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Bernd Leix

Schwarzwald Hölle

Oskar Lindts zehnter Fall

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Blutspecht (2014), Mordschwarzwald (2013), Fächerkalt (2012), Fächergrün (2011), Fächertraum (2009), Waldstadt (2007), Hackschnitzel (2006), Zuckerblut (2005), Bucheckern (2005)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Felix Schollmeyer – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4964-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Anfang

Januar 2015 – der Nordschwarzwald liegt unter einer weichen weißen Decke. In den Tälern herrscht gelegentlich Tauwetter, doch in den Hochlagen hält sich der Schnee schon seit einigen Wochen. Dort, wo die urwüchsigen Wälder, Grinden und Karseen des vor einem guten Jahr gegründeten Nationalparks Schwarzwald liegen, herrscht winterliche Ruhe. Auerhahn und Rothirsch bewegen sich kaum – Energiesparen ist überlebensnotwendig.

Jede Störung, jedes Aufscheuchen verbraucht Reserven.

Die Parkbesucher respektieren das. Wer hierher kommt, nimmt Rücksicht auf die Bedürfnisse der Natur. Niemals quer durch die Wälder. Ehrensache, auf den gespurten Skiloipen oder gekennzeichneten Wanderwegen zu bleiben.

Die Parkverwaltung tut das Ihre dazu. Die Touristen werden auf wenige Strecken gelenkt, und für diejenigen Naturliebhaber, die ein besonderes Outdoor – Erlebnis suchen, werden von Rangern geführte Schneeschuhwanderungen angeboten.

Das Einhalten der Regeln ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Eine Spur wilder heißt der Slogan des Nationalparks, und wer als Gast die einzigartige Wildnis genießen und bestaunen will, der weiß sich zu beherrschen und sorgsam mit der Natur umzugehen.

Auch in der örtlichen Bevölkerung im oberen Murgtal hat ein weitgehendes Umdenken stattgefunden. Bei der Bürgerbefragung im Frühjahr 2013 waren noch 78% der Baiersbronner Contra-Nationalpark eingestellt. Mittlerweile finden sich nun mehr und mehr Einheimische, die ihre Haltung verändert haben. Nicht nur, dass viele dem großen Schutzgebiet gegenüber jetzt innerlich positiv gesonnen sind, nein, auch die direkten Aktivitäten nehmen zu. Als ehrenamtliche Ranger führen sie Besuchergruppen oder arbeiten als festangestellte Mitarbeiter in den vielfältigen Bereichen für die Fortentwicklung der Naturschutzziele.

Einen großen Beitrag zur Akzeptanz des Parks hat die örtliche Gastronomie geleistet. Immer mehr Hoteliers und Gastwirte erkennen die Chancen, die der Nationalpark für ihr eigenes Gewerbe bietet. Gezielt machen sie damit Werbung, erschließen neue Kundenkreise, bieten zunehmend regionale Produkte auf ihren Speisekarten an und lenken die Urlauber direkt zu den Naturerlebnisangeboten des Parks.

Der Nationalpark selbst ist der Natur vorbehalten.

Menschen sind im Park zu Gast, um die Natur zu erleben.

Menschen arbeiten im Park, um die Natur zu schützen.

Menschen machen die Natur im Park für andere Menschen erlebbar.

Die Schwarzwälder, die Einheimischen, sie leben in den Orten der Umgebung.

Sie wohnen oben auf den Höhen, auf dem Kniebis oder in Herrenwies.

Sie wohnen in den Tälern, die sich Richtung Rhein hinausziehen.

Sie wohnen im Langenbach und in der Schönmünz.

Sie wohnen im Murgtal zwischen Forbach und Baiersbronn.

Dort, in Sichtweite der hohen Berge, steht ein alter Bauernhof.

Dort, umgeben von den dunklen Wäldern, wohnen Vater und Sohn.

Dort, am Rand des Nationalparks, machen sie sich das Leben zur Hölle.

Zur Hölle mitten im Schwarzwald.

1. Kapitel

Die Blicke.

Es waren seine Blicke.

Es war die Art, wie er mich ansah.

Jahrelang schon.

Niemals sprach er es aus, doch für mich bestand kein Zweifel.

In seinen Augen war es zu lesen.

Abscheu, Verachtung, Mitleid.

Nur ein klein wenig Mitleid.

Diese Blicke.

Niemand sonst bemerkte sie.

Niemand sonst fing sie auf.

Niemand sonst verstand, was sie sagten.

Und sie trafen mich. Jeden Tag, jeden Tag mehr, tief in meinem Innersten.

Eigentlich war ich ja in der stärkeren Position. Ich hatte das Sagen. Ich konnte Forderungen stellen. Ich konnte bestimmen. Er war auf mich angewiesen. Seit Mutters Tod ganz und gar.

