Vorwort

Wer erinnert sich nicht an den ersten Schulaufsatz nach den Sommerferien: »Mein schönstes Ferienerlebnis«?

Da saß man dann und wusste kaum noch, was Ferien überhaupt waren, und was sollte man auch schreiben über diese gleichförmigen Tage zwischen Johannisbeersträuchern und Schwimmbadwiese, die nichts weiter waren als ein endloses Meer warmer Zeit?

Man kann sich fragen, warum die Lehrer sich das immer wieder antun. Vermutlich wegen der ein, zwei Kinder in der Klasse, die gar nicht weggefahren sind, weil der Vater die Stelle im Supermarkt verloren hat oder die Oma ins Krankenhaus musste. Das sind die Kinder, die zu fabulieren beginnen. Die sich ihre Abenteuer einfach ausdenken, ihre Reisen und Erlebnisse im Kopf stattfinden lassen.

Das sind dann die Aufsätze, die zu lesen sich lohnt.

Mit ein wenig Glück werden aus solchen Kindern später Schriftsteller.

Und wenn man ihnen als Herausgeber einer Anthologie die Aufgabe stellt: »Schreiben Sie uns bitte eine Inselgeschichte, sie kann von einer real existierenden, einer erfundenen oder einer inneren Insel handeln«, dann sollte man sich darauf gefasst machen, dass anschließend die Weltkarte neu gezeichnet werden muss.

 

Die in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren haben ihrer Idee der Insel vielfältige und gänzlich ungewöhnliche Gestalt verliehen.

Eine Badeinsel und ein Trainingsplatz gehören ebenso in den artenreichen Archipel wie das norwegische Kvaløya oder die Inneren Hebriden. Ein Wohnwagen kann ebenso wie ein Bauernhof das sichere Gestade für die Protagonisten sein wie eine Pfaueninsel oder Lütjensand.

Teils humorvoll, teils nachdenklich werden weit entfernt von Strandkorbidyll und Seemannsromantik Lebensentwürfe infrage gestellt, neue Wirklichkeiten geschaffen und alte Irrtümer aufgeklärt.

»Irgendwo ins grüne Meer

hat ein Gott mit leichtem Pinsel

lächelnd, wie von ungefähr,

einen Fleck getupft: die Insel.

Und dann hat er, gut gelaunt,

Menschen diesem Fels gegeben

und den Menschen zugeraunt:

Liebt die Welt und liebt das Leben!«,

schrieb James Krüss (19261997), der seine Heimatinsel Helgoland im Alter von sechzehn Jahren verlassen musste und sich stets nach ihr sehnte.

Es klingt bestechend einfach, hoffnungsvoll und vom Glauben an die Menschen getragen. Eine Utopie? Ein frommer Wunsch? Ein naives Sommerbild?

Die Geschichten in diesem Buch eint weniger, dass sie von Inseln handeln, als viel mehr von Menschen, die versuchen, dem Auftrag »Liebt die Welt und liebt das Leben!« nachzukommen. Die nach Hoffnung suchen und nach Glück in einer Welt, die vielleicht nicht immer sonnig und federwolkig, aber immerhin ihre ist.

Im Jahr der Kolibris

Maximilian Buddenbohm

Das war in dem Jahr, in dem die Kolibris auftauchten. Ich kann mich daran noch erinnern, weil mich die Kolibris so beschäftigt haben. Das Jahr weiß ich nicht mehr, aber die Sache mit den Kolibris, so etwas behalte ich. Da hat hier jemand nachts Kolibris an die Häuser gesprüht. Erinnerst du dich? Nein? Ach.

Einfarbige Kolibris, wie diese Silhouettenvögel. Aber nicht schwarz, nein, die waren blau, rot und grün, vielleicht gab es sogar noch mehr Farben. Richtig auffällig waren die. Abgesehen von den Farben waren sie alle gleich, mit einer Schablone gemacht. Sie waren natürlich viel größer als echte Kolibris, sonst hätte man sie kaum gesehen.

Erst waren es nur zwei an dem Eckhaus da vorne, auf frisch gestrichenen Wänden, die fielen sofort auf. Dann wurden es mehr, alle paar Häuser gab es einen. Dann sah man welche in den Nebenstraßen und irgendwann im ganzen Stadtteil. Man ging morgens aus dem Haus und fragte sich, wo es wohl heute neue Kolibris geben würde, und dann fand man auch prompt welche. Gespreizte Flügel, wie im Flug. Den langen Schnabel vorgereckt, als ob sie an tropischen Blüten saugen würden. Aber da waren keine Blüten, nur nackte Wände. Die Vögel waren viel hübscher als andere Graffitis. Das weißt du nicht mehr? Es waren wirklich so viele, ja. Und wir haben doch alle darüber geredet, damals. Weil man auch nicht wusste, was das sollte. Wieso ausgerechnet Kolibris? In Hamburg?

