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Vollständige E-Book-Ausgabe der 2014 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgabe

1

Schon auf dem Bahnsteig in Snohomish fiel Jennifer Weston der junge Mann im abgetragenen Mantel auf. Er wirkte nervös, beinahe verängstigt und zog seinen zerdrückten Hut tief in die Stirn, als er ihren neugierigen Blick bemerkte.

Jennifer stieg in den Zug der Great Northern nach Seattle, wuchtete ihren Koffer ins Gepäcknetz und setzte sich auf eine freie Bank. Einer der vielen Arbeitslosen, die auf der Straße leben, dachte sie. Erst vor ein paar Tagen war ein Mann auf der Farm ihres Vaters gewesen und hatte sich ein Abendessen erbettelt. »Wenn die in Washington nicht bald was unternehmen, geht es uns bald allen so!«, hatte ihr Vater geschimpft, nachdem der Mann gegangen war.

Sie lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Scheinbar endlose Maisfelder und vereinzelte Farmhäuser und Scheunen flogen vorbei. Durch den Nieselregen und die dunklen Rußwolken von der Lokomotive waren sie nur schemenhaft zu erkennen. An einem der zahlreichen Bahnübergänge glaubte sie ihren Vater zu sehen, einen stämmigen Mann mit verwittertem Gesicht, aber als sie mit der Handfläche über das feuchte Fenster wischte, um ihn genauer erkennen zu können, war er verschwunden.

»Geh nur«, war seine Reaktion gewesen, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie nach Alaska gehen würde. »Seit du in diesem verdammten Krankenhaus arbeitest, warst du sowieso kaum zu Hause! Geh nach Alaska zu den Bären und Antilopen!«

»Elchen«, hatte sie ihn verbessert. Er hatte gern und viel geflucht, aber das hatte sie schon lange nicht mehr gestört. Einige ihrer Patienten waren auch nicht besser gewesen. Zwei Jahre hatte sie als Krankenschwester im Providence Hospital in Everett gearbeitet, ein Vergehen in den Augen ihrer Eltern. Sie hatten kein Verständnis dafür gehabt, dass die Tochter eines Farmers in der Stadt arbeitete.

Jennifer wandte sich vom Fenster ab und begegnete dem Blick des geheimnisvollen Mannes. Er saß zwei Bänke weiter neben einer Frau, die sich in seiner Gegenwart sichtlich unwohl fühlte und angestrengt in einem Roman las. Als Jennifer dem Blick des Mannes begegnete, drehte er rasch den Kopf weg, als hätte er sie die ganze Zeit angestarrt. Aber warum?

Sie war nicht so hübsch, dass sich die Männer ständig nach ihr umdrehten. An diesem Morgen schon gar nicht. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem braven Knoten hochgebunden und unter einem breitkrempigen Hut versteckt, und ihr langer Regenmantel ließ wenig von ihrer schlanken Figur erahnen. Er verdeckte das dunkelgrüne Wollkostüm, dass sie sich von ihrem Ersparten für die Reise gekauft hatte. Sie trug feste Schuhe und dicke Strümpfe, um besser gegen die Kälte im hohen Norden gewappnet zu sein.

Doch ihre dunklen Augen hatte schon Pete Dougherty immer bewundert. Der Sohn des Eisenwarenhändlers hatte monatelang um sie geworben und ihr sogar einen Heiratsantrag gemacht, aber der Gedanke, ihren Beruf aufzugeben und ihr Leben hinter einem Ladentisch zu verbringen, war ihr nie gekommen. »Jede Frau braucht einen Mann«, hatte ihr Vater gesagt, und sie hatte geantwortet: »Aber es muss der richtige sein.«

Sie musterte den Fremden verstohlen, überlegte angestrengt, ob sie ihn von irgendwoher kannte. Gehörte er zu den Landarbeitern, mit denen sie auf dem Fest am 4. Juli getanzt hatte? War er einer ihrer Patienten? Sie versuchte, ihn sich ohne den ungepflegten Bart vorzustellen, aber auch das brachte sie nicht weiter. Nein, sie kannte den Mann nicht. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für die Menschen, die sie im Providence versorgt hatte, und er gehörte nicht dazu. Wenn sie ihm jemals begegnet war, dann irgendwo auf der Straße.

Als sie sicher sein konnte, dass er sie nicht mehr beachtete, entspannte sie sich. Sie lehnte ihren Kopf gegen das Fenster und schloss die Augen. Während der vergangenen Nächte hatte sie kaum geschlafen. Sie war nervös und angespannt, und es belastete sie, einer ungewissen Zukunft in einem fremden Land entgegenzufahren.