»Überschreib mir den Hof«, hatte ich gesagt. »Dann bleib ich. Einer muss ja für dich sorgen.«

Wochenlang, monatelang. Immer wieder fing ich damit an.

Er gab mir keine Antwort.

Höchstens: »Muss ich mir noch überlegen.«

Er ließ sich von mir die Wäsche waschen.

Er aß, was ich ihm kochte.

Er hielt mir den Stumpf seines Beines hin, wenn er eingerieben werden wollte.

Vieles hätte er selbst gekonnt, aber er tat es nicht.

»Vater, ich bin für dich da. Ich bleibe hier wohnen. Ich kümmere mich um dich, aber dafür brauch ich Sicherheit. Ich möchte den Hof.«

Zu dieser Zeit begann er, mich so anzusehen.

Ich verstand ihn nicht. Wieso hatte er Angst, seinen Besitz weiterzugeben? Irgendwann würde ich sowieso alles erben.

Er sprach nicht darüber. Er schaute nur.

Ich versuchte es mit mehr Druck. »Ich hab mir eine Wohnung angesehen. Zwei Zimmer, drunten in Baiersbronn, die reicht für mich.«

Die Sprache seiner Augen war eindeutig: ›Du gehst nicht. Nein, das tust du nicht.‹ Doch aus seinem Mund kam nichts.

Er sprach mit mir nur das Allernötigste. Manchmal tagelang gar nichts. Er schüttelte nicht einmal mit dem Kopf, wenn ich ihn wieder bedrängte.

Wer war hier der Stärkere?

Ich, der junge kräftige Waldarbeiter?

Ich, der täglich im Staatswald an zig Bäumen die Motorsäge ansetzte?

Ich, der das Haus in Ordnung hielt, die Tiere fütterte und die Wiesen pflegte?

Oder er?

Der Frührentner, der sich höchstens ein Mal in der Woche in sein kleines Auto setzte und zur Sparkasse fuhr oder eine Kleinigkeit einkaufte?

Der Invalide, der vor vielen Jahren mit seinem Motorrad auf der Passstraße hoch zum Ruhestein aus der Kurve geflogen war und dessen linker Unterschenkel nicht gerettet werden konnte?

Der ewige Nörgler, der aus dem Achertal hierher eingeheiratet hatte, obwohl er auch schon damals die Arbeit in der kleinen Landwirtschaft nur sehr widerwillig machte?

Die Leute im Dorf hatten es oft zu meiner Mutter gesagt. Bevor sie den langen Kerl aus dem Badischen heiratete und auch später immer wieder.

Mit dem würd’ sie nicht glücklich werden. Der hätt’ so einen komischen Blick.

Der tät ja mit niemandem schwätzen. Der hielte sich wohl für was Besseres.

Immerhin war er Buchhalter. Früher, bis vor zehn Jahren. Fast ein Vierteljahrhundert bei der gleichen Firma oben in Freudenstadt. Maschinenbau, internationale Kunden.

Ja, dort war er ›auf dem Büro‹ gewesen. In der Kreisstadt. Immer korrekt, immer aufrecht, immer im Anzug. Ohne Krawatte, aber mit geschlossenem oberstem Kragenknopf. Er konnte sich zwar nur günstige Anzüge leisten, aber die Art, wie er sie trug, und der Gesichtsausdruck, den er dazu aufsetzte, drückte seine ganze Verachtung für die anderen aus.

Verachtung für die, die in Latzhose und Arbeitskittel einem Handwerk nachgingen. Verachtung für die, die sich an der Drehbank die Hände schmutzig machten, und Verachtung für die, die in der Landwirtschaft schufteten und nach Kuhstall stanken.

Warum hat der eigentlich auf einen Hof geheiratet? Er will ja doch nix schaffen!

Einige der Nachbarn sprachen es aus, wenn meine Mutter wieder einmal alleine auf einer der steilen Bergwiesen stand, um mit dem Rechen das Heu zu wenden.

Ach, hatte sie dann meistens geantwortet, wir dürfen dankbar sein, dass er so eine gute Stellung hat. Mit der Landwirtschaft kann man ja nichts mehr verdienen. In ein paar Jahren ist Schluss, dann verkaufen wir die Kühe und den Bulldog. Mir wird das alles auch zu viel.

Dass sie es nicht tat, lag hauptsächlich an mir. Schon als Kind fühlte ich mich wohl bei Liesel und Emma im Stall. Diese beiden und noch weitere drei Kühe zu melken, beherrschte ich bereits, als ich zehn war. Ausmisten, morgens vor der Schule, das machte mir nie was aus, auch wenn trotz Duschen noch ein leichter Geruch an mir haften blieb. Und wenn ich mit unserem roten Porsche-Traktor auf dem Hof rumkurven konnte, war ich sowieso der King.

