Der Bergpfarrer 384 – Die verheimlichte Entführung

Der Bergpfarrer –384–

Die verheimlichte Entführung

Und auch Jonas Bergström bekommt Probleme

Roman von Toni Waidacher

Das Haus stand in einer abgelegenen Straße, in einem schäbigen Münchner Vorort. Es war das letzte Gebäude in der Sackgasse, nirgendwo brannte ein Licht.

»Wo steckt eigentlich Mischa?«, fragte Max.

Thomas Bergmeister schaute sich um. »Keine Ahnung. Aber bestimmt wird er gleich kommen, er weiß ja, dass wir hier auf ihn warten.«

Der Bruder des Bergpfarrers lief ungeduldig auf und ab. Bis zu dem Haus waren es vielleicht zwanzig Meter, Tom hatte seinen Wagen absichtlich weiter vorne stehen lassen, – wohlweislich in Fahrtrichtung geparkt.

Zwischen den Fahrzeugen, die am Straßenrand geparkt waren, tauchte eine Gestalt auf. Ein Mann, der seinen Hund an der Leine führte. Der Rauhaardackel schaute die beiden Männer nicht weniger misstrauisch an, als sein Herrchen.

»Servus! Grüß Gott«, sagten sie beide gleichzeitig.

Der Mann ging an ihnen vorbei, ohne etwas auf diesen Gruß zu erwidern, und verschwand in einem der Häuser.

»Komischer Kauz«, bemerkte Max.

Der Detektiv zuckte die Schultern.

»Na ja«, erwiderte er, »dass ist halt eine merkwürdige Gegend hier, da sind die Leute schon mal so.«

›Big Tom‹ schaute sich um.

»Allmählich frage ich mich wirklich, wo Mischa bleibt.« Er schaute auf seine Uhr. »Hoffentlich ist ihm nichts dazwischen gekommen…«

Der Bruder des Bergpfarrers blickte die Straße hinunter. »Ich glaube, da ist er.«

»Herr im Himmel, wo bleibst du denn?«, fragte der Privatdetektiv.

Mischa zuckte nur die Schultern.

»Ich hatte halt noch was zu erledigen«, entgegnete er. ›Big Toms‹ Informant deutete zu dem Haus. »Wart ihr schon drin?«

»Freilich net«, schüttelte Max den Kopf.

»Na, dann mal los.« Mischa zog einen Bund Dietriche aus seiner Jackentasche und marschierte los.

Max und ›Big Tom‹ folgten ihm.

»Moment mal!«, rief der Polizist leise. »Du willst doch wohl nicht etwa am helllichten Tag dort hineinmarschieren?«

Der Informant des Privatdetektivs zuckte erneut die Schultern.

»Wieso net?«, fragte er zurück. »Das Haus steht doch leer. Oder habt ihr jemanden gesehen?«

Die beiden schüttelten die Köpfe.

»Net, solange wir hier warten«, sagte Tom.

»Dann ist meine Information doch richtig.« Mischa schaute sie an. »Also es ist so: Ihr seht ja selbst, dass dies hier net die vornehmste Gegend ist. Hin und wieder übernachten ein paar Freunde von mir in dem Haus. Ihr wisst schon, solche Leute wie ›Sir Henry‹. Aber in der vergangenen Woche sind sie abends vergebens hierher gepilgert, da gingen nämlich ständig Leute ein und aus. Der Burgstädter-Karl, der ein dicker Kumpel von Henry ist, hat am Montag der letzten Woche einen Rettungswagen vor dem Haus gesehen…«

Max und Tom schauten sich überrascht an.

»Warum erfahren wir das erst heute?«, entfuhr es dem Polizeibeamten.

Mischa machte eine vage Handbewegung.

»Der Karl war ein paar Tage im Krankenhaus«, erklärte er. »Verdacht auf Blinddarmentzündung, hat sich glücklicherweise aber nicht bestätigt.« Er grinste. »Allerdings hat der Bursche das gleich ausgenutzt und sich mal so richtig satt gefuttert«, setzte er hinzu.