Sie machte sich nichts vor. Ihre Unterschrift, die sie für mindestens drei Jahre an ein winziges Krankenhaus am Polarkreis band, hatte sie nur unter den Vertrag gesetzt, um vor ihren Problemen weglaufen zu können. Vor den uneinsichtigen Eltern, die sie an den heimischen Herd zu binden versuchten. Vor dem jungen Pete Dougherty, der ihr schon lange auf die Nerven gegangen war. Vor dem eintönigen Dienst im Providence Hospital, der lediglich Routinearbeiten von ihr verlangte und die Sorge um die kranken Menschen von deren Bezahlung abhängig machte.

Der Zug wurde langsamer und fuhr über mehrere Weichen, bevor er mit quietschenden Bremsen in einem nördlichen Vorort von Seattle hielt. Durch die Wagen ging ein heftiger Ruck. Einige der stehenden Passagiere wurden nach vorn geschleudert und zischender Qualm stieg an den Fenstern empor. Er vermischte sich mit dem Nieselregen und dem Nebel, der während der letzten paar Meilen zugenommen hatte und in dichten Schwaden über dem trostlosen Stationsgebäude hing. Ein Wetter, das Jennifer nur allzu vertraut war, gehörten Regen und Nebel an der amerikanischen Nordwestküste doch zu den ständigen Begleitern. Den letzten heißen Tag hatte sie vor sieben Wochen am 4. Juli erlebt, dem amerikanischen Nationalfeiertag.

Nur wenige Tage später war der lange erwartete Brief gekommen. Sie hatte ihn mehrmals gelesen und kannte ihn auswendig: »Sehr geehrte Miss Weston, wir freuen uns, Sie als neue Mitarbeiterin des Maynard Columbus Hospitals in Nome begrüßen zu dürfen, und übersenden Ihnen beiliegend Ihr Ticket für die Schiffsreise nach Alaska. Wir haben eine Kabine auf der Victoria für Sie gebucht und bitten Sie, sich am 25. August 1924 um spätestens 9 Uhr im Hafen von Seattle einzufinden. Die Victoria sticht um 10.30 Uhr in See und wird voraussichtlich zwei Wochen später in Nome eintreffen. Eine Angestellte unseres Krankenhauses wird sie am Anlegesteg begrüßen und Sie zu Ihrer Dienstwohnung führen. Wir wünschen Ihnen eine gute Reise und freuen uns auf Ihre Ankunft in Nome. Hochachtungsvoll, Dr. Curtis Welch.«

Der Bahnsteig war schwarz von Menschen, und die laute Stimme des Schaffners forderte die Passagiere auf, jeden freien Platz in den Wagen zu nutzen und sich an den Haltegriffen festzuhalten, falls sie keinen Sitzplatz mehr fanden. Während des Berufsverkehrs waren alle Züge überfüllt. Unter den zusteigenden Passagieren war auch ein Polizist, ein untersetzter Mann in einer schlecht sitzenden Uniform, der umständlich seinen Gürtel mit Pistole, Schlagstock und Taschenlampe zurechtrückte, bevor er sich an einer Haltestange festhielt. Er blickte gelangweilt in den Regen hinaus.

Jennifer schenkte ihm kaum Beachtung. Seltsam kam ihr nur das Verhalten des Mannes im abgetragenen Mantel vor, der sich verstohlen von seinem Platz erhob, sehr zur Freude seiner Nachbarin, und hastig das Abteil verließ. Floh er vor dem Polizisten? Hatte er etwas ausgefressen? Benahm er sich deshalb so komisch?

Aus den Lautsprechern drang ein ungeduldiges »All aboard!«, und der Zug setzte sich in Bewegung. Am spärlich bebauten Ufer des Lake Washington entlang wand er sich der Stadt entgegen. Die ersten Fabriken und Lagerhallen tauchten auf, ragten dunkel und unheilvoll aus dem nebligen Dunst. Am Rande einer Straßenkreuzung leuchtete das Schild eines Restaurants. Die Scheinwerfer einiger Automobile bewegten sich langsam durch den Regen.

Dann rückten die Häuser dichter zusammen, die Lichter kamen näher, und der Zug fuhr parallel zu einer breiten Straße, deren frischer Asphalt wie flüssiges Pech glitzerte. Die Lokomotive schnaubte, als hätte sie Mühe, die letzten Meilen bis zur Stadt zu schaffen, und die Wagen ratterten und schlingerten über die schlecht verlegten Schienen. Einige Schulkinder, die am Straßenrand auf den Bus warteten, winkten den Passagieren zu. Der Lokführer erwiderte ihren Gruß mit einem lang gezogenen Pfeifen, das in dem schlechten Wetter irgendwie wehmütig und verloren klang. Dann tauchte der Zug in den neuen Tunnel, der erst vor wenigen Jahren gebaut worden war, wurde langsamer und quälte sich schnaufend zur King Street Station empor.

Mit allen anderen Passagieren drängte Jennifer auf die Straße hinaus. Vor dem Aussteigen hatte sie den breiten Hut mit einer Nadel festgesteckt, aber der kühle Wind, der vom Puget Sound heraufkam, war böig und riss ihn ihr von den Haaren.

