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Veit Bronnenmeyer

 

Zerfall

Albach und Müller: der zweite Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Jubiläumsausgabe, Februar 2014, 2. Auflage)

© der Originalausgabe 2007 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Susanne Bartel

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Illustration von Silke Klemt

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-395-9

 

Inhalt

I. Ein schlechter Scherz?

 

II. Takt

 

III. Graffiti für Anfänger

 

IV. Chromosomenanomalie

 

V. Der Blitzkreis

 

VI. Strahlung

 

VII. Balance

 

VIII. Zeitlupe

 

IX. Ausgrabungen

 

X. Flucht und Verdunklung

 

XI. Eskapaden

 

XII. Trauma

 

XIII. Schwachstellen

 

Nachwort

 

Dank

 

Der Autor

 

Für meine Großmutter Friedl Bronnenmeyer

 

I. Ein schlechter Scherz?

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, Alfred räusperte sich etwas verlegen, »mein Name ist Hauptkommissar Albach, und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Beisetzung heute noch nicht stattfinden kann ... es, ähm, besteht Grund zu der Annahme, dass Dr. Rothenberg keines natürlichen Todes gestorben ist.«

Die Trauergemeinde teilte sich in zwei Gruppen. Eine, die überwiegend aus Damen bestand, steckte fassungslos tuschelnd die Köpfe zusammen, während die andere Alfred samt der neben ihm stehenden Familie des Toten mit Fragen bombardierte. Dieses Verhalten war genauso pietätlos wie verständlich. Schließlich war die versammelte Gesellschaft bis vor einer Minute noch davon ausgegangen, dass der hoch­dekorierte Richter nach jahrelangem, verzweifeltem Kampf dem Krebs erlegen war. Nun aber wurde der prunkvolle Sarg mit den Silberbeschlägen nicht in Richtung Grab, sondern zur Gerichtsmedizin gefahren, wo die Leiche des ehrenwerten Juristen obduziert werden würde. Dabei hätte es ein so schönes Begräbnis werden können. Der Tote war ein angesehener Bürger der Stadt gewesen, und die Prominenz aus Justizwesen und Kommunalpolitik war gut vertreten. Das tiefe Schwarz des Trauerzuges stand in perfektem Kontrast zu dem wolkenlosen Himmel. Es war ein wunderschöner, milder Tag, mit Hochdruckeinfluss und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Den ganzen Winter lang war noch kein Schnee gefallen, sodass das Farbenspiel durch die grünen Tannen und Kiefern links und rechts von der Aussegnungshalle komplettiert wurde. Nun musste das Loch wieder zugeschaufelt werden, und die großartigen Kränze und Blumengebinde würden wohl vorzeitig auf einem friedhöflichen Komposthaufen verrotten.

Alfred schickte seine Kollegin Renan mit der Familie Rothenberg nach Hause, bevor er sich dem dann folgenden Sturm der Entrüstung und Verwirrung stellte. Normalerweise empfand er eine gewisse Vorliebe für solche Auftritte, die ihn unversehens in den Mittelpunkt einer Situation rückten. Aber angesichts eines Dutzends Staatsanwälte und Richter, fast genauso vieler Stadträte, zweier Referenten, des stellvertretenden Polizeipräsidenten, dreier Amtsleiter, einer unbekannten Anzahl von Rotariern und schließlich des Präsidenten des 1. FCN fühlte sich selbst Alfred etwas unwohl. Die Herren nahmen ihn von allen Seiten ins Kreuzverhör:

»Was soll denn das jetzt heißen?«

»Wissen Sie eigentlich, was Sie hier tun?«

»Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

»Was erlauben Sie sich?«

»An was soll der alte Ludwig denn gestorben sein?«

»Lächerlich!«

»Ein schlechter Scherz!«

»Wer hat das angeordnet?«

 

Schließlich zog der stellvertretende Polizeipräsident kraft seiner Autorität Alfred beiseite und bemühte sich um eine sach­liche Klärung der Verhältnisse.

»Herr Albach, was hat das zu bedeuten?«, fragte er, sich nervös umsehend.

»Es geschieht vor allem auf Wunsch der Familie«, beeilte sich Alfred zu erklären, »durch die Tochter des Toten haben wir Hinweise und Indizien erhalten, die einen natürlichen Tod zumindest anzweifeln lassen.«

»Und das erst jetzt, eine Stunde vor der Beerdigung?« Atem entwich als deutlich sichtbarer Dampfstrahl seiner Nase.

»Es tut mir wirklich leid, Herr Schmidt«, meinte Alfred zerknirscht, »aber es war tatsächlich so kurzfristig. Der diensthabende Richter hat die Obduktion heute Morgen erst angeordnet.«

»Na gut«, Schmidt wirkte etwas besänftigt, »und die ­Familie hat dieser Sache auch wirklich zugestimmt?«

»Es geschieht auf ausdrücklichen Wunsch der Familie, zumindest der Tochter«, versicherte Alfred.

»O. k., dann verschwinden Sie jetzt und verfassen schnellstmöglich einen Bericht, heute Abend will ich wissen, was los ist.«

»Das ist mir mindestens so unangenehm wie Ihnen ...«, beteuerte Alfred.