Schon der zweite Dietrich passte, Mischa öffnete die Tür und schob sie auf. Sie standen in einem langen Korridor, von dem mehrere Türen abzweigten.

›Big Tom‹ hob schnüffelnd die Nase.

»Riechst du das?«, fragte er Max.

Der Bruder des Bergpfarrers nickte. »Genau wie in der angeblichen Anwaltskanzlei«, stellte er fest. »Hier wurde gründlich saubergemacht.«

Der Detektiv nickte. »So ist es. Damit dürften wir schon auf der richtigen Spur sein.«

»Um noch einmal darauf zurückzukommen«, bemerkte Mischa, »vor zwei Tagen wurden die Leute, die hier ein- und ausgingen, beobachtet, wie sie Sachen aus dem Haus räumten. Was genau das war, konnte man nicht so richtig feststellen, aber Karl und seine Kumpel konnten sehen, dass es dieselben Leute waren, die an dem bewussten Montag hier mit dem Rettungswagen vorgefahren waren.«

Max blickte Tom fragend an. »Glaubst du, dass sie Sebastian hier festgehalten haben?«

Der Detektiv zuckte die Schultern.

»Kann ich mir eigentlich net vorstellen«, antwortete er, »dazu ist die Gegend doch zu belebt. Ich bin überzeugt, dass die Burschen, die deinen Bruder entführt haben, ein stilleres Eckchen bevorzugen. Möglicherweise ist das hier so eine Art Zwischenbasis gewesen.«

Dennoch machten sie sich an die Durchsuchung des Hauses. Während Tom und Max sich das Erdgeschoss genau anschauten, stieg Mischa die Treppe hinauf.

Es war wirklich erstaunlich, wie sauber alles war, dabei hatte das Haus mindestens ein halbes Jahr leer gestanden, erzählte Mischa, als sie später wieder auf der Straße standen. So lange hatten es die Obdachlosen schon als Unterschlupf genutzt.

Max stand vor der Tür und schaute bedrückt drein. In jedem Zimmer, das er durchsucht hatte, hoffte er, eine Spur seines Bruders zu finden. Leider vergeblich.

›Big Tom‹ legte ihm tröstend die Hand auf den Arm.

»Noch ist net aller Tage Abend«, meinte er. »Früher oder später kriegen wir die Burschen!«

»Ich wünschte, ich hätte auch so viel Zuversicht«, erwiderte Max Trenker.

»Kopf hoch!«, sagte Tom aufmunternd und wandte sich dann an Mischa. »Du hältst bitte die Augen weiter offen«, sagte er, »und meldest dich sofort, sobald es Neuigkeiten gibt.«

Sein Informant nickte. »Geht klar, Tom, kannst dich auf mich verlassen.«

Während Mischa um die Ecke verschwand, stiegen Tom und Max in das Auto des Detektivs.

»Und jetzt?«

Tom schützte die Lippen.

»Jetzt bleibt nichts anderes übrig«, antwortete er, »als Vorbereitungen zu treffen, die Madonna an die Entführer zu übergeben. Andreas wird ja wohl inzwischen in St. Johann eingetroffen sein.«

Gemeint war Andreas Bogner, der für die Gesellschaft arbeitete, bei der die kostbare Marienstatue versichert war. Sie brauchten seine Hilfe, um die Figur aus der Kirche zu entfernen, ohne den Alarm auszulösen. Andreas, oder vielmehr die Versicherung, war im Besitz des Codes. Freilich hatten sie nicht vor, die wertvolle Statue an die Erpresser weiterzugeben, sondern sie gegen eine raffinierte Fälschung auszutauschen, die der Bergpfarrer daheim in seinem Safe im Arbeitszimmer aufbewahrte.

