und Gegenhass, von Gewalt und Gegengewalt.

Auch die Nazis hatten eine ähnliche Blut-und-Boden-Ideologie – nur mit sogenannten Ariern als »Auserwählten«. Homosexuelle, »Zigeuner« und Juden gehörten nicht dazu – ab ins KZ. Ach, du bist getaufter Jude? Egal, du gehörst immer noch zum »jüdischen Volk«. Also ab ins KZ.8

Nein, ich bin kein Jude.

Aber der israelisch-arabische Konfliktherd ist für mich heißer als die vielen anderen, in denen Menschen vertrieben wurden (wie in Palästina) oder in denen ihnen droht, vertrieben zu werden (wie in Palästina). Das Leid der zwei Millionen Menschen hinter der 52 Kilometer langen Sperranlage von Gaza, das zu einer »Mischung aus Suppenküche, Obdachlosenunterkunft und Gefängnis geworden« ist, wie der Publizist Rami G. Khouri schreibt9, das Leid der Israelis, die mit Raketen aus Gaza beschossen werden, erregt meine Aufmerksamkeit bei der Zeitungslektüre eine Spur mehr als das Leid der vielen anderen Menschen auf der Welt. Und ich habe immer wieder das nagende Gefühl, ich müsse in diesem unlösbaren Konflikt zu Israel halten, und immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn ich es nicht tue. Ich schaue genauer hin, wenn sich Israelis und Palästinenser wie zwei Wölfe aufführen, die sich gegenseitig an den Ohren halten: Sie würden gern loslassen, trauen sich aber nicht, aus Angst, der andere würde einen zerfleischen.10

Nein, ich bin kein Jude.

Aber das jüdische Angstzentrum im Hirn wird bleiben, berührungsempfindlich wie eine halb verheilte Wunde. In nur sechs Jahren lernte eine Nation den Stechschritt und verlor dabei den aufrechten Gang; nur sechs Jahre dauerte es, um ein Volk zu Nazis und Wegguckern zu machen. Wer hilft meiner Familie, wenn die braunen Geister wieder ihre hässlichen Häupter erheben? Wenn keiner gesehen haben will, dass sich Menschen mit Judenstern an Bahnhöfen oder Straßenbahnhaltestellen zur Deportation gesammelt haben. Wenn in der Nachbarschaft jüdische Wohnungen, Geschäfte und Arztpraxen »frei« werden. Wenn Versteigerungen von »jüdischem« Hausrat zu Schnäppchenjagden unter Nachbarn führen.11

Im Titelsong des Films Ghostbusters singt Ray Parker Junior: »If there’s something strange in your neighborhood – who you gonna call?« Die beruhigende Antwort im Lied: »Ghostbusters!« Nach 1933 gab es in Deutschland wenige mutige Geisterjäger. Und heute? Ich hoffe, viele. Aber ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen.

Zumindest nicht meine eigene.

Ich bin Deutscher

Mit Migrationshintergrund.12 Meine Mutter kam aus dem Westen Polens. Mein Vater aus dem Süden Frankreichs. Das alles bemerken Sie nicht, wenn Sie mich auf der Straße treffen. Ich sehe nicht aus wie Kafka und spreche nicht wie Reich-Ranicki.

Erst war ich Franzose – in Frankreich. Dort durfte ich mich im wehrfähigen Alter später nicht blicken lassen – sie hätten mich sofort zum Militär eingezogen. Dann war ich staatenlos – in Deutschland. Hier musste ich nicht zum Militär – weil ich Jude bin. Als Kind emigrierte ich in die USA und sollte amerikanischer Staatsbürger werden. Schließlich wurde ich Deutscher. Wohl wegen dieses bunten Hintergrunds denke und fühle ich nicht in Kategorien wie »Staaten« oder »Völker«. Kulturen sind mir wichtig.

Ich liebe Deutschland, dieses wundervolle Land, errichtet auf den Trümmern zweier Weltkriege, ich liebe es – trotz der Gräuel des Dritten Reiches. In wenigen anderen Staaten werden die Menschenrechte so ernst genommen, gibt es so viel Freiheit, Toleranz und Rechtssicherheit, wird Flagge nur gezeigt bei Jubelkorsos nach Fußballspielen.13

Ich lebe gern in diesem Land, in dem meine Kinder ohne Hunger und Verfolgung aufgewachsen sind, in dem meine Bücher veröffentlicht werden und nicht verbrannt, in dem nicht mehr nur Eisbein, Kotelett oder Kohlsuppe auf dem Tisch stehen, sondern auch Pizza und Sushi, Kebab, Hamburger und Ente süß-sauer.

Und niemand zwingt mich, die Welt in »Wir« und »Die« zu scheiden: Bist du einer von uns? Dann bist du lebenswertes Leben. Gehörst du zu den anderen? Dann bist du lebensunwertes Leben – wir müssen dich ausgrenzen, isolieren oder einpferchen; entrechten, enteignen oder versklaven; verfluchen, verdammen oder gleich töten.

Für einen Juden ist es gut, heute in Deutschland zu leben.

Ich wollte kein Buch schreiben

Es ist mir schwergefallen, dieses Buch zu schreiben, denn ich habe über drei Jahrzehnte als Spaßmacher gearbeitet: als Autor oder Produzent von über tausend unterhaltsamen Fernsehsendungen. Die Comedy liegt mir näher als die Tragödie.

Es war eine aufwühlende Erfahrung: Ich schrieb und beobachtete dabei, was ich fühlte und was ich nicht fühlte, fragte mich, warum ich etwas fühlte und – schlimmer noch! – warum nicht. Und dann schaute ich mir dabei zu, wie ich das alles niederschrieb und dabei durch die Metaebenen irrlichterte. Sartre hatte mich 1944 gut beschrieben, zwei Jahre bevor ich auf die Welt kam: Ich bin ein unauthentischer Jude.