»Ja, ja. Schon gut«, der Vizepräsident knöpfte seinen schwarzen Lodenmantel auf, »ich werde Ihnen hier vorläufig Rückendeckung geben.« Er ging wieder auf die Trauer­gemeinde zu und sagte: »Meine Damen und Herren, als oberster Vertreter der Polizei bitte ich nochmals ausdrücklich um Entschuldigung, aber der Kollege Albach hat vollkommen korrekt gehandelt ...«

Alfred zündete sich erleichtert eine Zigarette an und lief dann auf schnellstem Wege zum Ausgang. Er war froh, diesen Auftritt hinter sich zu haben, zumal er selbst noch nicht wusste, was von dieser ganzen Angelegenheit zu halten war. Dabei hatte der Vorfall letzte Woche zwar tragisch, aber keineswegs geheimnisvoll oder gar kriminell ausgesehen. Der ehrenwerte Richter Dr. Ludwig Rothenberg war im Alter von 63 Jahren einem Krebsleiden erlegen. Rothenberg war für einen Richter relativ bekannt gewesen, weil er zeit seines Dienstes eine Null-Toleranz-Haltung verfolgt und selbst Kleinkriminelle für Jahre ins Gefängnis gesteckt hatte. Es war keine Seltenheit, dass er die von der Staatsanwaltschaft geforderten Höchststrafen nochmals überbot. Er war so etwas wie ein fränkischer »Richter Gnadenlos«, lange bevor ein anderer in einem anderen Teil des Landes damit in die Schlagzeilen und sogar kurzzeitig zu einem Regierungsamt kam. Rothenberg jedoch war kein gescheiterter Demagoge, sondern ein entschiedener Verfechter eines starken Staates. Er war verlässlich, stand zu seinen Prinzipien und fiel niemals um. Alfred hatte im Laufe seiner 30 Dienstjahre nur relativ wenig mit ihm zu tun gehabt, konnte sich aber noch gut an das eine oder andere Gespräch erinnern. Während eines Polizeiballs in den 90er-Jahren hatten sie sich zufällig an der Bar näher kennengelernt. Alfred war zuerst beim Tresen gewesen und hatte kaum damit begonnen, dem Barmann zu erklären, dass er seinen Glenfiddich samt Johnny Walker am besten gleich in den Ausguss schütten solle, als ihn die Pranke des Richters auf den Rücken traf.

»Ich unterstütze den Antrag der Kriminalpolizei«, hatte er etwas zu laut verkündet und dann das Flaschenregal einer intensiven Prüfung unterzogen. Als auch er dort keinen trinkbaren Whisky finden konnte, herrschte er den Barkeeper an, sofort zwei leere Gläser hinzustellen und ihnen dann aus den Augen zu gehen.

»Welche Marke bevorzugen Sie?«, hatte er Alfred gefragt.

»Das ist schwierig zu beantworten«, Alfred hatte schon etwas Probleme, sich fehlerfrei zu artikulieren, »Oban ist sehr gut oder Cardhu. Wenn die Stimmung passt, darf’s auch mal ein Glenlivet sein.«

»Keine weiteren Fragen«, hatte der Richter gerufen und einen Flachmann aus der Tasche gezogen. Er schenkte den Whisky in die leeren Gläser ein und prostete Alfred zu.

»Donnerwetter!«, entfuhr es Alfred.

»Sage ich doch!«

»Kräftig, kantig, aber nicht zu scharf«, Alfred roch an seinem Getränk, »was ist das für einer?«

»Nach dem zweiten Glas kann ich leider den Namen nicht mehr aussprechen«, Rothenberg hatte etwas Mühe, seinen Blick an Alfred zu heften. »Sie sind doch bei der Mordkommission, oder?«

»Alfred Albach«, er streckte dem Richter die Hand hin, »Hauptkommissar, K11. Ich war letztes Jahr Zeuge im Mordprozess Leissner.«

»Stimmt«, der Richter nickte langsam, »das war gute Arbeit damals.«

»Wir tun alle, was wir können«, antwortete Alfred bescheiden.

»Das stimmt leider nicht«, beschied Rothenberg und wankte wieder zu seinem Tisch. Seitdem bekam Alfred jedes Weihnachten eine Flasche Bruichladdich ins Büro geschickt.

Mit zunehmendem Alter war der Richter kaum toleranter geworden. Kurz bevor er wegen seines Gesundheitszustandes den Richterstuhl räumen musste, hatte er noch eine Bande von 17- bis 20-jährigen Graffitisprayern zu Haftstrafen beziehungsweise zu Jugendarrest verknackt, was ihm den großen Beifall des Innenministers einbrachte. Alfred selbst konnte so einen Umgang mit Jugendlichen nicht gutheißen, doch bekam er sonst kaum etwas von Rothenbergs Prozessen mit und der Whisky war wirklich exzellent.