Schon einmal hat diese Kopie eine wichtige Rolle gespielt, als Diebe in die Kirche eingedrungen waren, um die Madonna zu rauben.

»Jedenfalls wissen wir jetzt«, bemerkte ›Big Tom‹, »dass die Ganoven nicht gänzlich unsichtbar sind, sie hinterlassen also auch Spuren.« Er startete den Motor und fuhr an.

Max saß neben ihm und starrte traurig vor sich hin. Nach Mischas Anruf im Pfarrhaus, war er so voller Hoffnung gewesen, endlich einen Hinweis auf seinen Bruder zu finden. Leider war diese Hoffnung wieder einmal zerschlagen worden.

Der Münchner Detektiv zog es vor zu schweigen, er wusste, dass es besser war, jetzt nichts zu sagen, sondern den Bruder des Bergpfarrers mit seinen Gedanken alleine zu lassen. Jedes weitere Wort wäre da nur störend gewesen.

*

»Yvonne, da bist du ja.« Lena Brock umarmte die Freundin.

»Schön dich zu sehen«, sagte sie und lächelte Pascal an, der neben seiner Schwester stand. »Gibt’s was Neues im Pfarrhaus?«

Der Franzose nickte. »Ja, die Entführer haben sich wieder gemeldet, sie haben es auf die Madonna abgesehen«, antwortete er. »Andreas Bogner, der Versicherungsdetektiv aus Nürnberg, ist gerade eingetroffen.« Pascal lächelte verlegen. »Ob ich wohl wieder hier bei euch in der Landklinik wohnen könnte?«

Lena nickte. »Aber freilich, dein altes Zimmer ist noch frei.« Sie umfasste Yvonne Metzler. »Und du? Du hast doch sicher auch noch keine Bleibe, oder?«, fragte sie.

Die Französin schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht…«

Die Kräuterexpertin drückte die Freundin an sich. »Na, selbstverständlich wohnst du bei mir im Austragshäusel!«

»Dann bringe ich schon mal mein Gepäck aufs Zimmer«, bemerkte Pascal und ging zum Wagen seiner Schwester, um die beiden Taschen und den Koffer heraus zu holen. Letzterer gehörte ihm, die beiden Reisetaschen Yvonne.

Eine halbe Stunde später, saßen sie auf der Terrasse des Austragshäusels und tranken Tee.

Adrian Keller, der Besitzer des Schirmerhofes und Erbauer der Landklinik, hatte sich zu ihnen gesellt.

Da Lena und Adrian zum Freundeskreis um den Bergpfarrer gehörten, war es nur selbstverständlich, dass sie sich über das Schicksal Sebastian Trenkers unterhielten.

»Dann haben die Ganoven also immer noch nicht ihren Plan aufgegeben, die Madonna in ihren Besitz zu bringen«, stellte der Arzt fest. »Und wir wissen immer noch nicht, ob Nathalie Baumann in die Sache verwickelt ist.«

»Ich bin davon überzeugt!«, erklärt Yvonne Metzler sofort und schaute ihren Bruder an. »Was sagst du dazu?«

Pascal zuckte die Schultern

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich davon halten soll«, antwortete er. »Zutrauen würde ich es ihr natürlich, aber sie ist seit ein paar Tagen verschwunden – nach unserer unerwarteten Begegnung...«

Dass Yvonne die frühere Verlobte ihres Bruders in Verdacht hatte, kam nicht von ungefähr, sie selbst hatte ja hautnah miterlebt, wie sehr Nathalie Pascal enttäuscht und ihm wehgetan hatte. Außerdem war bekannt, dass die Französin jahrelang unter dem Tarnnamen ›Clarissa Belfort‹ im Ausland gelebt, und möglicherweise auch etwas mit dem Verschwinden des Vermögens Doktor Kellers zu tun hatte. Es war, beim Transfer von den Vereinigten Staaten nach Europa, in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwunden.