Der Polizist fing ihn auf und reichte ihn ihr. »Teuflisches Wetter heute, nicht wahr?«, sagte er. Er schien freundlicher zu sein, als sie gedacht hatte.

»Man gewöhnt sich dran, Officer.«

Er beobachtete grinsend, wie sie den Hut erneut feststeckte. »Na, ich weiß nicht«, erwiderte er. »Ich komme aus San Diego, da hat es fast nie geregnet.«

Sie hätte ihn gern gefragt, warum er nach Seattle gezogen war, aber der Polizist tippte bereits an seine Mütze und ging weiter. Sie nahm ihren Koffer auf und lief die King Street hinunter. Bis zum Hafen waren es nur drei Blocks, und es war viel zu teuer, eines der schwarzen Taxis heranzuwinken, die vor dem Bahnhof standen. Mit der linken Hand am Hut, damit er nicht noch einmal davongeweht wurde, und der anderen am Griff ihres Koffers folgte sie den vielen Männern und Frauen, die in den Fabriken, Lagerhallen und Büros am Hafen arbeiteten.

Kurz bevor sie die Second Avenue überquerte, hatte sie erneut das Gefühl, beobachtet zu werden, und drehte sich ängstlich um. »Passen Sie doch auf!«, schimpfte ein Mann, der gerade noch verhindern konnte, sie anzurempeln. Sie lief rasch weiter, aber der Augenblick hatte genügt, um den Mann im abgetragenen Anzug zwischen den vielen dunklen Gestalten zu erkennen. Sein schäbiger Mantel und sein zerdrückter Hut hoben sich unter den mit Drillichhosen und dicken Jacken bekleideten Hafenarbeitern deutlich ab.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Mann war knapp hinter ihr, und sie glaubte zu spüren, dass er immer näher kam. Vor lauter Eile übersah sie beinahe einen Lieferwagen, der hupend aus einer Einfahrt kam und mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf die Straße bog. Diesmal konnte der Mann hinter ihr nicht mehr abbremsen und lief in sie hinein. »Was haben Sie denn, Miss?«, rief er verwundert. Kopfschüttelnd ging er an ihr vorbei.

Jennifer versuchte hastig mit ihm Schritt zu halten. Das Gefühl, den geheimnisvollen Mann im Nacken zu spüren, wurde immer stärker. Sie wandte den Kopf, sah nur unbekannte Gesichter und schalt sich eine Närrin, weil sie vor einem harmlosen Landstreicher davonlief. Doch als sie sich erneut umdrehte, war er dicht hinter ihr, und seine dunklen Augen sahen genau zu ihr hin. Er verfolgte sie, war aus irgendeinem Grund hinter ihr her!

Sie rannte jetzt fast, überholte sogar den Mann, der sie geschimpft hatte. Normalerweise geriet sie nicht so schnell in Panik. In der Notaufnahme und bei Operationen hatte sie gelernt, schwierige Situationen zu meistern und ihre Nerven im Zaum zu halten. Wenn es um Leben und Tod ging, war es nicht leicht, die Ruhe zu bewahren, doch sie schaffte es meist. Selbst während des Feuers vor einigen Monaten hatte sie nicht durchgedreht. Sie hatte ihrem Vater geholfen, die verängstigten Tiere aus dem brennenden Stall zu treiben und das Feuer daran zu hindern, auf die benachbarte Scheune überzugreifen. Wie eine Besessene hatte sie die vollen Eimer zum Feuer geschleppt und Wasser in die Flammen geschüttet.

Sie war keines dieser verwöhnten Stadtmädchen, die schon in Ohnmacht fielen, wenn sie sich in den Finger schnitten oder in ein Gewitter gerieten. Und doch benahm sie sich gerade so. Als ihr bewusst wurde, wie albern sie sich verhielt, begann sie zu lachen. Sie lachte so sehr, dass sich einige Leute verwundert nach ihr umdrehten. Sie trat zur Seite und lehnte sich gegen eine Hauswand. Was ist bloß mit mir los, fragte sie sich, als der Anfall vorüber war. Bin ich schon so durcheinander, dass ich vor einem harmlosen Mann davonlaufe? Sie ging langsam weiter, bemühte sich, nicht mehr an den Fremden zu denken, doch dann tauchte er dicht neben ihr auf, seine Hand griff nach ihrem Arm, und sie geriet erneut in Panik und riss sich von ihm los.

Voller Angst rannte sie die Straße hinab. Sie nahm keine Rücksicht mehr auf die anderen Passanten, bahnte sich rüde einen Weg durch die Menge und blieb nicht einmal stehen, als sie einer jungen Frau den Koffer in die Kniekehlen stieß. »Was fällt Ihnen ein?«, rief die Frau hinter ihr her, aber sie hörte es gar nicht, wollte nur noch so schnell wie möglich den Hafen erreichen. Auf dem Schiff war sie sicher, dort konnte er ihr nichts anhaben.