 

Und hast du gesehen, ein paar sind immer noch da, da vorne war eben einer, guck mal. Touristen fotografieren sie, das ist jetzt Urban Art und gehört so zum Stadtteil. Ich habe sogar schon Postkarten gesehen, auf denen sie drauf waren. Ganz normale Postkarten in den Drehständern am Kiosk. Das Hamburger Rathaus, die Alster, die Elbe, die Kolibris. Auch seltsam. Na, in dem Jahr jedenfalls haben wir diesen Spaziergang an der Elbe gemacht und die Reste vom Atoll gesehen. Das weißt du auch nicht mehr, was? Weil du es nicht wichtig fandst, nehme ich an. Wir fanden nie dasselbe wichtig, das ist fast schon witzig, jedenfalls aus heutiger Sicht. Wir waren kein sehr gutes Paar, was? Nein. Waren wir wirklich nicht.

Aber für mich war er wichtig, dieser Spaziergang an der Elbe, und ich sag dir, was daran wichtig war. Ich erzähle es dir, wenn du es möchtest, es hat etwas mit uns zu tun. Hörst du jetzt zu? Wirklich? Du kannst mir ruhig zuhören. Wenn es dich langweilt, kannst du einfach Tschüss sagen und gehen. Du musst dir nicht erst eine Wohnung suchen und ausziehen, wie damals, es ist viel einfacher. Okay, ich erzähle es dir ja. Heute würdest du übrigens auch keine Wohnung finden, es gibt hier keine leeren Wohnungen mehr, in die man spontan ziehen könnte. Heute bleiben Paare in Hamburg zusammen, weil keiner ausziehen kann. Die Mietpreise retten jetzt hier die Beziehungen.

 

Früher haben wir nie so zusammen gelacht, weißt du noch? Im Rückblick versteht man das gar nicht mehr. Alles so ernst und verkrampft, und dann noch so lange. Heute wären wir viel lustiger zusammen, glaube ich. Egal.

Da sind wir jedenfalls an einem Sonntag Hand in Hand durch den Hafen gegangen, wir waren gerade erst seit kurzer Zeit zusammen. Oder auch nicht, so eindeutig war das ja nicht. Aber immerhin gingen wir Hand in Hand, immerhin verbrachten wir die Nächte und die Wochenenden gemeinsam. Immerhin waren wir uns näher als in den Jahren davor, als das alles so endlos hin und her ging und keiner wusste, was mit uns war, wir nicht und die anderen erst recht nicht. Wir gingen da also Hand in Hand, und wie bei jedem Spaziergang mit dir versuchte ich, das normal zu finden. Ein normales Paar auf einem normalen Spaziergang, was man eben so macht, zu zweit. Ich versuchte zu glauben, das könne immer so bleiben und das sei es jetzt, das richtige Leben. Alles gut. Ich dachte: »Hand in Hand mit ihr« und versuchte, mir das so zurechtzudenken, dass es mich glücklich machte. Ich versuchte auch, mir dich als glücklichen Menschen vorzustellen. Glücklich mit mir. Und manchmal klappte das auch, besonders wenn das Wetter schön war und die ganze Stadt so aussah, als wäre alles gut. Wenn man da dann so am Fluss entlangging und sich nicht stritt, wenn man einfach nur ging, dann war es einfach. Du gingst also neben mir her, du gingst an meiner Hand. Sag mal, darf ich jetzt deine Hand nehmen? Wie früher? Komm, wir gehen wieder wie ein Paar und trinken gleich irgendwo einen auf damals. Ja. So machen wir das.