 

Renan saß in ihrem Bürostuhl und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Seit dreieinhalb Jahren arbeitete sie nun schon gegenüber von Alfred, konnte sich aber immer noch stundenlang mit dem Betrachten des Treibens in der Fußgängerzone ablenken. Das Weihnachtsgeschäft war vorbei, die entsprechende Beleuchtung abgebaut, und alle unpassenden Geschenke waren umgetauscht. Langsam kehrte wieder Normalität ein. Es war kurz nach eins; die evangelische Jakobskirche veranstaltete mal wieder ein scheinbar willkürliches Geläute. Renan wunderte sich zum hundertsten Mal, warum man nie was von der gegenüberliegenden katholischen Elisabethkirche hörte, und legte beide Hände fröstelnd um die heiße Teetasse. Zusätzlich zu den Amtskirchen waren vor dem Fenster noch zwei einsame Zeugen Jehovas aktiv, die drei verschiedene Ausgaben des »Wachturms« hochhielten. Renan zog den Feldstecher aus der untersten Schreibtischschublade und stellte fest, dass die deutschsprachige Version von einer russischen und einer türkischen Übersetzung eingerahmt wurde. Vom Plärrer her kamen zwei jener höflichen und gut gekleideten jungen Männer über den Platz, die unschuldige Passanten immer in stark englisch gefärbte Gespräche über Gott und Jesus Christus zu verwickeln suchten. Sie ließen einen ­Business-Mann passieren, eine Kindergartengruppe links liegen und probierten ihr Glück schließlich bei zwei jungen Frauen mit H&M- und Zara-Tüten. Doch die Mädels schüttelten nur panisch die Köpfe. Bevor sie die Flucht antraten, zog eine aber noch ihren Geldbeutel aus der Handtasche und drückte dem verdutzten Missionar ein Geldstück in die Hand. An der seitlichen C&A-Fassade machten sich zwei Gebäude­reiniger daran, eine Graffittischmiererei zu entfernen. Renan blickte wieder durch den Feldstecher, konnte der gesprühten Krakelei aber keinen Sinn entnehmen.

»Darf ich auch mal?«

»Was?«, Renan fuhr herum. »Musst du mich so erschrecken?«

»Entschuldige, Kollegin«, Alfred zog seinen Mantel aus, »was gibt’s denn da zu sehen beim Brenninkmeijer?«

»Ach, gar nichts«, sie packte das Fernglas schnell wieder in die Schublade.

»Du wirst doch nicht etwa während der Dienstzeit Tele-Shopping betreiben?«, versuchte er zu scherzen.

»Komm mir bloß nicht so«, fauchte sie, »auf dich bin ich sowieso noch stinkig.«

»Tatsächlich«, erwiderte er provokant, während er sich fragte, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte.

»Das nächste Mal fährst du mit den Hinterbliebenen nach Hause und beruhigst sie«, Renan stand auf und ging zum Drehregler am Heizkörper. »Die Rothenberg hat die ganze Zeit mit ihrer Tochter gestritten, und der Sohn hat immer nur ›Ach, Mama‹ gesagt und ›Marion, lass doch‹ ... Und warum geht diese verdammte Heizung schon wieder nicht?«

»Wenn du glaubst, dass es mehr Spaß macht, den Honoratioren der Stadt zu erklären, warum ihr – offensichtlich an Krebs gestorbener – Freund noch in der Rechtsmedizin aufgeschnitten werden muss, kannst du das gerne das nächste Mal übernehmen«, Alfred ließ sich in seinen Stuhl plumpsen und zeigte sich ebenfalls genervt.

»Waahh«, Renan machte eine wegwerfende Handbewegung und bezog wieder Stellung hinter ihrem Schreibtisch, während Alfred scheinbar teilnahmslos auf den seinen stierte. Die beiden Arbeitsflächen waren das Psychogramm eines höchst unterschiedlichen Teams. Alfreds war peinlichst ordentlich und aufgeräumt. Es lagen keine losen Blätter, Schmierzettel, Lineale, Filzstifte oder Formulare herum. Neben der dunkelgrünen Schreibtischunterlage stand ein Locher und ein altmodischer Bleistiftspitzer mit Kurbel. Links befanden sich vier sauber beschriftete Ablagekästen: Eingang, Wiedervorlage, Ablage und Verzeichnisse. Im hinteren rechten Eck stand der Computerbildschirm, die Tastatur wurde hinter die Unterlage geschoben, wenn sie nicht in Gebrauch war. Einzig ein silberner Kuli und ein Bleistift durften auf der Oberfläche liegen bleiben. An besonders schlechten Tagen vergaß er auch manchmal, ein paar Tabakbrösel wegzuwischen. Alfred legte genauso großen Wert auf das Aussehen seines Arbeitsplatzes wie auf sein eigenes. Renan fand das eine spießig, wenn nicht gar zwanghaft, und das andere eitel. Ihr Tisch war von etwas geprägt, das sie gerne als kreatives Chaos bezeichnete – Alfred dagegen als Bermuda-Dreieck. Aktuell befand sich darauf der gesamte Inhalt der noch dünnen Akte »Rothenberg« verstreut. Fotos, Protokolle, Aussagen. Die PC-Tastatur lag verschüttet unter einem Haufen beschrifteter Zettel, mehreren Umlaufmappen und einem halb zusammengefalteten Stadtplan. Renan hatte zwar auch vier Ablagekästen, es aber noch nicht geschafft, eine Ordnung hineinzubringen. Wenn sie irgend­etwas weghaben wollte, stopfte sie es einfach dahin, wo noch am meisten Platz war. Als Folge davon suchte sie spätestens jeden zweiten Tag laut fluchend nach irgendeiner Unterlage oder einem Schriftstück, das sich dann ganz woanders befand. Links neben dem Bildschirm stand eine hölzerne Stiftschale, die vor Schreibgeräten jeder Größe und Farbe überquoll. Davor lagerten vier ausgedrückte Teebeutel auf einer ehemals weißen Untertasse. Außerdem schrieb Renan gerne Checklisten, die dann unter Rundschreiben, noch mehr Umlaufmappen und Angeboten zum Jobticket oder zur Entgeltumwandlung in Vergessenheit gerieten und grundsätzlich nie weggeworfen wurden.