Schwer atmend erreichte sie die Atlantic Street, die parallel zu den Piers am Hafen verlief, eine breite Straße, die von der elektrischen Straßenbahn und zahlreichen Automobilen befahren wurde. In ihrer Panik achtete sie nicht auf den Verkehr. Sie stürmte, ohne nach links und rechts zu blicken, auf die Straße, entging um Haaresbreite einer heftig klingelnden Straßenbahn, die gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, und lief vor einen schwarzen Pick-up-Truck, der zu einem der Piers abbiegen wollte. Sie prallte gegen den rechten Kotflügel und stürzte auf die Straße. Ihr Koffer öffnete sich, und das blaue Kostüm, die weiße Rüschenbluse, ihre Unterwäsche und das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, das sie heimlich eingepackt hatte, fielen auf das Kopfsteinpflaster.

Sie hörte einen Hund bellen und sah einen Mann aus dem Pick-up-Truck steigen. »Ich hab Sie nicht gesehen, Miss!«, entschuldigte er sich. »Tut mir furchtbar leid! Ist Ihnen was passiert? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Der Sturz hatte Jennifer zur Vernunft gebracht und sie konnte schon wieder lächeln. Ohne sich von dem Mann helfen zu lassen, stemmte sie sich vom Boden hoch. Sie packte rasch die herausgefallenen Sachen in den Koffer, schloss den Deckel und wischte sich den Schmutz von ihrem Kleid. »Halb so schlimm, es geht schon wieder«, meinte sie verlegen.

»Und Ihnen ist auch wirklich nichts passiert?« Sein Englisch klang etwas holprig und hatte einen fremden Akzent, den sie nicht zuordnen konnte.

»Nein, alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. Bei dem Gedanken, dass sie ihre Unterwäsche auf dem Kopfsteinpflaster verstreut hatte, wurde sie noch verlegener. »Ich bin Krankenschwester. Ich wüsste, wenn mir was fehlt.«

Er war erleichtert. »Hendrik Arnesen«, stellte er sich vor. Er streckte ihr eine schwielige Hand hin und sie griff zögernd danach. Sein Händedruck war fest, wie bei einem Farmer. »Ich komme aus Norwegen ... wie die Wikinger.«

»Jennifer Weston«, nannte sie ihren Namen. »Aus Snohomish.«

»Snohomish ... klingt geheimnisvoll.« Er war älter als sie, vielleicht fünfundzwanzig, ein hagerer Bursche mit blitzenden Augen voller Humor. Sein wettergegerbtes Gesicht ließ darauf schließen, dass er sich die meiste Zeit im Freien aufhielt. »Sie haben es eilig, nicht wahr? Kann ich Sie mitnehmen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. Die offene Art des Norwegers und sein fröhliches Lächeln hatten sie bereits für ihn eingenommen und sie hatte den Mann im abgetragenen Mantel vergessen. »Ich habe nur noch ein paar Schritte.« Sie deutete auf den mächtigen Passagierdampfer mit dem schwarzen Schornstein, dessen Aufbauten an einem der Piers in den Nebel ragten. »Ich bin auf der Victoria gebucht, nach Alaska. Aber vielen Dank, ich …«

»Das trifft sich gut«, ließ er sie gar nicht ausreden. »Dort will ich nämlich auch hin. Ich wohne in Alaska, wissen Sie?« Er amüsierte sich über ihren erstaunten Blick und griff nach ihrem Koffer. »Ach, übrigens«, sagte er, als der schwarze Husky auf der Ladefläche zu bellen begann. »Das ist Balto.«

2

Als die Victoria mit einem lang gezogenen Tuten ablegte, stand Jennifer auf dem Oberdeck und blickte auf die winkenden Menschen im Hafen hinab. Sie suchte vergeblich nach einem bekannten Gesicht. Ihr Vater wäre ohnehin nicht gekommen, auch wenn sie ihm gesagt hätte, wann das Schiff die Anker lichtete, und die beiden Kolleginnen, mit denen sie befreundet war, hatten anscheinend Dienst. Erst als die Victoria schon mehrere Meter vom Ufer entfernt war, sah sie ihre Freundinnen aus einem Taxi steigen und zum Pier laufen. »Mach’s gut, Jenn!«, riefen beide, »alles Gute in Alaska! Schreib mal, wie’s da oben ist! Wenn’s in Nome schönere Ärzte gibt, kommen wir nach!«

»Da gibt’s nur Eisbären!«, erwiderte sie lachend. »Haltet die Stellung!«

Der Bug des schweren Passagierdampfers schwenkte nach links und die Victoria nahm langsam Fahrt auf. Mit stampfenden Maschinen fuhr sie in den Puget Sound hinaus. Der Nebel hatte sich aufgelöst und es nieselte nur noch ein wenig. Frischer Wind ließ die Flaggen an den Aufbauten flattern. Einige Fischerboote wichen ihnen respektvoll aus, und ein einsamer Angler, der am Ufer einer kleinen Insel stand, ließ seine Angel sinken und winkte ihnen zu.