 

Wir gingen am Holzhafen entlang, es war so ein Tag mit schönem Wetter, und wir gingen viel weiter, als wir gedacht hatten. An Flüssen kann man so gut weit gehen. Da lag dieses Wrack in der Elbe, an Stegen vertäut, und du bliebst stehen, um es dir anzusehen. Schön sah das nicht aus, eher seltsam. Das Wrack konnte man auf den ersten Blick gar nicht deuten, wenn man nicht sowieso schon wusste, was das war. Ein Schiff war es sicher nicht, aber was war es dann? Ich habe es sofort erkannt, aber du konntest es natürlich nicht wissen. Ein kreisförmiges Gebilde von monströsen Ausmaßen, wie ein gigantischer, schiffshoher Rettungsring, aus dem ein großes Stück herausgebrochen war und dem man daher ins Innenleben gucken konnte. Wobei innen kaum noch etwas war. Zerborstene Verstrebungen, Plastikfolienfetzen, die von den Wänden hingen, sinnlos herumbaumelnde Taue und Strippen. Reste von Brettern, die so aussahen, als hätte es mal einen Zwischenboden gegeben, als wären da früher mehrere Etagen drin gewesen. Man hätte innen im Kreis herumgehen können, wenn nicht kniehoch Wasser unten drin gestanden hätte, wenn nicht sowieso ein Segment gefehlt hätte. »Das Atoll« sagte ich, »das ist ja das Atoll. Das kenne ich.« Und ich habe dir dann auch erzählt, was das war. Ich weiß, dass du das nicht mehr weißt, deswegen erzähle ich es dir ja.

 

Die größte künstliche Insel der Welt, so war das Atoll in der Zeitung beworben worden, als es damals vor Travemünde verankert wurde. Da war ich noch ein Kind, elf Jahre oder so. Es lag ziemlich weit draußen, kurz vor der Fahrrinne, wo den ganzen Tag die Fährschiffe nach Skandinavien vorbeizogen. So weit draußen lag es, dass ich nicht hätte hinschwimmen können, aus meiner Kindersicht war da draußen schon das offene Meer. In Wahrheit kann es so weit nicht gewesen sein. Das Atoll war jedenfalls etwas für größere Jungs, nicht für mich. Damals war es natürlich noch strahlend weiß und glänzte in der Sonne, ein höchst unwahrscheinlicher Anblick auf der Ostsee. Da erwartete man Tretboote und Luftmatratzen und plantschende Rentner und irgendwo weiter hinten die riesigen Fähren. Aber das Atoll sah wie in einem Film oder einem Reiseprospekt aus, es sah aus, als könnte es nicht da sein, wo es war. Es sah überhaupt nicht so aus, als könnte es ausgerechnet vor Travemünde in der Ostsee liegen. Das war einfach zu viel von allem, das war ein Bild, das sich jemand ausgedacht haben musste. Blaues Meer und blauer Himmel im Sommer, oben die weißen Möwen, unten weißer Strand, glückliche Feriengäste in der Sonne und dann noch diese weiße Party-Insel, die da auf dem Meer schaukelte. Das konnte eigentlich gar nicht wahr sein. Wie in der Eiswerbung im Kino sah das aus, als würde man einen Film von perfekten Stränden und perfekten Menschen sehen. Man hatte gleich diesen Song im Ohr, wenn man das Atoll sah, Like ice in the sunshine. Man hatte gleich dieses Kinogefühl und summte das Lied so vor sich hin. Dieses Lied, das in meiner Erinnerung nur aus dem endlos wiederholten Refrain bestand, immer wieder Like ice in the sunshine, das war damals doch jahrelang der Soundtrack der Sommerwochen. Like ice in the sunshine, immer wieder der Refrain, noch einmal und noch einmal, bis irgendwann doch noch das Saxofonsolo kam und diese Wahnsinnsfrau in der Schlussszene sich endlich in Großaufnahme das Calippo aus dem Dekolleté zog und anleckte. Ja, natürlich weiß ich das noch so genau. Das wissen alle noch, die es damals als Junge im Kino gesehen haben.

 

Und ich stand da und sah vom Strand aus zu, wie die Touristen mit Tretbooten zum Atoll fuhren oder hinschwammen. Ich sah die Leute oben auf dem Deck stehen und herumgehen, ich sah auch welche von oben ins Wasser springen. Diese ganz langen Kopfsprünge, wie von hohen Klippen irgendwo im Süden, gab es da nicht auch einmal einen Werbespot? Es gab eine Bar an Bord, man konnte sich da draußen auf dem Deck mit einem Cocktail in der Hand sonnen, glaube ich. Sehen konnte man das vom Strand aus natürlich nicht so genau, es war zu weit weg. Aber man hatte doch solche Bilder im Kopf. Manchmal warf jemand da draußen den kreisenden Möwen etwas zu, dann gab es wildes Geschrei, und immer mehr Möwen flogen vom Strand auf und zur Insel und kreisten kreischend darüber. Ich glaube, es gab sogar ein Restaurant an Bord, ich war aber nie drauf. Ich hätte in dem Jahr nicht mal das Geld für ein Tretboot gehabt.