Vor vier Jahrzehnten hatte ich die Wahrheit über meine Mutter, meine Pflegemutter und mich herausgefunden, war mad as hell und plante, ein Buch darüber zu verfassen. Ich war beleidigt wie ein Muslim, der immer noch unter den Kreuzzügen leidet. Nach den ersten Skizzen habe ich es ungeschrieben beiseitegelegt – aus Faulheit, Angst und Zeitmangel: zu faul, weiter monatelang in stockfleckigen Akten zu blättern; zu ängstlich, noch einmal in der braunen Scheiße zu rühren (der entweichende Gestank könnte ja erneut mein Leben verpesten); zu besorgt, die in vielen Jahren geronnenen Gefühle könnten meine Lebensadern verstopfen; zu beschäftigt mit meinem studentischen Bohèmeleben.

Im Jahr 2014 überzeugte mich der verstorbene Alfred Neven DuMont, diese Biografie /Autobiografie doch zu schreiben.

Es war eine gute Erfahrung: Das Schreiben und Nachdenken half mir, die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen und, vor allem, die Reste von Hass und Wut aus meinem Gehirn zu spülen. Hass und Wut sind aggressive Säuren. Sie zerstören den Behälter, in dem sie aufbewahrt werden.

Ein Buch also. Aber mit Bauchgrummeln.

Letzte Worte

Am Horizont floss die Sonne wie Honig auf die Prärie und über dem Lagerfeuer schmurgelte eine Bärentatze. In den verblassenden Hügeln heulte ein Kojote. Old Shatterhand legte den Arm auf meine Schulter und … da weckte mich Schwester Stephania kurz vor dem Morgengrauen. Um mich herum kalkweiße Wände. Kahl bis auf ein Kruzifix. Zwei schwarze Fenster. Der Geruch alter Menschen.

»Wach auf, mein Junge, deine Mami möchte dich sehen.«

»Wie geht es ihr?«

»Nicht so gut.«

Lieber Gott, mach, dass sie wieder gesund wird, dachte ich. Seit zwei Tagen lebte ich in diesem unbelegten Zimmer des Krankenhauses. Es war der 3. November 1955. Ich war neun und fühlte mich elend und allein.

Während unsere Schritte durch die Flure hallten, unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen. Westmänner weinen nicht.

Auf dem Gang zu Mamis Zimmer roch es nach altem Rauch. Omi lehnte an der blassgrün lackierten Wand, drückte eine Supra Filter in einen vollen Aschenbecher und nahm einen Schluck aus einer flachen Silberflasche. Ich lief zu ihr und umarmte sie: »Omi, ich hab Angst.«

Omi schwieg und weinte. Ihr Gesicht war hart wie Eschenholz. Ihre Arme hingen schlaff herunter, und ihre fast wimpernlosen Augen blickten mich streng an. Mein Magen krampfte sich zusammen. Offensichtlich war sie mir noch böse, weil ich in der Schule wieder Geld gestohlen hatte. Ich hätte es trotzdem schön gefunden, wenn sie mich jetzt in den Arm genommen hätte. Aber das war nicht ihre Art.

Abb. 1: Jacky (9), Ende Oktober 1955

Omi war nicht meine richtige Großmutter. Die war im KZ umgekommen, wie meine gesamte polnische Familie außer Mami und Onkel Berel. Omi war keine Jüdin. Sie hatte Mami vor fünf Jahren aus dem Gefängnis geholt und mich aus einem Heim. Hatte uns bei sich aufgenommen und Mami jahrelang gepflegt.

In Mamis Raum roch es nach Desinfektionsalkohol. Ich kannte den Geruch seit Jahren: Mami hatte gerade wieder eine Morphiumspritze bekommen. Langsam ging ich zu ihrem Bett. Sie nahm meine Hand, streichelte sie und versuchte zu lächeln; doch ihre Kraft reichte wohl nicht mehr.

»Jankele, mein liebes Jankele«, sagte sie in ihrem melodiösen jiddischen Deutsch, »du wirst bald sein allein.«

Ich kämpfte gegen die Tränen an. Sie schaute mich aus dunklen Augenhöhlen an und atmete langsam. Ich bemühte mich, im gleichen Rhythmus zu atmen. Mamis Züge waren mild und entspannt. Aber die sonst leuchtend grünen Augen glommen nur noch matt. Halb aufgerichtet lag sie da, und das reiche schwarze Haar fiel auf ihre Schultern.

Sie war wunderschön. Ich liebte sie.

»Jankele, ich will, dass du wirst a guter Jid. Gej zu Onkel Berel nach Amerika. Er freit sich auf dich.«

»Ja, Mami.«

Amerika! Das Land von Winnetou und Old Shatterhand: mein sehnlichster Wunsch! Dann würde ich Onkel Berel endlich kennenlernen, meinen einzigen Verwandten. Er hatte uns in den letzten Jahren immer Pakete mit peanut butter, Kleidung und Dollarscheinen geschickt.

»Jankele, du musst lernen. Viel lernen. Werd was, womit du anderen Menschen helfen kannst, Arzt oder Rechtsanwalt. Und sag nie: Das kann ich nicht

»Ja, Mami.«

»Kann ich nicht« hatte ich schon seit Langem aufgegeben: seit sie mir mit vier Lesen und Schreiben beigebracht hatte, mit fünf Waschen, Strümpfestopfen und Knöpfeannähen. Jedem »Kann ich nicht« folgte ein »Dann lern es, im KZ musste ich auch alles können«.