»Wenn du willst, kannst du ja zur Rechtsmedizin fahren und dich mit dieser unleidlichen Pathologin herumschlagen«, setzte Alfred schließlich nach, als er aufstand und zur Kaffeemaschine ging.

»Vielleicht solltest du dir einfach abgewöhnen, vor säch­sischen Ärztinnen Ossi-Witze zu reißen«, lachte sie.

»Das hat man der doch nicht angehört«, rechtfertigte er sich, »irgendwie klang sie eher schwäbisch.« Alfred setzte sich mit der Kaffeetasse wieder hin und stellte erleichtert fest, dass Renans Zorn sich mal wieder ebenso schnell verzogen hatte, wie er gekommen war. Nach etlichen Monaten der Zusammenarbeit hatte er irgendwann akzeptiert, dass sie nicht anders konnte, als öfter mal Dampf abzulassen. Das dauerte selten lange, und er hatte sich angewöhnt, solche Momente dann einfach auszusitzen.

»Das wird jetzt aber wirklich interessant«, sagte Renan und nahm einen Schluck Tee, »der Mann hatte seit Jahren Krebs, eine natürlichere Todesursache kann ich mir kaum vorstellen.«

»Hoffen wir einfach mal, dass sich der ganze Zirkus auszahlt«, seufzte Alfred, während er seinen PC einschaltete, »ich darf jetzt erst mal einen Bericht für unseren Vizepräsidenten schreiben.«

»Der Schmidt war auch da?«

»Hast du den nicht gesehen? Klar, und das war noch mein Glück. Wenn der Polizeipräsident da gewesen wäre oder unser profilneurotischer Kriminaldirektor Herbert Göttler – nicht auszudenken!«

»Vielleicht hätte ich mich von der Tochter wirklich nicht so weich kochen lassen sollen«, grübelte Renan.

»Du hattest doch letztendlich gar keine andere Wahl«, beschwichtigte Alfred, »wer weiß, an wen die sich als Nächstes gewandt hätte. Vielleicht an den Oberstaatsanwalt oder gleich an den Oberbürgermeister ... Rate mal, wem die dann den schwarzen Peter zugeschoben hätten.«

»Also, daran habe ich in der Situation eigentlich überhaupt nicht gedacht«, sie schüttelte den Kopf und sammelte zerstreut den Inhalt der Akte zusammen.

 

Es war am vergangenen Samstag gewesen, als Renan außerplanmäßig ins Büro kam. Sie besaß keinen eigenen Computer und wollte flugs ein Schreiben an die GEZ verfassen, um diesen Schwachköpfen endgültig klarzumachen, dass sie ihren Fernseher aufgrund der immer weiter nachlassenden Qualität des Programms vor einem Vierteljahr dem Sperrmüll übereignet hatte und somit ganz gewiss kein Gerät mehr »zum Empfang bereit hielt« – was übrigens glatt gelogen war. Da traf sie auf Marion Shelley. Die junge Frau befand sich gerade im heftigen Disput mit dem Kollegen Büchel. Renan vernahm mehrmals den Ruf nach der Mordkommission, sodass sie noch vor Erreichen ihres Büros kurz entschlossen einen Haken schlug und den Kopf in Büchels Zimmer steckte.

»Was ist denn hier los?«, hatte sie gefragt.

»Ach, die Kollegin Müller«, hatte Büchel erleichtert gerufen, »dich schickt der Himmel. Ich versuche seit einer halben Stunde, dieser Dame hier klarzumachen, dass wir für den Erstzugriff zuständig sind und nicht für Leute, die friedlich im Bett sterben.«

»Ich wollte ja auch jemanden von der Mordkommission sprechen«, ereiferte sich die Frau, »aber da hier am Wochenende anscheinend nur Aushilfskräfte arbeiten ...«

»Wissen Sie was«, ätzte Büchel, »ich lasse mich von Ihnen jetzt nicht länger beleidigen. Hier haben Sie eine Kollegin vom K11. Versuchen Sie es bei der. Viel Glück!« Er schob die Dame unsanft aus seinem Büro und knallte die Tür zu.

Renan wusste nicht so recht, was sie von diesem Auftritt halten sollte. Da die Frau neben ihr aber plötzlich begann, ­heftig zu schluchzen, bat sie diese in ihr Büro und bot ihr einen Stuhl samt einem Päckchen Taschentücher an.

»So ein Idiot«, klagte sie mit zitternder Stimme und schnäuzte sich.

»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal«, Renan zog ihren gefütterten Parka aus und legte den Schal ab, »und dann erklären Sie mir ganz langsam, um was es geht.«

»Es geht um meinen Vater, Ludwig Rothenberg, er war Richter am Amtsgericht«, sie schnäuzte sich abermals.

»O. k.«, Renan blies sich eine Locke aus der Stirn und suchte einen Schmierzettel.