 

Ich stand nur am Strand und überlegte, wann ich da wohl hinkommen würde. In zwei Jahren, in vier Jahren? Wie lange musste man wohl warten, bis man nicht mehr Kind, sondern so ein Jugendlicher war, der das alles machen und haben konnte? Einfach hinschwimmen, mit kräftigen Armen und ruhiger Ausdauer, wie die großen Jungs, die vor mir mit Anlauf vom Steg sprangen und dann einfach immer weiter kraulten, bis man ihre Köpfe in den Wellen aus dem Blick verlor. Ich bekam schon vom Zugucken Angst, so viel Kraft hatte ich einfach noch nicht. Man konnte unter dem Atoll durchtauchen bis in die Mitte des Rings. Das durfte man nicht, aber das war den großen Jungs natürlich egal. Man sah, wie die Köpfe vor dem Atoll abtauchten, dann waren sie weg und tauchten nicht wieder auf. Man hätte auch mit einem selbst bezahlten Tretboot dahin fahren können, das wäre auch okay gewesen. Das Geld am besten mit irgendeinem coolen Ferienjob verdient. Irgendwie selbst zur Insel kommen und da dann eine Freundin haben, das war der Traum. Da der Freundin eine Cola bestellen. Da vor ihr so einen Kopfsprung machen und ihr dann aus dem Wasser zuwinken, während sie oben lachend an der Reling steht und an einem Eis leckt, womöglich an einem Calippo, melting away. Aber ich konnte nicht einmal Kopfsprung. Damit fing es schon an.

 

Mit dreizehn oder vierzehn, dachte ich, könnte das vielleicht gehen. Manche waren mit dreizehn Jahren schon ziemlich groß, manche hatten mit vierzehn schon ein bisschen Bart. Ich war mit elf noch eher klein, aber das musste ja nicht so bleiben, wer weiß, da war noch alles drin. Schon der nächste Herbst oder Winter konnte die große Wende bringen. Doch, mit dreizehn hätte man da sicher hinschwimmen können. Und mit dreizehn konnte man eine Freundin haben, warum denn nicht, das hatten andere auch. Das waren dann also noch zwei Jahre Wartezeit für mich, das war so viel auch wieder nicht, das ging. Zwei Sommer zur Vorbereitung, die musste man sich eben als ausgedehntes Trainingslager vorstellen, das konnte man sportlich sehen. Und ich musste sowieso noch den Kopfsprung lernen, denn der gehörte dazu. Das hatten andere auch geschafft, das konnte man machen. Genau genommen war es sogar ganz normal, Kopfsprung zu können, ich hatte es nur irgendwie verpasst, den zu lernen, ich weiß gar nicht mehr, warum. Doch, Kopfsprung war wirklich normal. Und der ganze Rest, der war vermutlich auch normal.

 

Ich ging also an den frühen Abenden zum Steg und übte, wenn die Touristen endlich zum Essen in den Hotels und Pensionen verschwunden waren. Zuschauer wollte ich dabei lieber nicht haben. An der Kante stehen, runterbeugen, Arme ganz lang hängen lassen. Nicht nach vorne gucken, auf die Knie gucken. Zwischen den Knien der Strand und ein paar Spaziergänger über Kopf, die mussten mir egal sein. Die guckten auch nicht zu mir, die guckten immer nur nach unten und suchten nach hübschen Muscheln oder Steinen. Meine Finger zeigten immer weiter nach unten, als wollten sie ins Wasser fassen. Die Knie gerade und zusammengedrückt, da waren auch die Spaziergänger verdeckt, das war besser. Noch weiter runter, noch weiter, bis ich Übergewicht bekam und eh nicht mehr zurückkonnte. Ab nach vorne, ab nach unten. Das ging immer wieder schief, mein Körper wollte das einfach nicht. Ich machte einen albernen Bauchklatscher nach dem anderen, bis ich anfing zu frieren und nach Hause musste. Aber das machte erst einmal nichts, ich hatte noch zwei Jahre Zeit. Ich sagte mir das immer wieder, ich hatte genug Zeit. Zwei Jahre, bis ich auch eine Rolle in der Eiswerbung im Kino übernehmen würde. Ein wenig abwarten, ein wenig üben, ein wenig wachsen. Das war das Programm.