»Und, Jankele, du musst versuchen, zu sein glicklich. Egal, was kommt. Du musst es wollen. Mehr als alles andere.«

Glücklich? Ob Kindergarten, Schule oder Spielplatz: Ich war immer der kleine Judenjunge – der einzige. Mit brennenden Augen sah ich die »Christenkinder« miteinander herumtollen. Ich stand immer am Rand und hätte so gern dazugehört. Sie waren auch nicht so arm wie wir. Hatten Familien, Großeltern, die zu Weihnachten Fahrräder schenkten, hatten Mütter und Väter, die zu Hause waren, nicht krank oder verschollen.

Mami schloss die Lider. Sie atmete tief ein – doch nicht wieder aus. Auch ich hielt den Atem an. Sekundenlang kristallisierte die Zeit – endlich stieß sie die Luft von sich und öffnete die Augen. Mir schien, als glühten sie noch einmal auf.

»Komm her, mein Jingele.« Mami streckte die Arme aus, und ich legte mich vorsichtig hinein. Sie atmete ganz ruhig. Dann drückte sie mich und küsste meine Stirn. »Gej jetzt schlofn, Jankele. Schlof scheen und lang.«

»Du auch, Mami.«

»Jankele, mein goldenes Kind, ich wünsch dir a glickliches Leben.«

Schon am Tag danach, wie es bei Juden üblich ist, stand ich mit Omi und dem Rabbiner an Mamis Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Köln. Sie weinten. Ich nicht. Doch nicht vor allen Leuten!

Meine Mutter hatte sich an das Leben gehängt, das bisschen Leben nach fünf Höllen: nach zwei Ghettos, zwei KZs und dem Gefängnis. Aber das Leben schleifte sie bald nur noch hinter sich her wie eine lästige Bittstellerin.

Jetzt hatte es sie abgeschüttelt.

Im feuchtschwarzen Erdhügel neben dem Grab steckte ein Schild aus grauem Sperrholz:

Fela Dreksler 2. Februar 1915 – 3. November 1955.

Nur vierzig Jahre! Ich ballte die Fäuste. Ich war wütend und hatte kein Ziel für meine Wut. Aber ich beschloss, alles zu tun, was Mami mir aufgetragen hatte: guter Jude sein, viel lernen, glücklich werden. Fela kommt von Felicitas. Felicitas bedeutet »Glück«. Aber meine Mutter hatte keins. Jacob, mein eigentlicher Name, ist hebräisch und bedeutet »Gott beschütze dich« – der Wunsch für ein glückliches Leben. Aber, wie sich zeigen sollte, keine Garantie. Der Allgegenwärtige kann nicht ständig überall und bei jedem sein.

Abb. 2: Omi (49), meine Mutter (39) und ich (8) im Jahr 1954, ein Jahr vor Mamis Tod

Felas Unglück begann am 1. September 1939 mit Hitlers Überfall auf Polen. Drei Tage später marschierten seine Truppen in die – halb jüdische, halb christliche – Mittelstadt Będzin im damals polnischen Oberschlesien (meine Mutter sprach es »Ben-dschien« aus). Dort lebte Fela mit ihrer sieben- oder achtköpfigen Familie in einer winzigen Hütte am Ufer der Schwarzen Przemsza. Meine Mutter sprach den Namen des Flusses etwa wie »Schemscha« aus …

FELA

Abb. 3: Meine Mutter Fela Dreksler (34) während der Haft in Rastatt, vermutlich 1949

Verbrenne ihre Synagogen […],

zwinge sie zur Arbeit

und gehe mit ihnen

nach aller Unbarmherzigkeit um,

wie Moses in der Wüste tat,

der dreitausend totschlug […].

Martin Luther,

Von den Juden und ihren Lügen

1

Sabbat in Będzin

»So, Schabbes für heute!«

Fela nimmt den Fuß vom Pedal der klapprigen Singer-Nähmaschine und legt die reparierten Seidenkleider beiseite. Ein Glück, dass die fette Birnbaum dauernd aus allen Nähten platzt. Sonst könnten sie sich heute kein Fleisch leisten. »Peluscha!«

Die Kleine spielt unten am Fluss, sagt Alek, küsst Felas Haar, nimmt die Kleider und hängt sie auf einen Bügel. Fela schmiegt sich kurz an ihren Mann, geht aus dem einzigen Raum ihrer Hütte in das Gemüsegärtchen hinterm Haus – »Peluuuscha!« –, dreht ein Bündel Schnittlauch ab und wirft einen ängstlichen Blick aufs Dach.

Die morschen Holzschindeln unter dem gebeugten First werden nur von wildem Wein und Leuchtmoos zusammengehalten, so scheint es ihr. Und vielleicht von den Ranken des Blauregens, dessen angewelkte Blütentrauben schwer von der Traufe ins Gemüsebeet hängen: ein Wasserfall aus Amethyst, erinnerte sie sich gern. Und wie sie dieses Gärtchen liebte, in dem Kohl, Kopfsalat und Levkojen wuchsen.

»Peluscha, Schabbes! Komm, umziehen!«

Am anderen Ufer der Schwarzen Przemsza, eines Flüsschens, das träge durch die ärmeren Viertel Będzins fließt, steht die Sonne schon tief in den Haselsträuchern.

Wie jeden Freitag beginnt der jüdische Sabbat in der Abenddämmerung. Bis zum Samstagabend darf nicht mehr gearbeitet werden. Wie bei der Schöpfung: Gott befand, dass die Welt gut sei, und legte einen Ruhetag ein.

»Peluscha! Komm, ich hab ein neues Rätsel für dich.«

Endlich kommt mein sechsjähriges Schwesterchen angehopst. Ihre schwarzen Locken tanzen um zwei intelligente grüne Augen. Wie so oft schmettert sie: Jeszcze Polska nie zginęła, kiedy my żyjemy – die polnische Nationalhymne. Noch ist Polen nicht verloren.