Lena Brock, die in dem Austragshäusel auf dem Schirmerhof eine gut gehende Heilpraktiker-Praxis betrieb, hatte mit Yvonnes Hilfe rasch ein paar Hollerkücherl gebacken. Während sie einen Ausbackteig anrührte, hatte die Freundin die Blüten sauber verlesen und geputzt. Die wurden dann durch den Teig gezogen, der aus Mehl, Ei und Weißwein bestand, und rasch in heißem Fett gebacken. Lena bestäubte sie anschließend mit Puderzucker. Rasch waren diese knusprigen Köstlichkeiten verzehrt.

Adrian Keller schaute auf die Uhr.

»So, ich muss wieder hinüber«, sagte er und erhob sich, »Doktor Brandt wird jedem Moment eintreffen, und ich will ihn gerne begrüßen.«

Steffen Brandt war der Psychologe, den Adrian für die Landklinik eingestellt hatte. Glücklicherweise hatte der sehr fähige Arzt doch schon eine gute Woche vor dem eigentlichen Termin seine neue Stelle auf dem Schirmerhof antreten können.

Lena wandte sich an Pascal.

»Dann setzen wir die Sitzungen also hier fort?«, fragte sie.

Der Franzose nickte. »Einverstanden.« Er schaute seine Schwester an. »Und was hast du vor?«, fragte er.

Yvonne schaute zu den Bergen hinüber, sie erinnerte sich an die wunderschöne Tour, die sie mit Pfarrer Trenker unternommen hatte. Der Aufstieg zur Kandereralm und die Begegnung mit dem alten Thurecker-Franz waren ihr unvergessen geblieben. Aber vorher hatte sie noch etwas zu erledigen.

»Ich werde Nathalie ein wenig auf die Füße treten«, erklärte sie.

Ihr Bruder schaute sie erstaunt an. »Wie meinst du das?«

Sie lächelte grimmig.

»Ganz genauso, wie ich es gesagt habe«, antwortete die Französin. »Früher oder später wird sie wieder hier auftauchen, und dann steh ich vor ihrer Tür!«

Zusammen mit Lena räumte sie den Tisch ab.

»Bitte, sei vorsichtig, wenn du dieser Frau gegenüberstehst«, bat die Kräuterexpertin. »Du weißt, wie gefährlich und durchtrieben sie ist.«

Yvonne Metzler nickte.

»Das weiß wohl niemand besser, als ich«, antwortete sie, »aber wenn es darauf ankommt, kann ich genauso durchtrieben sein.«

Es klang wirklich wie eine Drohung.

Das Gästezimmer, in dem Yvonne sich eingerichtet hatte, war nicht sehr groß aber es genügt ihren Ansprüchen. Schon einmal hatte sie in dem gemütlichen Bett geschlafen und sich sehr wohl gefühlt.

Lena und sie kannten sich von einem Kongress, an dem sie als beide als Heilpraktikerinnen teilgenommen hatten. Sie waren sich sofort sympathisch gewesen.

Irgendwie ist es doch alles Schicksal, dachte die Französin, als sie in dem Zimmer saß und darüber nachdachte, welche Schritte sie unternehmen sollte.

Gut drei Jahre war es her, dass sie und Lena sich kennengelernt hatten, in all dieser Zeit war nur ein loser Kontakt geblieben, dann hatte Yvonne sich spontan entschlossen, einen kleinen Urlaub einzuschieben, und für ein paar Tage ins Wachnertal zu fahren. Dass sie ausgerechnet hier auf Nathalie Baumann treffen würde, hatte sie nicht voraussehen können, aber Yvonne war sicher, dass eine schicksalhafte Fügung hinter ihrem Entschluss stecken musste: Sie sollte herkommen und sie sollte die frühere Verlobte ihres Bruders wiedertreffen. Und die Französin war überzeugt, dass es ihre Aufgabe war, Nathalie ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

*