Majestätisch wie ein Ocean-Liner zog die Victoria durch die Bucht. Vor der Küste der Olympic Peninsula war das Meer ruhig, und auf den Wellen tanzten nur wenige Schaumkronen. Der frische Wind wehte Jennifer ins Gesicht und vertrieb die Wehmut, die sie beim Abschied von ihren Freundinnen empfunden hatte. Selbst ihr strenger und ungerechter Vater tat ihr plötzlich leid.

Sie wandte sich von der Reling ab und stutzte. Für einen Moment glaubte sie, eine flüchtige Bewegung bei den Rettungsbooten gesehen zu haben. Sofort kehrten ihre Gedanken zu dem Mann im abgetragenen Mantel zurück. Sie wich zur Reling zurück und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie einen der Matrosen, einen jungen Burschen mit rotblonden Haaren, der gerade dabei war, die festgezurrten Riemen eines Bootes zu überprüfen. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken.

Was war bloß mit ihr los? Sah sie schon Gespenster? Warum sollte ein wildfremder Mann sie bis auf das Schiff verfolgen? Lautes Hundegebell hinderte sie daran, weiter darüber nachzudenken. Sie wandte den Kopf und sah den schwarzen Husky über das Deck springen. Er blieb vor einem der Rettungsboote stehen und schnüffelte daran, rannte an der Reling entlang und verewigte sich auf einer Taurolle. Ohne sich um den missbilligenden Blick des Matrosen zu kümmern, lief er weiter. Er bellte ein junges Ehepaar an, das zum Händchenhalten auf das Oberdeck gekommen war, kurvte um einige andere Passagiere herum und blickte mit wedelndem Schwanz an ihr empor.

»Balto, nicht wahr?«, begrüßte ihn Jennifer fröhlich. Sie freute sich darüber, dass der Husky sie erkannte, auch wenn sie selbst nicht genau wusste warum. »Darfst du denn ganz allein auf dem Deck herumtollen? Ob das dem Captain gefällt?«

»Captain Baldwin ist ein guter Freund von mir«, antwortete eine bekannte Stimme. Sie blickte auf und erkannte den Norweger, dem sie vor das Auto gelaufen war. »Er hat mir erlaubt, den Hund an Deck mitzunehmen. Nur während der Mahlzeiten muss ich ihn in der Kabine lassen.« Er beugte sich zu dem Husky hinab und kraulte ihn hinter den Ohren. »Balto und ich wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns nicht an die Reederei verpetzen würden.«

»Keine Angst«, versprach sie, »ich sage nichts.«

Er hob den Hund vom Boden auf und nahm ihn in den Arm. Die Art, wie er ihn anblickte und ihm das dichte Fell kraulte, ließ erkennen, wie sehr er ihn mochte. »Er braucht die frische Luft. Im Zwinger auf dem Frachtdeck würde er durchdrehen.« Er lächelte. »Er schläft sogar an Deck, wie ein alter Seebär.«

»Er darf nicht bei Ihnen schlafen?«

»In meiner Kabine würde er sich nicht wohlfühlen«, erwiderte Hendrik. »Balto mag keine engen Räume. Er schläft sogar draußen, wenn es stürmt und schneit. Sibirische Huskys haben ein dickes Fell.« Er blickte dem Husky in die blauen Augen. »Ist doch so, Balto? Höchste Zeit, dass der Winter kommt, was?«

Jennifer wollte den Husky im Nacken kraulen, so wie sie es bei ihrem Hund auf der Farm getan hatte, aber Balto war davon gar nicht begeistert. Er schnappte nach ihr und knurrte grimmig. Sie zog rasch ihre Hand zurück.

Hendrik setzte den Hund ab. »Machen Sie sich nichts daraus, Miss. Er meint das nicht persönlich. Das ist der Wolf in ihm. Mich hat er erst nach zwei Wochen an sich rangelassen. Ich glaube, er hält es für ein Zeichen von Schwäche, sich von einem Zweibeiner verwöhnen zu lassen. Aber trösten Sie sich. Wenn er Sie nicht mögen würde, hätte er sich ganz anders verhalten.«

»Sie meinen, dann hätte er mir die Hand abgebissen?« Sie blickte dem Hund lächelnd hinterher, bewunderte seinen lockeren Gang und die starken Muskeln, die sich unter seinem dichten Fell bewegten. Es war rabenschwarz, nur die untere Hälfte seines rechten Vorderlaufs und sein Bauch waren weiß.

»Er weiß, was er will«, sagte Hendrik stolz.