Auch ich sang sie mit Inbrunst im Marschschritt, als ich vier war, und sah die Augen meiner Mutter dabei aufleuchten. Sie war stolz, Polin zu sein. – Stolz? Ich bin naturalisierter Deutscher und liebe dieses Land. Aber ich habe nichts dazu beigetragen, dass es ein gutes Land ist. Nur durch Zufall lebe ich hier und nicht in der Heimat meines französischen Vaters, meiner polnischen Mutter oder meines amerikanischen Onkels. Soll ich stolz sein auf Dinge, für die ich nichts geleistet habe, auf die ich keinen Einfluss habe? Stolz, blassrosa zu sein statt tiefbraun? Stolz, Jude statt Christ zu sein? Stolz, dass die Sonne scheint?

Peluscha singt immer lauter. »Schtil, Mejdl!«, flüstert Fela und hält ihr den Mund zu. »Sing a anderes Lidel.« Sie gibt Peluscha einen Klaps auf den Po. »Solang die Deitschen hier sind, will ich das nicht mehr hören.«

Es ist der 8. September 1939. Hitlers Kriegsmaschine hat vor einer Woche Polen niedergewalzt.

Ein jüdisches Rätsel

Peluscha krabbelt auf Felas Schoß. »So, Peluscha, jetzt erzähl ich dir das Rätsel mit dem Hirschen.« Peluscha juchzt; sie liebt die talmudischen Rätselwitze meiner Mutter.

Felas Mann Alek verdreht die Augen: »Allmächtiger! Die Deutschen stiefeln durch Będzin, und du erzählst Witze.«

»Grundgütiger, Fela!«, stöhnt meine Großmutter Róża14 am bullernden Kohlenherd. »Hilf mir lieber.« Sie streicht sich mit dem Unterarm eine nasse Strähne aus dem schweißglänzenden Gesicht. »Der Tisch ist nicht gedeckt, und … wo bleibt eigentlich Berel mit dem Wasser?«

»Dein Sohn knutscht am Brunnen garantiert wieder mit irgendeiner Christenschickse«, wirft Alek ein. »Würd ich auch tun, wenn …«

Ein funkelnder Blick trifft ihn.

»… wenn ich noch sechzehn wäre und nicht so eine wundervolle Frau hätte.« Das war knapp.

»Also, Peluscha«, insistiert Fela, »stell dir vor, a scheener Hirsch steht draußen am Ufer der Przemsza und will ans andere Ufer zu seiner Hirschin. Der Hirsch darf nicht springen, er darf kein Boot bauen, und er darf nicht schwimmen. Wie kommt er rüber?«

Peluscha grübelt.

Onkel Lajzer schüttelt missbilligend die pajes, die gequirlten Schläfenlocken: »Der Herr spricht, die Frau soll das Licht der Familie sein. Von ›Clown‹ hat er nichts gesagt.«

Oyweh, denkt er, dass Frauen überhaupt ungefragt reden; in Warschau soll es sogar schon eine Synagoge geben, in der Mann und Weib nicht getrennt beten, das wird der Ewige garantiert rächen. Lajzer ist der einzige Orthodoxe in der Familie. Der Einzige, der einen Judenkaftan trägt. Und, wie man riecht, immer denselben.

»Lajzer hat recht«, bemerkt Alek grinsend. »Ich will die Scheidung.« Was für ein Glück er doch hatte, diese anmutige Frau zu gewinnen – birkenschlank, hohe Wangenknochen, funkelnd grüne Augen! Sechzehn war sie damals, und heute, acht Jahre später, hat sie zwar etwas an Gewicht gewonnen, aber nichts verloren von ihrem Charme und ihrer ansteckenden Fröhlichkeit.

Und wie geschmackvoll sie sich kleidet. Sie leben zwar im armen Fischerviertel am Fluss, aber ihr selbst geschneidertes Schabbeskleid sieht aus, als habe sie es in einem vornehmen Warschauer Modesalon gekauft. Dabei hat sie es nur aus einem zerfledderten Modemagazin nachgeschneidert. Manche Nachbarinnen rümpfen die Nase – hält sich wohl für was Besseres.

Noch mehr imponiert Alek, dass Fela es schafft, die geölten Fichtendielen sauber zu halten, die Regale ohne Staub und die Betten frei von Wanzen. Nicht leicht an einem Lehmweg ohne Kanalisation, in einem kleinen Loch mit sechs Schlafstellen, mit einer kleckernden, krümelnden, schlabbernden Mischpoche.

Aber sie schafft es mit Disziplin und gnadenlosen Regeln. Und an die haben sich alle zu halten. Selbst Mutter Róża, seit dem Tod ihres Mannes das Familienoberhaupt – aber nur dem Alter nach.

Fela spürt die Anerkennung in Aleks Blick und lächelt liebevoll zurück. Alek ist ein wundervoller Mann, denkt sie, humorvoll und gütig. Die schütter werdenden Haare stören sie nicht. Er ist ein liebevoller Vater und ein geschickter Schneider. So gut wie sie? Nein, aber Fela ist taktvoll genug, ihm das nie zu sagen. Armer Kerl: mit achtundzwanzig die Arbeit verloren, weil doch die Hände immer stärker zittern. Das muss an seinem Stolz nagen.

Tak-tak-tak! Schreckgeweitete Augen: MP-Garben. Tak-tak-tak!

Fela drückt Peluscha an sich und schaut Alek angstvoll an. Jeden Tag schikanieren die Deutschen ein anderes Viertel. Hundert Tote seit dem Einmarsch, hat sie gehört, mehr noch verhaftet. Fela beruhigt Peluscha mit einem gezwungenen Lächeln: »Wir lassen uns den Schabbes nicht verderben.«

Alek tut erleichtert: »Recht hast du. Sie greifen sich nur die reichen Jiden und die Polenbonzen. Was sollen sie auch mit uns Armen?«

»Der Allmächtige wird alles richten«, seufzt Róża.