»Er ist vorgestern gestorben, und ich bin mir sicher, dass er ermordet wurde«, die Frau saß in ihrem Kaschmirmantel an Alfreds Platz und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Frau, ähm, ...«

»Shelley, Marion Shelley. Ich lebe in Boston und bin dort verheiratet.«

»Frau Shelley«, Renan bemühte sich um einen mitfühlenden Tonfall, was nicht zu ihren großen Stärken zählte, »es tut mir sehr leid für Sie, aber der Kollege erwähnte vorhin, dass Ihr Vater friedlich im Bett gestorben ist?«

»Er hatte Krebs«, sie fuhr sich mit den Händen durch den Pagenkopf, »aber er ist trotzdem ermordet worden! Ich will doch nur, dass mir jemand fünf Minuten zuhört.«

»Gut«, sagte Renan langsam, »ich schlage vor, Sie erzählen mir jetzt einfach mal in Ruhe, was Sie zu diesem Verdacht verleitet, und ich werde mitschreiben, sodass wir gleich eine Anzeige aufnehmen können, wenn sich das am Ende als notwendig herausstellt.«

»Danke«, flüsterte die Frau und rieb sich mit einem weiteren Taschentuch die Augen trocken.

»Schon gut«, nickte Renan. Insgeheim gab sie Büchel recht. Frau Shelley schien entweder hysterisch oder durchgedreht zu sein oder beides. Ihre neureiche Erscheinung war Renan nicht unbedingt sympathisch, aber wenn sie einen Mordverdacht zu melden hatte, musste ihr ja wenigstens jemand zuhören. »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser oder einen Tee?«, fragte Renan, weiterhin um Höflichkeit bemüht.

»Nein, nein, danke«, sagte Marion Shelley und entledigte sich mühsam ihres Mantels, »aber macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«

»Also, eigentlich ...«, druckste Renan herum, »ach, scheiß drauf. Rauchen Sie!« Sie reichte ihr eine Untertasse als Aschenbecher.

»Mein Gott«, die Frau atmete mit einem kräftigen Zug aus, »ich habe nicht mehr geglaubt, hier auf ein menschliches Wesen zu treffen.«

»Ähm, ja«, Renan berührte den Heizkörper und stellte fest, dass er nur lauwarm war, »was bringt Sie denn nun zu der Annahme, dass Ihr Vater ermordet wurde?«

»Er hat es mir gesagt ...«

»Wie? Was?«

»Ich kam wenige Stunden vor seinem Tod daheim an«, Shelley blickte Renan mit geröteten Augen an, »er lag im Bett und konnte kaum noch sprechen. Schließlich hat er meine Mutter und meinen Bruder hinausgeschickt und mir anvertraut, dass ihn jemand ermordet hätte.«

»Was hat er denn genau gesagt?«

»Er konnte nur noch flüstern, aber ich habe ihn genau verstanden. Er sagte: ›Jemand bringt mich um, mein Goldstück, hilf mir.‹ ... Ich sagte: ›Papa, aber du hast Krebs‹, darauf sagte er: ›Die Zeichen, zeig der Polizei die Zeichen.‹ ... Dann konnte er nur noch krächzen und dann ...«, sie zog heftig an ihrer Zigarette, während sich erneut Tränen aus ihren Augenwinkeln lösten.

»Zeichen?«, Renan runzelte die Stirn und blickte die Frau fragend an.

»Das habe ich auch gefragt«, sie schüttelte leicht den Kopf und nahm erneut einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette, »aber Papa konnte kaum noch sprechen. Ich habe nur noch ›Weiherhaus‹ verstanden und ›Gericht‹.«

»Zeichen in Weiherhaus und am Gericht oder vor dem Gericht, oder wie?«, Renan stand auf, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein.

»Und dann ist er gestorben. Er hat sich noch einmal kurz aufgerichtet, wollte etwas sagen und ... und dann sank er nach hinten und war tot ...«, sie drückte die Zigarette aus und starrte auf den kokelnden Rest der Asche. Renan brühte zwei Tassen Darjeeling auf und stellte der Frau ungefragt eine hin. Dann setzte sie sich wieder, kritzelte Strichmännchen auf ihren Block und musterte ihr Gegenüber eingehend. Marion Shelley war mittelgroß, mittelblond und mittelschlank. Ihre Aussage war höchstens mittelmäßig überzeugend. Sie trug eine Perlenkette, kleine goldene Ohrringe und hatte die manikürten Fingernägel rotbraun lackiert. Die Farbe war auf ihren Lippenstift und das Rouge abgestimmt. Unter dem Mantel trug sie einen Hosenanzug aus einer Art Tweedstoff von irgendeinem Modeschöpfer, dessen Namen man sicher nicht auf Anhieb korrekt aussprechen konnte. Ihr verfügbares Einkommen – oder eher das ihres Mannes – musste beträchtlich sein. Renan tat sich immer noch schwer, solchen Menschen unvoreingenommen zu begegnen. Sie war als uneheliche Tochter einer jungen Türkin zur Welt gekommen. Ihre Mutter hatte sich der drohenden Rückführung nach Anatolien durch die Familie entzogen und war durchgebrannt. In einem Mutter-Kind-Heim hatte sie den Zivi Erwin Müller kennengelernt. Die beiden fanden Gefallen aneinander und heirateten zwei Jahre später. Erwin versuchte, in seinem Beruf als Raumausstatter selbstständig zu werden, und Renans Mutter kümmerte sich um das Kind und ging putzen, sobald sie halbwegs regelmäßig Zeit dafür hatte. Sie bezogen noch jahrelang Sozialhilfe, und immer, wenn Renan mit ihrer Schulklasse wegfahren sollte, musste ihre Mutter auf dem Amt einen Antrag stellen, um sich die anfallenden Kosten leisten zu können. Das alles war gut 20 Jahre her, aber es waren die Jahre, die einen Menschen prägen.