Ich stand abends frierend auf dem Steg und sah ab und zu zum Atoll. Bei Ostwind konnte man die Leute darauf sogar lachen hören. Die Leute lachten, und die Möwen schrien, weil ihnen wieder jemand etwas zugeworfen hatte. Und das Schreien klang natürlich, als würden die Vögel auch lachen, es war eine Bombenstimmung, da auf dieser Party-Insel. Und das würde ich dann auch bald tun, ich würde auch so laut lachen, dass die Kleineren es bei Ostwind am Strand hören konnten. Ich würde mit meinem Mädchen da oben auf dem Deck des Atolls stehen und auf den Strand sehen und vielleicht sogar irgendeinem Knirps freundlich winken. Und alles würde gut und richtig sein. Warum auch nicht? Und dann der Kopfsprung.

 

Im nächsten Winter wurde das Atoll in der erstbesten Sturmnacht von der Ankerkette gerissen und von den Wellen so dermaßen zusammengeschlagen, dass ein großes Stück aus dem Ring herausbrach. Der zertrümmerte Rest der Kunstinsel wurde von der tobenden Ostsee auf den Strand geworfen. Am nächsten Morgen sah es aus, als hätte das Meer auf dem seltsamen Ding herumgekaut wie ein Hund auf einem Gummispielzeug und es dann angewidert an Land gespuckt. Ich stand mit den anderen Travemündern vor dem Wrack und sah mir das Ding zum ersten Mal aus der Nähe an. Es sah ziemlich enttäuschend aus, was nicht nur daran lag, dass es beschädigt war. Es hatte, soweit man es noch erkennen konnte, aus der Nähe dann doch nur den gewöhnlichen Charme einer Badeinsel. Es war einfach nur viel, viel größer als die anderen, zu denen ich auch schon schwimmen konnte, diese Bötchen mit einer kleinen Rutsche darauf. Natürlich war alles, was nicht fest verschraubt war, im Sturm oder in den Taschen der Travemünder verschwunden, die suchend durch das Wrack krochen. Ich habe jedenfalls nichts mehr gefunden, was ich als Andenken hätte aufbewahren können, überhaupt nichts.

Das Wrack blieb dann einfach auf dem Strand liegen. Es lag den ganzen Winter da und auch den ganzen Sommer. Es sah nicht aus, als würde man es noch einmal reparieren können. Es lag da nur so mitten auf dem Strand, ein riesiges Stück Müll, um das sich keiner kümmerte. Was weiß ich, ein Versicherungsstreit oder so, wahrscheinlich wollte keiner die Bergung bezahlen. Touristenkinder kletterten immer wieder darauf herum, wir beachteten es irgendwann gar nicht mehr. Es dauerte ewig, bis die Reste geborgen wurden. Ich weiß nicht mehr, wann es endlich weg war, ob nach einem oder sogar erst nach zwei Jahren. Es lag da eben im Weg, und man machte beim Strandspaziergang einen Bogen darum, ohne noch lange hinzusehen. Wie um einen Findling oder einen DLRG-Turm. Ich habe im Sommer nach diesem Wintersturm jedenfalls doch keine Kopfsprünge mehr geübt, wozu auch. Und auch sonst kam es dann nicht so, wie ich es in der Werbung gesehen hatte. Na, jedenfalls nicht ganz so.

 

Und jetzt lag dieses Atollwrack also in Hamburg vor Anker. Ich habe dir das alles erzählt, und du hast genickt. Ich habe es dir erzählt, weil es mir wichtig war. Oder weil es in dem Moment wichtig wurde. Denn du standst ja da neben mir, vor dem Atoll. Du standst da, und wir hielten uns an den Händen. Du hast mich angelächelt, als ich dir erklärt habe, dass ich jetzt in der Kinowerbung sei. Zwar nicht auf dem Atoll, aber vor dem Atoll, egal, wen interessiert das, unwichtige Details. Entscheidend war die Frau an meiner Seite, die war wichtiger als die Party-Insel, die ohnehin nach nichts mehr aussah. Ich habe dir erklärt, dass ich jetzt angekommen sei, und dann habe ich dich geküsst. Und dann hast du gefragt, ob wir jetzt gehen könnten, so spannend sei das Wrack nun auch nicht. Doch, genau das hast du gesagt. Und du hast es nicht einmal böse gemeint, du hast ja wahrscheinlich nicht einmal zugehört.