»Außerdem«, bestätigt Fela und nickt, »können die paar Soldaten ja nicht fünfundzwanzigtausend Juden tyrannisieren, die Hälfte der Stadt.«

Schabbat Schalom

In dem kleinen Haus am Fluss fliegt die Holztür auf. Berel kommt mit zwei Kübeln Wasser von der Pumpe und stellt sie am Herd ab. »Oben an der Burg wird geschossen.«

»No, seit acht Tagen ist Krieg, da wird halt geschossen«, sagt Róża achselzuckend und gießt Wasser in einen Topf mit gerösteten Zwiebeln, Rinderknochen, Graupen, Bohnenkernen und Stücken von der Hammeldünnung, dem fettdurchwachsenen Bauchlappen – Tscholent.

»Sie werden gleich aufhören«, beruhigt Róża, stöhnt beim Umrühren und schwitzt wie ein Schwein. »Am Schabbes werden sie nicht schießen. Die Deutschen sind ein Kulturvolk. Kriegerisch, aber gebildet – und höflich.« Sie hat früher mit ihrem ersten Mann in Breslau gelebt und hält große Stücke auf das Volk von Goethe, Schiller und Beethoven.

»Jetzt deckt endlich den Tisch«, befiehlt Róża und legt schweißtriefend ein paar Kohlen nach.

Fela macht unbeeindruckt weiter: »Also, Peluscha, der Hirsch – er darf nicht schwimmen, nicht springen, nicht mit dem Boot fahren. Wie kommt der Hirsch zu seiner Hirschin?«

Peluscha legt ihr Gesicht in komisch-angestrengte Falten und sagt: »Mame, ich krieg’s nicht raus.«

Alek geht zum Tisch, gießt Wein in den Becher für den Kiddusch-Segen, legt die Barches, die beiden Hefezöpfe, auf den festlich gedeckten Tisch und breitet ein Tuch darüber. Die Barches sind Symbole für das Manna, mit dem Gott die Israeliten in der Wüste sättigte.

»Also, Peluscha?«

»Ich komm nicht drauf, Mame. Wie kommt der Hirsch rüber?«

»Ganz einfach: Er schwimmt.«

»Aber du hast doch gesagt, er darf nicht schwimmen.«

»No, er schwimmt aber doch

Peluscha zieht einen Flunsch, Berel lacht betont aufgesetzt. Verärgert unterbricht Fela ihn: »Es wird dunkel, setzt euch. Schabbat Schalom

Felas Lebenslauf

Diese Szenen sind so etwas wie Scripted Reality, Erinnerungsclips, oft erzählt von meiner Mutter. Und von Onkel Berel, als ich mit elf bei ihm in Buffalo wohnte und als er mir Jahrzehnte später sein Leben auf Tonband sprach, kurz bevor Alzheimer sein Gehirn verwüstete, in mir verdichtet in den Momenten, wenn die Gedanken verschwimmen und die Träume noch nicht kommen.

Abb. 4: Notizbuch meiner Mutter während der Haft 1947, als sie im Gefängnis von Rastatt auf ihren Prozess wartete

Fünfzehn Jahre nach Felas Tod bekam ich zwei zerfledderte Notizbücher aus ihrer Zeit im Gefängnis. Im größeren fand ich eine Kurzautobiografie, wohl aus dem Jahr 1947, geschrieben zwei Jahre nach ihrer Befreiung aus dem KZ.

Main Fater iz gehstorben bin ich 3 Monat alt gewehn [gewesen] … Main muter is geblihben mi 4 kloin Kinder. Ich var di jugste [Jüngste] …

Meine Mutter liebte Narrative in jeder Form und erzählte mir immer wieder Miniaturen und Histörchen aus ihrem Leben in Będzin. Selbst brutale Geschichten aus den Ghettos und KZs gehörten zu meiner natürlichen Umwelt, solange ich zurückdenken kann, sollten Erziehung und Unterhaltung zugleich sein. Sie hat sie an mich weitergereicht, als wären sie ein Kulturschatz.

War mir eine Arbeit zu mühsam: »Jankele, stell dich nicht so an. In Auschwitz hab ich mal gemusst hochhalten a Zwanzig-Kilo-Stein mit die Händ a Stund lang. Sonst hätt die SS geschießt.«

Wenn ich keine Lust zum Lernen hatte: »Jankele, wenn noch mal a Ghetto kommt und du kannst kein Arbeit, wos die Deitschen brauchen kennen, musst du stehen im Graben und Schlamm schippen.«

»Mami, hier gibt’s doch kein Ghetto.«

»Jankele, das ist wie bei einem Pups. Eben ist noch alles git, und plötzlich stinkt’s.«

Über Felas Mann Alek weiß ich kaum etwas, fast nichts über meine Großmutter Róża und ebenso wenig über Onkel Lajzer, von dem ich mal ein Foto gesehen habe, er mit Homburg, Pajes, Bart und Kaftan, den Arm um Peluschas Schultern gelegt.

Sie alle sind vor meiner Geburt gestorben. Wie so viele meiner Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins verhungert oder erschossen, erhängt oder vergast, ihre Namen verweht im Zeitenwind. Nur Onkel Berel und meine Mutter haben den Holocaust überlebt. Fela erinnert sich:

1934 habe ich mein libe tares [teures] kind geboren. Ain jar shpeiter iz mein man krank geworden, und er nicht gekonnt fil arbaiten. Ich übersetze das Weitere wieder: Ich habe sehr glücklich mit mein Mann gelebt, und ich habe angefangen zu arbeiten. Mein Mann hat sich zu Hause bei dem Kind gekümmert, und ich habe gearbeit in ein Fabrik. Ich habe wenig verdient und »zer shver gearbait«. Ich habe gelebt immer in sehr schwere Bedingungen. Ich habe nur bewohnt in ein kleines Zimmer – sehr primitiv. [Aber] sauber war immer bei mir. Ich war sehr zufrieden mit meiner »Aremkeit«. Wir haben sehr gut sich mit mein Mann verstanden. Wir haben gehabt ein harmonisch Leben.