Und nun saß sie am Samstag mit dieser aufgelösten, aber betuchten Wahl-Amerikanerin im kalten Büro und wusste nicht so recht weiter. Es war wieder mal einer jener Momente, in denen sie gerne Alfred um Rat gefragt hätte. Meistens stand dem ihr Stolz entgegen, heute aber wollte sie vor allem nicht vor Marion Shelley als inkompetentes Greenhorn dastehen.

»Wissen Sie denn mittlerweile, von welchen Zeichen Ihr Vater gesprochen hat?«, hakte Renan nach.

»Zuerst war ich tatsächlich vollkommen ratlos«, die Frau hatte sich wieder gefasst und spielte etwas verlegen mit dem Etikett des Teebeutels, »meine Eltern wohnen in Herpersdorf. Weiherhaus kommt gleich danach. Ich habe mich dort umgesehen, aber da war nichts. Dann habe ich meinen Bruder gebeten, mich zum Gericht zu fahren, aber das ist ziemlich groß. Wo sollte man da nach einem Zeichen suchen, vor allem, wenn man überhaupt keine Ahnung hat, nach was für einem.«

»Wir reden jetzt vom Justizpalast in der Fürther Straße?«, warf Renan ein.

»Ganz genau. Also sind wir wieder heimgefahren, und da ist es mir in Weiherhaus aufgefallen ...«

»Was?«

»Ein Totenkopf. Am Trafohäuschen kurz vor der Kreuzung!«

»Ein Totenkopf?«

»Ja. In Schwarz, Silber und Braun auf die Wand gesprüht. Etwa so groß«, sie deutete mit den Handkanten ein Quadrat an.

»Hören Sie, Frau Shelley«, sagte Renan um Diplomatie bemüht, »wir haben Tausende von Graffitis hier in der Stadt. Ich kann mir nicht vorstellen ...«

»Da waren aber noch viel mehr«, platzte es aus Marion Shelley heraus, »ich weiß, dass Sie mich wahrscheinlich für verrückt halten, aber ich bin am nächsten Tag noch mal die Strecke abgefahren, die mein Vater jeden Tag zur Arbeit benutzt hat, und ich habe noch sechs weitere Symbole entdeckt. Am Südfriedhof, an der Unterführung beim Hasenbuck, beim Dianaplatz, am Steinbühler Tunnel, am Plärrer und am Eck bei der DATEV.«

»Sechs weitere Totenköpfe?«, fragte Renan, während sie unter dem Namen der Frau die Stichworte Rothenberg, Richter, Zeichen und Totenkopf notierte.

»Nein, es waren noch andere Todessymbole darunter. Ein Galgen, ein Kreuz, eine Sense und dann noch so eine Kapuze von einem Henker.«

›Tochter durchgeknallt?‹ schrieb Renan unten auf den Block.

 