»Balto ... ein seltsamer Name.«

»So hieß einer der Lappländer, die Fridtjof Nansen auf seiner Grönland-Expedition begleitet haben«, erklärte Hendrik. »Ist über dreißig Jahre her. Nansen war ein bekannter norwegischer Forscher, einer unserer großen Helden.«

»Dann kommt Balto aus Norwegen?«

»Nein, aber er hat einem Norweger gehört.« Hendrik zog eine Pfeife aus seiner Anoraktasche, holte sich durch einen fragenden Blick ihr Einverständnis und begann sie zu stopfen. »Leonhard Seppala, einer der besten Musher. Hat dreimal die Alaska Sweepstakes gewonnen, so heißt ein großes Schlittenhunderennen, das früher jedes Jahr veranstaltet wurde. Er hat mir den Husky geschenkt, weil er angeblich nicht zum Schlittenhund taugte. ›Viel zu schwach und zu wenig ausdauernd‹, sagte er, ›der lernt es nie!‹ Mir soll’s recht sein. Ich glaube, es gibt im ganzen Norden keinen besseren Leithund als Balto.«

Sie beobachteten beide, wie Balto an der Taurolle stehen blieb, die er markiert hatte, noch einmal das Bein hob und schnüffelnd zu einem der Rettungsboote emporblickte. Die Boote hingen an einer kranähnlichen Vorrichtung, um im Notfall schnell über die Reling geschwenkt werden zu können. Mit Riemen verzurrte Planen verhinderten, dass Wasser in die Boote lief.

»Möchte wissen, was er hat«, wunderte sich Hendrik. »Ob einer der Matrosen eine Kiste Whiskey in dem Boot versteckt hat? Balto riecht Alkohol auf hundert Meilen. Seppala braut seinen eigenen Schnaps, wissen Sie?«

Oder es hat sich ein blinder Passagier in dem Boot versteckt, dachte Jennifer und dachte wieder an den Fremden im abgetragenen Mantel. Aber sie sagte nichts. Der Gedanke, der Mann könnte sich heimlich an Bord geschlichen und in einem Rettungsboot versteckt haben, war zu abwegig.

»Was treibt Sie nach Alaska?«, fragte Hendrik.

»Mich?« Sie brauchte eine Weile, um ihre Gedanken zu ordnen. »Ich brauche dringend einen Klimawechsel.« Sie erzählte von ihren Eltern, der eintönigen Arbeit im Providence Hospital, verschwieg nur ihren aufdringlichen Verehrer. Warum, vermochte sie nicht zu sagen. »Ich habe beim Public Health Service unterschrieben, und die haben mich nach Nome geschickt.« Sie schmunzelte. »Ich wäre auch nach Hawaii gegangen.«

»In Nome gibt es sicher mehr zu tun. Können Sie Zähne ziehen?«

»Zähne ziehen? Ich verstehe nicht ...«

Er zündete seine Pfeife an und zog ein paarmal daran, bis der Tabak glühte. »Weil Dr. Welch seine Schwestern öfter in die Dörfer schickt. Auf der Halbinsel gibt es so viele Siedlungen, die würde er allein gar nicht alle schaffen. Die Schwestern kümmern sich um die Eskimos, geben ihnen Spritzen und verteilen Medikamente, und manchmal müssen sie sogar Zähne ziehen.«

»Das werde ich wohl noch lernen müssen«, sagte sie.

Sie schwiegen eine Weile und blickten auf das Meer hinaus. In der Ferne war die Küste von Vancouver Island zu sehen, einer riesigen Insel, die parallel zum kanadischen Festland verlief. Die Sonne war zwischen den Wolken hervorgekommen und brachte die Küste zum Leuchten. Einige Fischerboote schaukelten im Wasser. Möwen schwebten krächzend über dem Bug und warteten darauf, dass einer der Passagiere sich erbarmte und ihnen einige Brotkrumen zuwarf. Balto vertrieb sie durch aufgeregtes Bellen, wurde nur noch von der dumpfen Schiffssirene übertönt.

»Sind Sie Farmer?«, fragte Jennifer.

Hendrik nahm seine Pfeife aus dem Mund und nickte. »Das war ich mal, aber länger als ein paar Jahre hab ich nicht durchgehalten. Wenn ich ehrlich bin, war mir die Arbeit auf den Feldern schon in Norwegen zuwider. Vor ungefähr zehn Jahren kamen wir nach Amerika. Meine Eltern kauften eine kleine Farm, ungefähr vierzig Meilen südlich von Seattle. Ich hielt es ganze zwei Jahre aus, dann packte ich meine Sachen und ging nach Alaska.« Um seine Mundwinkel bildeten sich kleine Falten. »Alaska erinnerte mich an Norwegen. Ich mag die Kälte und die Weite. Ich verdiente mir ein paar Dollar, arbeitete in einem Saloon und einem Laden und auf den Goldfeldern, na, und dann kaufte ich mir eine Ausrüstung und ging in die Wildnis. Der Rest war nicht schwer. Wir Norweger verstehen was von der Jagd. Wir bauen bessere Blockhäuser als die Kanadier, und mit einem Hundeschlitten können wir auch umgehen. Ich jage für einen Händler in Nome, und die Felle der Tiere, die ich erlege, tausche ich gegen Vorräte und neue Ausrüstung ein.«