Über Peluscha schreibt sie:

Zi va zer intiligent, shein gros entvikelt, sheine shvarce loken. Das kind var unzehr gances leiben.

In meiner Familie wurde Jiddisch und Polnisch gesprochen – wie in fast allen jüdischen Haushalten Będzins. Die Stadt war 1939 die größte jüdische Gemeinde Polens, 25 000 Juden – mehr als Christen. Hier fühlten Juden sich nicht als diskriminierte Minderheit, auch wenn die nichtjüdischen Nachbarn auf sie herabsahen: In Będzin hatten sie nicht die Spur eines Minderwertigkeitsgefühls.

Reiche Tuchhändler oder Goldschmiede wohnten in der Nähe der Burg und der Großen Synagoge. Weiter unten hausten die armen Schneider, Sattler und Kleinhändler, die Tagelöhner, Bettler und die Chonten – die Nutten. Hier gab es wenige befestigte Straßen, keine Kanalisation, keine Elektrizität. Hier hausten Armut, Hunger und Gestank.

Die Synagoge von Będzin

Fela hält beide Hände erst vor die Sabbatkerzen, die in Silberleuchtern auf dem weißen Tischtuch stehen, dann vor ihr Gesicht, zündet die beiden Dochte an und spricht die Schabbatlicht-Broche, einen Segen.

Als männliches Familienoberhaupt spricht Alek das Kiddusch-Gebet, dann die Broche über den bis zum Rand gefüllten Weinbecher und reicht ihn herum.

Nun nimmt er das Tuch von den Barches und murmelt den Segen für Brot: »Baruch atta adonai elohenu, melech ha-olam, ha-mozi lechem min ha aretz.« Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt. Du lässt die Erde Brot hervorbringen.

Er reicht jedem ein salzbestreutes Stück und tönt: »Schabbat Schalom.« – Einen friedvollen Sabbat.

»Schabbat Schalom«, murmeln alle und stürzen sich auf die Zupa szczawiowa, die Róża vom Herd geholt hat, eine polnische Sauerampfersuppe, deren graswürzig duftender Dampf die Scheiben blind macht.

Plötzlich wird die Tür aufgestoßen und reißt eine Angel aus dem Rahmen. Drei Männer in grauen Felduniformen und Schirmmützen mit Totenkopfemblem krachen ins Zimmer, einer mit der Pistole im beidhändigen Anschlag: »Los, raus, ihr Saujuden!«

Während meine Familie nach draußen taumelt, kippt sich der SS-Sicherheitsdienst den Wein rein, durchsucht den Raum, wirft Möbel um, viele sind es ja nicht, und durchwühlt die Wäsche.

Die ungepflasterte Gasse draußen füllt sich mit verängstigten Nachbarn. Plötzlich zeigt der dicke Schmul Byalistock in Richtung Burg: »Die Synagoge! Oyweh, oyweh!«

Da kommen die Uniformierten aus der Hütte zurück auf die belebte Straße: »Aus dem Weg, Judenpack!«

Der dicke Schmul reagiert nicht schnell genug. Der Jüngere schlägt ihm – »Weg da, Jude!« – die Pistole über den Schädel.

Byalistock fällt. Aus der Platzwunde rinnt Blut in den Lehmstaub. Er hebt den Oberkörper: »Verrecken sollste! Und dei Fihrer auch!«

Sechs Stiefel zertreten Byalistocks Gesicht; dann zieht der Jüngere eine Pistole, richtet die Mündung auf Byalistock und drückt ab. Was von Schmuls Schädel übrig ist, explodiert.

Fela übergibt sich. Als sie wieder hochschaut, sieht sie es: Flammen schießen aus dem schwarzgrauen Qualm um die Synagoge und fressen sich gelblodernd in die Abendwolken. »Großer Gott«, flüstert Fela. »Sch’ma Jisrael!«

Mit vorgehaltenen Pistolen werden Fela und Alek die Straße hinuntergetrieben, zusammen mit anderen Verhafteten, bis zu einem planenbedeckten Henschel-Laster. Mit Hieben helfen die Uniformen beim Einsteigen. Drinnen sitzen schon ein Dutzend Juden und schauen sie angstvoll an.

Niemand spricht ein Wort.

Als der Laster fort ist, geht der Rest meiner Familie schweigend ins Haus. Jeder berührt die Mesusah, die kleine, schräg hängende Schriftkapsel am rechten Türpfosten, und küsst dann die Finger. Sonst geschieht das eher beiläufig. Aber dieses Mal werden sie sich dabei bewusst, was es bedeutet, zum »auserwählten Volk« zu gehören: Ausgrenzung, Schmach und Verfolgung.

Mal wieder.

Theodizee

Beim Tod des alten Juden Byalistock hatte der Herr über Leben und Tod wohl gerade anderweitige Verpflichtungen, sonst hätte er dieses Ende gewiss verhindert, denn der Liebe Gott ist gut und allmächtig. Das lernt jedes Kind. Werden wir dann älter, nagt ein Problem an unserem Verstand: Wie kann der Allmächtige, Allgütige und Allwissende so viel Leid und Schmerz zulassen? Erlauben, dass wir in ständiger Furcht vor einem gewaltsamen Tod leben, dass unser Leben einsam ist, armselig, scheußlich, tierisch und kurz, wie der Philosoph Thomas Hobbes es im Leviathan schwarzmalte. Am meisten aber wurmt uns, wenn wir das Leid der Gerechten mit dem Glück der Ungerechten vergleichen. Etwa im Gospelsong »Farther Along«, in dem beklagt wird, dass ausgerechnet schlechte Menschen gedeihen und erfolgreich sind:15

Often when death has taken our loved ones,

Leaving our home so lone and so drear,

Then do we wonder why others prosper,

Living so wicked year after year.