 

Aber ich war eben nicht angekommen, das mit uns war nicht Like ice in the sunshine. Das mit uns war einen Versuch wert, du warst einen Versuch wert. Das hast du bei mir wohl auch gedacht. Ja? Genau. Natürlich, heute kann man das sagen, warum denn nicht, das ist alles lange genug her, wir können alles sagen. Niemand hat die Absicht, sentimental zu werden. Damals konnten wir überhaupt nichts sagen, weißt du noch, es war alles immer nur schwierig. Ich habe dann von dem Tag an auf das Ende gewartet, deswegen erinnere ich mich noch. Weil ich an dem Tag verstanden habe, dass es nichts werden konnte. Und das Ende kam dann doch erst ein Jahr später. Eigentlich hat es erstaunlich lange gedauert, das mit uns. Dafür, dass es nicht viel war, haben wir ganz schön lange gebraucht. Ich habe gar nicht gefragt, ob du auch Kinder hast? Ja? Guck mal, da vorne. Da ist so ein Kolibri. Neben der Eisdiele, siehst du?

 

Ich habe … was? Nein. Ich kann bis heute keinen Kopfsprung.

Ciao madre

Verena Güntner

Der Ätna ist das Erste, was ich sehe. Hat Schnee am Schlund. Ich setze mich auf meinen Koffer, ziehe den Reißverschluss vom Mantel ganz auf, hole die Kippenschachtel aus der Innentasche und halte sie mit Blick auf den Vulkan in den Händen. Ohne hinzusehen, weiß ich, dass die Ecken abgegriffen sind, sich an einigen Stellen die Farbe vom Karton gelöst hat. Irgendjemand hat aus dem Deckel die rechte Seitenlasche herausgerissen, um einen Filter zu bauen. Ich erinnere mich nicht daran, es ist Monate her, muss auf einer Party gewesen sein, in einer Bar? Dass ich betrunken war, besoffen, das weiß ich noch. Hellgrauer Dampf steigt vom Ätna in den wolkenlos blauen Himmel. Im Flieger hab ich die Draufsicht verpasst, hab unruhig geschlafen, den ganzen Flug über. Es war zu spät für eine Flugreise, der Arzt hatte mich mehrmals davor gewarnt und seine Unterschrift mit gerunzelter Stirn auf das Attest für die Fluggesellschaft gesetzt, ohne dabei mein vor Trotz starres Gesicht aus den Augen zu lassen.

 

Der Bus kommt erst in einer halben Stunde, sagt die Frau am Schalter. Ich esse den sogenannten Snack, den mir die hellblonde Stewardess im Flugzeug strahlend überreicht hat, als wären es Rosen, nicht Chips. Ich bitte einen älteren Mann, mit dem ich am Gepäckband ein paar Sätze gewechselt habe, kurz auf meinen Koffer zu achten, und gehe zur öffentlichen Toilette. Als ich zurückkomme, sehe ich ihn mit einer Hand auf meinen Koffer gestützt dastehen. Es ist eine schützende Geste meinem Gepäckstück gegenüber, die mich an etwas erinnert, ich weiß nicht, an was.

»Sind Sie das erste Mal auf Sizilien?«, fragt er.

»Ja, und Sie?«

»Ich wohne hier, also zum Teil. Im Winter komme ich her, wegen des Wetters.«

»Verstehe.«

»Wo fahren Sie denn hin?«

»Siracusa.«

»Oh, das ist eine gute Wahl. Bleiben Sie die ganze Zeit dort, oder fahren Sie ein wenig herum?«

»Weiß noch nicht.«

»Es lohnt sich, die Ostküste ist herrlich. Gerade um diese Jahreszeit. Also, wenn man es schafft, der Sehnsucht zu widerstehen, ins Meer zu springen.« Er lacht. »Besuchen Sie dort jemanden?«

»Nein.«

»Ach, dann …«, er zögert, »erwarten Sie noch wen.«

»Ich erwarte niemanden«, antworte ich kühl.

Der Mann lächelt, räuspert sich und schaut in den Himmel. »Ein herrlicher Tag«, sagt er.

Leute, die riesige Koffer und Reisetaschen hinter sich herschleifen, gehen an uns vorbei.

»Noch elf Tage bis Weihnachten«, sagt der Mann. »Regali, regali!«

 

Der Busfahrer steht breitbeinig auf dem Gehweg, macht auf meine Frage ein Zeichen zum Gepäckfach hin und steckt sich eine Zigarette an. Er trägt eine teure Sonnenbrille und wedelt lässig das brennende Streichholz aus. Macht keine Anstalten, mir zu helfen, scherzt stattdessen mit einer älteren Dame, die ihm kurz vor dem Einsteigen die rechte Wange tätschelt. Ein junges Mädchen stößt mich von hinten an, schiebt mich zur Seite und wuchtet meinen Koffer zwischen zwei große Rucksäcke.