»Dann sind Sie ein richtiger Trapper?«

»Kann man so sagen«, antwortete er amüsiert. »Wollen wir heute Abend zusammen essen, Miss? Am Tisch des Captains ist noch ein Platz frei, und ich dachte mir ...« Er errötete leicht. »Ich würde mich sehr freuen, Miss.«

Jennifer überging seine Verlegenheit mit einem Lächeln. »Natürlich, gern«, sagte sie. »Aber nur, wenn Sie mich Jennifer nennen.«

»Sehr gern«, erwiderte er. »Ich bin Hendrik.« Er klopfte seine Pfeife auf der Reling aus und hatte es plötzlich eilig, sich aus dem Staub zu machen. »Wird höchste Zeit, dass ich Balto sein Fressen gebe, sonst wird er ungemütlich.«

Sie blieb an der Reling stehen und beobachtete, wie er den Husky mit einer knappen, kaum sichtbaren Handbewegung zu sich rief. Der Hund folgte ihm in den überdachten Kabinengang. Das leichte Schwanken des Decks schien dem Norweger nichts auszumachen. Er bewegte sich geschmeidig wie eine Wildkatze, nur seine langen Arme baumelten etwas hilflos an seinem Körper herab. Wie eine Mischung aus einem erfahrenen Jäger und einem tollpatschigen Jungen kam er ihr vor. »Hendrik«, wiederholte sie seinen Namen leise.

Auch als er längst nicht mehr zu sehen war, lächelte sie verwundert darüber, dass sie erst an Bord eines Schiffes gehen musste, um einen netten Mann kennenzulernen. Er war ruhiger und abgeklärter als die jungen Männer, die sie bisher getroffen hatte, wirkte viel erwachsener und in sich gekehrter. Und er hatte Humor, eine Eigenschaft, die sie bei den jungen Männern in Snohomish vergeblich gesucht hatte. Die waren doch nur darauf aus, eine Frau für ihren Hof zu finden, wollten so schnell wie möglich heiraten und viele Kinder haben, damit »alles seine Ordnung hatte«, wie ihr aufdringlicher Verehrer sich ausgedrückt hatte. Zum Teufel mit Pete Dougherty!

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling und atmete die frische Morgenluft ein. Das Stampfen der Maschinen wetteiferte mit dem Krächzen der Möwen und dem Rauschen des Meeres. Über ihr zog der dunkle Rauch aus dem Schlot vorbei. Sie hatte keine Angst vor Alaska. Sie gehörte nicht zu den Farmerstöchtern, die ihr Leben lang an der heimatlichen Scholle klebten. Sie wollte die Welt kennenlernen, etwas anderes sehen, den Duft von Freiheit und Abenteuer spüren. Wenn ihre Eltern nicht so hart und lieblos gewesen wären, wenn sie Geschwister gehabt hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen. Aber so hielt sie nichts. Die unbekannte Welt in Alaska und das Abenteuer lockten.

Ihr Blick wanderte über das leere Deck. Die wenigen Passagiere, die im Freien gewesen waren, hatten sich alle in ihre Kabinen oder das geschützte Unterdeck zurückgezogen. Sie war allein mit dem Wind und den Möwen, die über dem Schiff kreisten oder auf der Reling hockten. Die Aufbauten des Dampfers ragten dunkel vor ihr auf. Das Meer zwischen Vancouver Island und dem Festland war still, und die Victoria lag ruhig im grauen Wasser.

Sie stutzte. Das Rettungsboot, das Balto angebellt hatte, schaukelte in seiner Verankerung, schien sich stärker als die anderen zu bewegen. Oder kam es ihr nur so vor? Sie ging einige Schritte darauf zu, blieb stehen und schüttelte ungläubig den Kopf. Was war bloß in sie gefahren? Sie war doch keine verängstigte Lady aus der Stadt, die hinter jedem Schatten einen Mörder oder Dieb vermutete. War es nicht normal, dass ein Rettungsboot schaukelte?

Dennoch ging sie weiter. Sie blieb vor dem Boot stehen und blickte neugierig zu ihm empor. Zögernd streckte sie eine Hand nach der Plane aus.