Ja, und Jesus, heißt es, liebt uns dennoch alle. Mit dreizehn hat mir dieses Problem viel Kopfzerbrechen bereitet. Ich wollte zum Katholizismus übertreten und fragte den Kaplan: Wenn Gott gut und allmächtig ist, wie kann er dann Hunger, Krebs und Massenmorde zulassen? Er murmelte, dass Gott der Welt damit die Freiheit geschenkt habe und uns mit Leiden prüfe, ob wir seiner würdig sind. Ansonsten habe er uns schließlich die beste aller möglichen Welten gegeben, und dafür müssten wir dankbar sein.

Das kam mir komisch vor, aber ich hatte keine Antwort darauf. Die beste, fand ich kurz darauf, hatte der britische Philosoph Bertrand Russell gegeben, in seinem Vortrag Warum ich kein Christ bin: Der allwissende und allmächtige Gott hatte Jahrmillionen, um die Welt zu vervollkommnen; und da ist ihm nichts Besseres eingefallen als der Ku-Klux-Klan oder die Faschisten?

Damals gefiel mir vor allem Russells frecher Angriff auf Jesus: Dessen moralischer Charakter habe einen schweren Defekt, befand er, weil er an die Hölle glaube. Kein menschenfreundliches Wesen könne ernsthaft an eine ewig dauernde Strafe glauben. Fand ich auch.

Zum Glück bin ich seit der Lektüre Atheist. Wenn ich aber unbedingt an einen Gott glauben wollte, würde ich mir keinen Lieben Gott zurechtbasteln, sondern einen Bösen Gott. Mit seiner göttlichen Schlechtigkeit wäre alles Böse perfekt erklärt, das natürliche wie das menschengemachte: Krebs, Hunger und Malariamücken – Herr, du hast es gegeben! Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche – Herr, du hast es genommen! Der KZ-Schlächter Mengele, der Selbstmordattentäter Ali, der Massenmörder Mao – Herr, dein Name sei gepriesen! Diese pragmatische Gottes-Konstruktion gefällt mir besser als mystische Erklärungen, denn die gelten, wie Nietzsche beobachtete, zwar als tief, dabei seien sie noch nicht einmal oberflächlich.16 Die Sonne scheint ja immer; nur die zähen Hochnebel mystischer Erklärungen behindern die Sicht darauf.

Ist der Böse Gott erst einmal etabliert, können wir dann in Ruhe bei einem Château Schlaberadeur diskutieren: Warum hat dieser Böse Gott eigentlich so viele liebevolle, barmherzige und hilfsbereite Menschen geschaffen? Warum lässt er nur so wenige durch Ebola, Wirbelstürme oder Gaskriege krepieren und nicht alle? Warum lässt er Hilfsprogramme zu? Warum die Vereinten Nationen, warum Staaten, die keinen Krieg führen?

Die meisten Menschen stehlen nicht, betrügen nicht und morden nicht – auch wenn sie es gefahrlos tun könnten. Kurz: Die meisten Menschen sind die meiste Zeit meistens gut. Rechtfertige das, Böser Gott!

Eine vielleicht noch interessantere Alternative scheint mir die Idee des amerikanischen Journalisten Jim Holt zu sein. In seinem Buch Why Does the World Exist? schlägt er vor: Das Universum wurde von einem Wesen geschaffen, das zu hundert Prozent bösartig und heimtückisch ist, aber nur zu achtzig Prozent erfolgreich.

Ich finde, dies ist eine bessere Lösung als jedes Entweder-oder: Auf einer Erfolgsskala von 0 bis 100 kann sich nun jeder einen Prozentsatz göttlicher Effizienz aussuchen, an den er oder sie gerade persönlich glaubt.17

Da die Juden aller Orten in Deutschland theils umgebracht und theils vertrieben worden sind, ist es geschehen, daß die Judenstraßen vieler Orte von ihren jüdischen Einwohnern leer wurden. Man hat daselbst ihre Wohnungen theils verbrannt, und sie getödtet oder weggetrieben. Ihre Straßen und die etwa gebliebenen Wohnungen sind in die Hände der Christen gekommen […].

Johann Georg Krünitz,

Oekonomische Encyklopädie, 177318

2

Flucht ins Ghetto

Róża, Lajzer, Berel und Peluscha hören bis weit nach Mitternacht dröhnende Kübelwagen und Kräder, Schüsse und Schreie, auf Deutsch gebellte Befehle. Als die Sonne neben der Synagoge aufgeht und sich durch den beißenden schwarzen Rauch quält, ist alles ruhig.

Fela und Alek sind die ganze Nacht über von der Gestapo verhört und geschlagen worden. Am frühen Morgen prügelt man sie mit Gewehrkolbenstößen aus der Tür: Sie sind nicht die Gesuchten, die antideutsche Parolen auf Wände geschmiert hatten.

Sie biegen ab auf die leicht ansteigende Straße zur Synagoge, gleich unterhalb der Burg: eine Reihe abgebrannter Häuser, auf den Straßen zahllose Leichen, manche verkohlt, andere mit zerfetzten Bäuchen. Überall Blut. Die Synagoge ist völlig niedergebrannt. Die Trümmer glühen und rauchen.