Ich sitze am Gang, hab wenig Platz, versuche, eine bequeme Sitzposition zu finden, gebe irgendwann auf. Im Radio kommen 90er-Jahre-Hits, die der Busfahrer lauthals mitsingt, bei Wind of Change ziehe ich meine Kopfhörer auf die Ohren, lasse die Musik aber aus und schaue aus dem Fenster. Ich versuche, die Landschaft einzuordnen, vergleiche sie mit Orten, an denen ich schon war, einzelne verfallene Häuser ziehen an mir vorbei, über eine nicht fertiggestellte Straße treibt ein Mann seine Schafe. Das alles hab ich schon gesehen, aber die Landschaft bleibt unbestimmt, fremd. Als mir schlecht wird, hole ich routiniert eine Plastiktüte aus der Tasche, ich kann mittlerweile kotzen, ohne ein Geräusch von mir zu geben. Nicht mal das junge Mädchen, das jetzt neben mir sitzt und mit dem Kopf nach hinten an den Sitz gelehnt döst, bekommt etwas mit.

 

»Ortigia?«, frage ich den Busfahrer, und er spuckt mir einen Schwall Sizilianisch entgegen, zeigt mit beiden Armen nach rechts. Ich nicke, bedanke mich, ziehe den Rollkoffer laut polternd über den Bordstein hinter mir her.

Der Weg ist länger, als ich dachte. Männer kommen mir entgegen, die mich mit ihrem Blick nur kurz streifen. Auf der Brücke bleibe ich stehen, trete gegen den Koffer und schüttele den Arm aus. Das übliche Panorama: Meer, Fischerboote, kreisende Möwen. Ich atme tief durch: »Ciao mare«, sage ich, und im selben Moment geht ein älterer Mann vorbei und erwidert: »Ciao madre«.

An der Promenade ist der Blick aufs Wasser von einem grünen Bauzaun verstellt, der am Ufer entlangführt. Under construction steht auf dem Schild, und ich ziehe den kleinen zusammengeknüllten Zettel aus der Hosentasche, streiche ihn glatt. Pass auf dich auf, steht darauf und: Iss Cannoli!

 

Im Hotel lege ich mich im Mantel aufs Bett und schlafe sofort ein. Träume von Tierkadavern, die in einer Halle neben einem Sommercafé bei offener Tür aufeinandergestapelt lagern, einem großen Eisbecher, der so vollgesteckt ist mit kleinen, bunten Papierschirmchen, dass das Eis geschmolzen ist, bevor ich es schaffe, alle herauszuziehen. Als ich aufwache, steht die Sonne tiefer, im Zimmer ist es kalt geworden. Der Portier, Francesco, hat das Fenster geöffnet, als er mich vorhin ins Zimmer geführt hat. Das erhöhte Progesteron, davon hab ich im Netz gelesen, sorgt für die Albträume. Ich ziehe mein Handy aus der Manteltasche, greife das Papier mit den Wi-Fi-Zugangsdaten und logge mich ein. Ich tippe Progesteron und Bildersuche. Scrolle über Eierstöcke und chemische Verbindungen, bis ich ein Ziehen in der Magengegend spüre.

Francesco, der doch Alberto heißt, meint, es könnte schwierig werden, jetzt ein Lokal zu finden, das noch Essen serviert. »Siesta«, wir sprechen das Wort gemeinsam aus. Auch im Winter?, frage ich ihn. Und er lächelt, sagt: »Especially in winter and especially today.« Warum, will ich wissen, und er klärt mich auf, dass heute der Tag der heiligen Santa Lucia ist. Christliche Märtyrerin, 3. Jahrhundert, bla bla. Einmal im Jahr, am 13. Dezember, werden ihre Gebeine von Venedig nach Siracusa gebracht und bleiben eine Woche hier.

»One week is quite poor.«

»Yes, but for the rest of the year, we have one of her fingers.« Er lacht und reckt seinen rechten Zeigefinger in die Höhe.

Ich bleibe noch einen Moment vor dem Hotel stehen und logge mich wieder ein. Wikipedia sagt: Die Heilige wird bei Augenleiden, Blutfluss, Halsschmerzen und Ruhr angerufen. Sie ist die Patronin der Armen, der Blinden, reuigen Dirnen und der kranken Kinder.