Am selben Samstagabend machte es sich Alfred gerade im Biedermeier-Sessel seiner Bibliothek bequem. Er hatte einen nervenaufreibenden Tag hinter sich. Am Vormittag hatte der allwöchentliche Großeinkauf von Lebensmitteln auf dem Programm gestanden, und am Nachmittag hatte seine Frau Irmgard ihn überredet, eine Trödelmarkt-Tour durch den Großraum zu veranstalten. Stundenlang musste er sie immer wieder davon abhalten, noch mehr silberne Teekannen, goldene Bilderrahmen, Gipsfiguren, defekte Musikinstrumente und geschliffene Gläser zu erwerben. Alfred selbst interessierte sich höchstens für alte Röhrenradios oder Teile von Büroausstattungen der Vorkriegszeit, die ihm wiederum von seiner besseren Hälfte missgönnt wurden. Was die Radios anging, so hatte er dafür sogar Verständnis. Die Dinger waren nun mal nicht gerade klein, und mehr als eines pro Zimmer machte auch wirklich keinen Sinn. Was sie aber gegen die Reiseschreibmaschine aus dem Jahr 1932 einzuwenden hatte, konnte er nicht nachvollziehen. Schließlich verzichtete er auf das Schmuckstück, und im Gegenzug ließ Irmgard von echt silbernen Vogelfiguren ab, die offensichtlich keinen weiteren Zweck erfüllten, als nutzlos herumzustehen und Staub zu fangen. Unter dem Strich war das ein fairer Deal gewesen. Nun war Irmgard mit zwei Freundinnen zu einer Vernissage aufgebrochen, sein Sohn Willy befand sich offensichtlich auch nicht zu Hause, und Alfred hatte endlich Zeit, die Zeitung zu lesen, sich ein Gläschen vom guten Glenryhlmysoaq zu gönnen und dabei eine Live-Aufnahme von Ella Fitzgerald zu genießen. Betrübt hatte er soeben den Traueranzeigen entnommen, dass der edle Spender dieses Whiskys letzte Woche verschieden war und in der folgenden Woche beerdigt werden sollte. Alfred hatte die Anzeige ausgeschnitten und auf seinen Arbeitstisch gelegt, um nicht zu vergessen, eine Beileidskarte zu besorgen. Den Bestattungstermin am Dienstagvormittag notierte er in seinem Kalender. Wenn nichts Gravierendes dazwischenkam, wollte er dem Richter persönlich die letzte Ehre erweisen. Er zündete sich eine Zigarette an und grübelte so lange, bis sie fast abgebrannt war. Auf dem Lesetisch neben dem Sessel lag ein Nürnberg-Krimi, den ihm sein Sohn zu Weihnachten geschenkt hatte. Der Junge war über 20 und offenbar nicht gewillt, von zu Hause auszuziehen. Er studierte Klavier und Cello am Konservatorium und richtete sich nach eigenem Bekunden auf ein brotloses Leben als Profi-Musiker ein. Es schien Alfred mehr und mehr, dass Willy so überhaupt nichts von ihm geerbt hatte. Sein Sohn war eher introvertiert, ging selten unter Menschen und schien politisch komplett desinteressiert. Von daher beruhigte es Alfred fast, dass ihm ab und zu mal der Schalk im Nacken saß und er seinem Vater dieses Buch geschenkt hatte, das den Großraum Nürnberg nun auch literarisch zum Schauplatz von Verbrechen machte. Er war sich sicher, dass ihn die komplett falsch geschilderte und dilettantisch recherchierte Darstellung von Polizeiarbeit wieder mal tierisch auf die Palme bringen würde. Er ließ den Blick über die Bücherregale schweifen und stellte fest, dass sich in seinem Teil der Bibliothek eh kaum Kriminalromane befanden. Außer ein paar Klassikern von Agatha Christie und Dashiell Hammett besaß er keine Exemplare dieser Gattung. Wenn, dann las er lieber gleich Agenten- und Spionage-Thriller.

Widerstrebend schlug er schließlich doch das erste Kapitel auf, als es an der Tür klingelte. Ungehalten ob der späten Störung öffnete er die Tür und stellte mit spontan einsetzender Freude fest, dass Renan die Treppe heraufkam.

»Ja, Kollegin«, entfuhr es ihm, »das ist ja mal eine angenehme Überraschung am Samstagabend.«

»Wie bist du denn drauf?«, entgegnete sie kopfschüttelnd und machte sich daran, ihre Stiefel auszuziehen.

»Ich bin nur verwundert, dass eine Frau in deinem Alter heute nichts Besseres zu tun hat, als ihren alten Kollegen zu besuchen«, Alfred deutete den Weg zur Bibliothek an und ging voraus.

»Normalerweise hast du ja recht, aber heute war ich zufällig im Büro und hatte dort ein Erlebnis der dritten Art.«

»In unserem Büro?«, er setzte sich wieder in seinen Sessel und bot Renan Whisky an, »etwas zu trinken?«, fragte er.

»Jetzt lass mich doch erst mal erzählen«, meckerte sie.

»Aber ja doch«, sagte er etwas eingeschüchtert.

»Also, da ist vor Kurzem so ein Richter gestorben, Rothenberg ...«

»Gerade habe ich die Todesanzeige gesehen ...«

»Und heute war seine Tochter im Präsidium und hat steif und fest behauptet, dass ihr Vater ermordet wurde, obwohl er zu Hause im Bett an Krebs krepiert ist!«

»Wie?«

»Du hast schon richtig gehört«, Renan zog die Beine an und lümmelte sich herausfordernd in den Sessel.

»Und wie soll das abgelaufen sein?«, Alfred schien amüsiert.

»Keine Ahnung«, Renan rieb sich die Nase, »das konnte sie mir auch nicht erklären. Angeblich hat ihr Vater es auf dem Sterbebett geflüstert und noch etwas von irgendwelchen Zeichen erwähnt. Woraufhin die Tochter seinen Arbeitsweg abgefahren ist und an sieben Orten verschiedene Todessymbole entdeckt haben will.«

»Todessymbole?«, er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Totenköpfe, Kreuze, Sensen und so weiter. Alle in unmittelbarer Nähe der Straßen an Häuserwände et cetera gesprüht.«

»Graffitis?«, lächelte er spöttisch und zündete sich eine neue Zigarette an.

»So was Ähnliches«, sagte sie unwirsch, während ihr Blick auf den Nürnberg-Krimi fiel. Sie nahm das Buch kurz hoch, überflog den Klappentext und warf es wieder zurück auf das Tischchen. »Und was mache ich, blöde Kuh? Ich setze mich doch tatsächlich an einem Samstag in einen Dienstwagen und fahre die Strecke ab!«, Renans Stimme begann, sich bedrohlich zu heben.

»Vorbildlicher Einsatz«, nickte Alfred.