Fela und Alek weinen hemmungslos. Schließlich zieht Alek Fela fort. Schnell – nur nicht den Deutschen begegnen! – laufen sie zur Schwarzen Przemsza hinunter und erschauern: am Ufer ein Dutzend blutiger Körper, im Wasser noch zahlreiche weitere.

Viel mehr hat mir meine Mutter nicht über den Synagogenbrand berichtet. Was geschehen ist, ist aber gut dokumentiert, am besten wohl in Mary Fulbrooks Buch A Small Town Near Auschwitz.19

Am Freitag, dem 8. September, wurden um sechs Uhr nachmittags Juden in die Große Synagoge getrieben. In manchen Quellen ist die Rede von vierzig bis sechzig, in anderen von hundert bis zweihundert.20

Nachdem die Türen verriegelt waren, warf die SS-Einsatzgruppe zur besonderen Verwendung, die den Stiefelspuren der sechs Divisionen des Heeres folgte, Benzinkanister und Brandgranaten durch die Fenster und verbrannte die Eingesperrten bei lebendigem Leib – Männer, Frauen, Kinder. Draußen lauerten weitere SS-Männer. Wer versuchte, den Flammen durch die Fenster zu entkommen, wurde niedergeschossen.

Rund um die Synagoge wurden weitere fünfzig Häuser ebenso niedergebrannt. Hunderte von Juden sollen verbrannt oder »auf der Flucht« erschossen worden sein.21

Germanisierung durch Terror

In den Tagen nach dem Brand praktizierten die Besatzer ihr Prinzip »Germanisierung durch Terror«. Täglich wurde die Demütigungsschraube ein wenig angezogen: Nicht nach sechs aus dem Haus, Straßen in einem vorgeschriebenen Winkel überqueren, keine Radios, keine Zeitungen, keine Telefone, keine Kameras oder Schreibmaschinen, nicht grußlos an deutschen Uniformen vorbeigehen. Im November 1939 befahl die Gestapo, dass Juden eine weiße Binde mit blauem Zionstern tragen mussten. Jüdische Schulen und Banken wurden geschlossen. In ihrem Notizbuch hielt Fela fest:

Was vir haben geliten! Di gestapo hat … ale juden geshlagen. In die strassen hat de jude di hende gemust immer hochhaten. Ich übersetze wieder: … und wenn SS ist vorbeigegangen, so hat er gesagt, du bist Jude, hat er geschlagen oder gestoßen oder auf die Erde hinlegen.

Juden wurden auf offener Straße abgeknallt, weil sie einen Deutschen »frech« angeschaut haben oder weil sie sich in einer Bäckerei »unordentlich« angestellt haben, wie mein Onkel Berel es erlebt hat:

Main Bruder 17 ja alt er is brot cum beker holen gegangen anshstelen zich in di raje. Ich übersetze: Ist angekommen etlich Gestapo [und] weil es war nicht kein Ordnung bei dem Bäcker, haben sie geschossen zu die Leute. Ja, ich habe genug, ein zerbrochenes Herz auf ewig.

Onkel Berel erzählte mir, neben diesen »spontanen« Gräueltaten habe es auch sorgfältig geplante gegeben: Schau-Hinrichtungen durch Kugel oder Strick – zur Abschreckung. Dabei mussten bis zu fünftausend Juden zuschauen.

Wie weit die Verrohung ging, zeigt der Dokumentarfilm Verzeihung ich lebe von Andrzej Klamt und Marek Pelc. Dort wird von zwei Männern berichtet, die sich damit amüsierten, dass einer ein Baby hochwarf und der andere mit der Pistole versuchte, es in der Luft zu treffen.

Vernichtung durch Arbeit

Bald nach dem Einmarsch der Besatzer wurde Felas Familie enteignet – wie alle Będziner Juden.

Alle juden gehseften favekgenomem, schrieb meine Mutter, auch die Häuser. Alle Juden von die Fabriken herausgeschmissen und mich auch von die Fabrik.

Besonders verbittert war meine Mutter, weil Geschäfte, Werkstätten und Fabriken anschließend nicht leer standen, sondern von deutschen »Treuhändern« oder Privatleuten übernommen wurden. So arbeiteten auch die Birnbaums weiter in ihrer Metzgerei – aber als Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft.

Rings um Będzin wurden kräftige junge Männer und Frauen in stacheldrahtumzäunten Arbeitslagern zusammengetrieben, auch Fela und Alek. Diese Sklaven mussten Autobahnen bauen, Flüsse entschlammen, Holz hacken, Stiefel nähen oder Uniformen reparieren. Gnadenlos verprügelt wurde, wer das Soll nicht erfüllte; erschossen, wer faulenzte. Viele verhungerten oder arbeiteten sich – im Wortsinne – tot.

Dabei ging es nicht nur um eine Ausbeutung der Juden zum Wohle des Deutschen Reiches. Es ging um eine perfide Methode des Tötens. Am 14. September 1942 machte sich Reichsjustizminister Otto Thierack eine Notiz über ein Gespräch mit Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels:

Hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels auf dem Standpunkt, dass Juden und Zigeuner schlechthin […] vernichtet werden sollten. Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste.

»Ausnutzung durch Arbeit« und »Vernichtung durch Arbeit« – diese beiden Ideen standen am Anfang des Krieges gleichberechtigt nebeneinander. Eingekeilt zwischen diesen Slogans versuchte meine Familie zu überleben.

Gerechtigkeit

Versklavung und Völkermord sind extreme Ausflüsse einer einfachen Überzeugung: Wir Menschen sind ungleich – manche sind besser, edler, wertvoller als andere –, darum sollten wir auch ungleich behandelt werden: »Jedem das Seine«. So schrieben es die Nazis folgerichtig über das Haupttor des KZs Buchenwald.

Die zynische Deutungsverzerrung von Platons Diktum aus der Politeia