 

In den engen Gassen kommen mir Menschenmassen entgegen. Sie alle wollen zum Domplatz, dort beginnt in zehn Minuten die Prozession. Ich bin die Einzige, die gegen den Strom steuert, manchmal muss ich in Hauseingänge ausweichen oder ein paar Schritte rückwärtsgehen, bis ich ein Schlupfloch in der Menge finde. Die Besitzer der Lokale, die mir Alberto genannt hat, heben entschuldigend die Hände: »La processione!«

Ratlos sehe ich mich um, merke den Unterzucker, der mir Tränen der Wut in die Augen treibt. Weiter hinten ist ein Supermarkt. Ich häufe eine sinnlose Kombination von Lebensmitteln aufeinander, Panettone, Frischkäse, Lakritzpastillen, eine eingeschweißte Packung Bananen, bezahle und trete wieder hinaus in den Strom. Im Gehen zupfe ich kleine Stücke aus dem Panettone und stecke sie mir in den Mund, stoße den Finger in den Frischkäse und lecke ihn ab. Als wir auf dem Domplatz ankommen, erhebt sich Lucias silberglänzende Statue schon am anderen Ende des Platzes über den Köpfen der Leute.

 

Der Winter in einem südlichen Land ist mir fremd, der Anblick von Daunenjacken, Schals und Mützen. Trotzdem sind viele der Frauen und Mädchen barfuß. Ich frage einen Jungen neben mir: »Why only the women?«, und zeige auf die bloßen Füße der Vorbeigehenden. Aber er spricht kein Englisch, zuckt nur die Schultern, und ich lasse es sein.

Es geht schleppend vorwärts. »Scusa«, sage ich und schlängele mich durch die Leute. In der Mitte des Domplatzes bleibe ich in einer Traube Menschen stecken. »Scusa«, sage ich wieder, aber ich komme nicht weiter. Ein dicker Mann drängt sich dicht an meinen Rücken. »Viva Santa Lucia«, ruft er und reißt beide Arme in die Höhe. Sein Geruch trifft mich wie ein Schlag. Ich suche in der Tasche nach einer Tüte, schlüpfe, weil ich keine finde, rechts durch einen Spalt und kämpfe mich zur nächsten Seitengasse durch. Die Hand auf den Mund gepresst, schaffe ich es bis zur Piazza unten am Wasser und kotze in den Mülleimer neben einer Eisdiele. Ich wische mir mit dem Mantelärmel den Mund ab und entschuldige mich beim Besitzer. Er verzieht kurz das Gesicht, mustert mich und winkt dann ab.

Auch hier unten ist alles voller Leute, die in Erwartung der Prozession am Straßenrand stehen und sich unterhalten. Ich gehe an den Kai und lehne mich über das Geländer. Das Meer liegt still, saugt die Sonne am Horizont in sich hinein, hat nichts zu tun mit dem Treiben hinter mir. Müdigkeit fällt mich an, grob und unvermittelt. So macht sie das, seit Monaten schon, kommt und geht. Plötzliches Vogelgeschrei lässt mich den Kopf drehen. In den Baumkronen ein Stück weiter rechts sitzen Hunderte Vögel, fliegen in Scharen auf, drehen eine kleine Runde, landen an anderer Stelle und kreischen schrill. Ich spüre einen Tritt, noch einen und noch einen. »Dass du noch da bist, weiß ich«, sage ich, und eine Frau, die ein paar Schritte neben mir steht, schaut zu mir rüber. Die Irritation in ihrem Blick wird zu einem Lächeln, als sie an mir heruntersieht. Ich erwidere es nicht, schaue sie mit starrer Miene an, und sie wendet sich dem Wasser zu. »Ihr braucht nicht freundlich sein zu mir«, sage ich laut, »nur deswegen braucht ihr nicht freundlich zu mir sein«, rufe ich, und sie geht weg.

 

In den nächsten Tagen wandere ich ziellos durch die Gassen, steuere zum Meer und umrunde Ortigia, wieder und wieder. »How was your day?«, fragt Alberto am Abend, und ich antworte »Great«, greife den Schlüssel und verschwinde in meinem Zimmer. Morgens malt Alberto Kreuze und Kreise in meinen Stadtplan von Siracusa: il Duomo, il Teatro Greco, Basilica di Santa Lucia al Sepolcro, Museo Archeologico Regionale, Tempio di Apollo, Tecnoparco Archimede, Fontana di Diana, Fonte Aretusa, Santuario Madonna delle Lacrime, und ich nehme den Plan, sage »Grazie«, gehe erschöpft hinaus und lasse ihn für den Rest des Tages und bis zum nächsten Morgen in der Dunkelheit meiner Tasche.