»Sie müssen Jennifer sein«, hinderte sie eine dunkle und wohltönende Stimme daran, die Plane anzuheben. »Miss Jennifer Weston, nicht wahr?«

Sie drehte sich um und erkannte den Captain, einen beleibten Mann mit silbergrauen Haaren, die unter seiner Uniformmütze hervorschauten. Sein Gesicht war leicht gerötet, zu hoher Blutdruck, vermutete sie, aber er strahlte die Energie und Frische eines jungen Mannes aus, und seine strahlend blauen Augen schienen eine Frau noch immer verzaubern zu können. »Captain?«

»James T. Baldwin«, stellte er sich vor. »Hendrik hat mir schon von Ihnen erzählt, und ich wollte die Gelegenheit ergreifen, eine so hübsche Dame persönlich an Bord zu begrüßen. Sie lieben die frische Luft, nicht wahr?«

Sein charmantes und zuvorkommendes Benehmen verriet den ehemaligen Schwerenöter und brachte sie zum Lächeln. »Ich bin auf einer Farm groß geworden, Captain. So ein bisschen Wind macht mir nichts aus.« Sie blickte an den Aufbauten empor. »Sind Sie schon lange auf der Victoria, Captain?«

»Seit sie die Segel gestrichen hat, Miss.« Er sprach mit einem leichten Südstaatenakzent und erklärte auch gleich warum. »Bis vor ein paar Jahren war ich auf einem Dampfer in New Orleans. Meine Familie kommt aus Baton Rouge, alter Südstaatenadel. Ich bin der Einzige, den es nach Norden getrieben hat, obwohl ich mir geschworen hatte, niemals für eine Yankee-Reederei an Bord zu gehen. Aber meine Frau ist gestorben, meine Kinder sind in alle Winde zerstreut ... was soll ein alter Knacker wie ich da auf dem Mississippi?«

»Und warum fahren Sie nach Alaska?«

»Das Geld, Miss. Ich müsste lügen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Meine Passagiere wollen natürlich hören, dass mich die endlose Weite und die Wildnis von Alaska locken. Dass ich mir nichts Schöneres vorstellen kann, als in einer einsamen Blockhütte zu leben und dem Heulen der Wölfe zuzuhören. Aber ich muss Sie enttäuschen, Miss. Ich habe für die Kälte nichts übrig, und das schlammige Wasser des Mississippi ist mir allemal lieber als das vereiste Beringmeer. Ich würde sonst was dafür geben, diesen Kahn nach Süden steuern zu dürfen, in den Golf von Mexiko oder meinetwegen auch in den Indischen Ozean, aber die Reederei in Seattle war nun mal die einzige, die einen alten Seebären wie mich einstellt. Und ich habe leider alle meine Ersparnisse in den Spelunken von New Orleans verjubelt.«

Sie hatte den starken Verdacht, dass er Alaska mehr mochte, als er zugab. Nur sein Stolz verbot ihm, sich zu einem Land außerhalb seiner geliebten Südstaaten zu bekennen. »Die Leute in Alaska, sind das auch Yankees?«

»Außerhalb von Louisiana leben nur Yankees, sogar in Texas«, erwiderte er schmunzelnd. »Aber keine Angst, ich bin kein Yankee-Fresser. Ich weiß, dass wir den Krieg zwischen den Staaten verloren haben.« Wie die meisten Südstaatler vermied er das Wort »Bürgerkrieg«. »Und ich weiß auch, dass es nette Yankees wie Sie gibt. Sie essen doch heute Abend mit mir, Miss?«

Sie musste wieder lachen, war es nicht gewöhnt, von so vielen Männern umgarnt zu werden, auch wenn es sich bei dem Captain um einen alternden Schwerenöter handelte, der als junger Mann wahrscheinlich in jedem Hafen eine Geliebte gehabt hatte. »Tut mir leid, Captain«, sagte sie, »aber ich habe bereits Hendrik zugesagt. Aber wie ich höre, sitzen wir am selben Tisch.«

Captain Baldwin war überrascht. »Davon hat er mir gar nichts gesagt. Und ich dachte, so ein Einsiedler wie er hat nur seine Jagd und seine Schlittenhunde im Kopf! Nun, es freut mich jedenfalls ... He, was ist denn das?«

Er blickte zu dem Rettungsboot empor und entdeckte zwei lose Lederriemen. Mit einigen Handgriffen zurrte er sie fest und stellte sicher, dass das Boot fest in seiner Verankerung hing. »So was kann leicht ins Auge gehen. Ich glaube, ich muss meinen Männern mal wieder die Leviten lesen.« Er zog noch einmal an den Riemen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich hielten, und wandte sich an Jennifer. »Die Pflicht ruft, Miss. Ich muss auf die Brücke. Wir sehen uns heute Abend beim Essen.«

Er verbeugte sich, wie man es von einem Kavalier seines Alters erwartete, und kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück. Sie blickte ihm neugierig nach.

»Und ich habe nicht mal mein blaues Kostüm an«, flüsterte sie amüsiert.

3

Sie verbrachte zwei Stunden damit, sich für den Abend zurechtzumachen. Ihr blaues Kostüm, das bei ihrem Sturz in Seattle auf die Straße gefallen war, säuberte sie mit einer Bürste, ebenso die weiße Rüschenbluse mit den kunstvoll gestickten Rosen. Leider gab es auf dem Schiff kein Bügeleisen, und sie musste sich damit begnügen, mehrmals mit der Bürste über den ausgebreiteten Stoff zu streichen, um die gröbsten Falten herauszubekommen.