»Haha! Sehr qualifizierter Beitrag«, es ärgerte Renan, wenn Alfred nicht dazu zu bewegen war, sich halbwegs sachlich zu äußern. Stattdessen übte er sich immer zuerst einmal in ironischen Kommentaren. Das war eine Unart, auf die man bei Polizisten in seinem Alter leider häufig traf. Was sie aber noch viel mehr ärgerte war, dass ihm ja wirklich oft etwas Gutes zu den vertrackten Fragen einfiel, sie es aber permanent aus ihm herausprügeln musste. Außerdem ärgerte sie sich über sich selbst. Wieder einmal hatte sie auf das Engelchen auf ihrer linken Schulter gehört und die merkwürdigen Angaben von Marion Shelley überprüft. Sie hatte sich den ganzen Tag einen Kopf über diese seltsamen Graffitis gemacht und war nun auch noch zu Alfred gefahren, um die Sache mit ihm zu besprechen.

»Es ist doch überhaupt nichts dabei, wenn du deinen erfahrenen Kollegen um Rat fragst«, hatte das Engelchen gesäuselt, »er wird sich freuen, dich zu sehen, und du hilfst damit einer verzweifelten Frau.«

»Es ist Samstag«, hatte das Teufelchen von rechts dagegen gestänkert, »du solltest auch mal an dich denken. Geh aus, du kannst Freunde treffen oder dich um dein vertrocknetes Liebesleben kümmern!«

»Geh lieber zu Alfred«, hielt das Engelchen dagegen, »zeig ihm, dass du Wert auf sein Urteil legst und dass du ihm vertraust!«

»Er wird sich bestenfalls über dich lustig machen«, prophezeite das Teufelchen.

»Wenn du mich nicht ernst nehmen willst, kann ich auch gerne wieder gehen«, giftete Renan.

»Aber Renan«, Alfred berührte beschwichtigend ihren Arm, »ich nehme dich doch ernst.« Er benutzte den Vornamen seiner Kollegin nur dann, wenn ihm wirklich etwas wichtig war. Sie hatte sich anscheinend gerade ordentlich in Rage phantasiert, und er spürte, dass er jetzt einen Gang zurückschalten musste. »Das tue ich übrigens fast immer. Die Frage scheint aber jetzt eher zu sein, ob wir die Aussage von Rothenbergs Tochter ernst nehmen müssen. Oder nicht?«

»Sehr richtig! Vielleicht könntest du dich mal dazu äußern?«

»Nun ja, zunächst könnten wir einfach unterstellen, dass die arme Frau den Tod ihres Vaters nicht so einfach verwinden kann und sich eine möglichst wirksame Ablenkung sucht ...«

»Genau. Das war auch mein erster Gedanke«, Renan beruhigte sich langsam wieder und blickte Alfred interessiert an.

»Dann müssen wir aber noch den politischen Aspekt so einer Sache bedenken«, er hob belehrend die Zigarette, »Rothenberg war nicht irgendwer, sondern ein vor allem in konservativen Kreisen hoch angesehener und beliebter Richter.«

»Das heißt?«

»Dass wir in so einem Fall immer sensibel sein müssen, weil man nie wissen kann, was das noch für Kreise zieht. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du der Tochter ja auch aufmerksam zugehört, dir Notizen gemacht und sogar ihre Angaben umgehend überprüft?«

»Wie ich vorhin versucht habe, dir zu erzählen!«

»Und damit hast du alles richtig gemacht, Renan«, Alfred breitete die Arme aus und blickte seiner Kollegin offen ins Gesicht. Er spürte, wie sie sich zunehmend entspannte, und musste sich wieder mal eingestehen, dass er ihr Selbstvertrauen noch immer zuweilen überschätzte.

»Dann sag das doch gleich«, entgegnete sie mit dem Anflug eines Lächelns.

»Entschuldige mein fehlendes Einfühlungsvermögen«, sagte er, »ich gelobe Besserung!«

»Nicht zu viel Asche auf dein Haupt, Alfred«, spottete sie versöhnlich, »aber wie gehen wir da jetzt weiter vor? Das ist doch wirklich ziemlich ...«, sie tippte mit dem Zeigefinger auf ihre rechte Schläfe und pfiff dabei.

»Also, normalerweise würde ich versuchen, den Angehö­rigen das Gefühl zu geben, dass wir uns der Sache annehmen, und das Ganze dann nach ein bis zwei Wochen abmoderieren, wenn sich die Trauer etwas gelegt hat. Das könnten wir hier auch so machen, je nachdem, wie sich der Rest der Familie zu dem Verdacht der Tochter verhält. Ein echtes Problem könnten wir allerdings mit diesen Graffitis kriegen«, er drückte die Zigarette aus.

»Wieso?«, Renan hatte an ihren Wollsocken herumgezupft, doch jetzt fuhr ihr Kopf plötzlich hoch.

»Weil der Rothenberg meines Wissens in den letzten Jahren ziemlich viele von diesen Sprayern zu unverhältnismäßig hohen Strafen verurteilt hat.«

»Woher weißt du so was bloß immer?«, fragte Renan halb aggressiv und halb bewundernd.

»Och, ich lese die Lokalzeitung, spreche mit Kollegen, und ich habe die natürliche Gabe, mir Kleinigkeiten relativ lange merken zu können, auch unwichtige.« Alfred stürzte den Rest seines Whiskys hinunter. »Auf jeden Fall glaube ich auch nicht, dass ich große Lust auf so eine Ermittlung habe.«

»Aber wir hätten da schon mal eine Zielgruppe mit einem Motiv«, grübelte Renan und nahm in Gedanken versunken den Nürnberg-Krimi noch einmal zur Hand.