Lag auch damals schon Verachtung für mich im Blick meines Vaters?

Sein Sohn, der die Schule nur mit Mühe schaffte. Sein Sohn, der niemals ein Buch zur Hand nahm, ja, dem es eine echte Qual bereitete, wenn er lesen oder etwas schreiben musste. Sein Sohn, der viel lieber draußen war, als die Hausaufgaben zu machen. Sein einziges Kind, sein Sohn, den er gerne auch in einem Büroberuf gesehen hätte.

Stattdessen begann ich meine Lehre als Forstwirt, früher hätte man Holzhauer gesagt, droben in Obertal, im Staatswald. Morgens half ich im Stall, danach setzte ich mich auf mein Moped und fuhr in den Wald, um zu arbeiten. Abends wieder Landwirtschaft, Futtergras holen, misten, melken – ich tat es immer gern.

Bis zu dem Tag, als die Liesel sich im Stall erschreckte. Vielleicht hatte ihr eine dicke Rinderbremse in die Nase gestochen? Sie machte einen Satz zur Seite und drückte meine Mutter an die Wand. Ganz alleine war sie im Stall, niemand konnte ihr Rufen hören. Abends, als ich von der Arbeit kam, fand ich sie, längst tot, innerlich verblutet. Ein Riss in der Bauchschlagader, sagte die Polizei später.

Von diesem Tag an ging es los.

2. Kapitel

»Der Lindt!«, keuchte die rotgesichtige Frau am Eingang des Karlsruher Polizeipräsidiums. »Ich muss zum Lindt.«

Der Uniformierte musterte Lisbeth Wein. »Sie sind nicht von hier.«

»Nein, wieso?«

»Es schwäbelt ein bissel.«

»Ja und? Was dann? Darf ich deswegen nicht rein?« Das Rot in Lisbeths Gesichts wurde noch eine Spur kräftiger. »Sie, ich kenn den Lindt. Der hat sich schon bei uns erholt. Mit seiner Frau.« Sie griff in ihre Handtasche, zog ein schmales grünglänzendes Faltblatt heraus und streckte es dem Beamten hin. »Da! Gästehaus Tannengrund in Baiersbronn. Falls Sie auch mal Urlaub in guter Luft machen wollen. Da draußen …« – sie zeigte zur dicken Eingangstür – »… da draußen ist ja ein Mordsgestank.«

»Nur jetzt im Winter und bei Hochnebel, dann drückt’s ziemlich.«

»Also was ist jetzt? Lassen Sie mich endlich durch!«

»Net so schnell, gute Frau«, entgegnete ihr der Polizist in breitem Karlsruher Badisch. »Was wolle’ Sie denn von ihm?«

Entrüstet stemmte Lisbeth die Hände in die Hüften. »Geht Sie doch nix an. Das sag ich nur ihm selbst.« Wieder suchte sie in ihrer Tasche und brachte diesmal eine Visitenkarte mit dem baden-württembergischen Landeswappen zum Vorschein. »Da! Da steht’s drauf. Oskar Lindt, Erster Kriminalhauptkommissar. Die Kart’ hat er mir gegeben, damals. Wenn mal was ist, hat er g’sagt.«

»Und jetzt ist was?«, spöttelte der Beamte.

Die Frau zögerte. »Vielleicht … Ich weiß net genau … Vielleicht auch nicht … Hoffentlich.«

Ihr Gegenüber runzelte die Stirn: »Ja was jetzt?«

Lisbeth zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall muss ich mit ihm sprechen.«

»So, müssen Sie? Na dann, Sie geben ja doch kei’ Ruh’.«

Er griff zum Telefon: »Herr Lindt, eine Frau, die will Sie unbedingt sprechen, eine aus dem Schwäbischen, vom Schwarzwald droben, Baiersbronn … Moment bitte, wie heißen Sie noch mal?«

»Das hab ich Ihnen ja noch gar net g’sagt«, kam die Antwort. »Wein, Lisbeth Wein, sagen Sie ihm, vom Gästehaus Tannengrund, dann weiß er schon.«

Der Uniformierte hatte den Hörer in Richtung der Besucherin gehalten, dann nahm er ihn wieder ans Ohr.

»Ja … ja gut, ich lass sie durch«, sagte er ins Telefon und legte auf. »Er hat’s g’hört.« Er reichte ihr die Visitenkarte wieder. »Die Zimmernummer stimmt noch. Zweiter Stock. Dort drüben ist der Aufzug.«

Lisbeth Wein riss ihm die Karte aus der Hand und stürmte weiter, nicht ohne halblaut »Ha so ein Seggl« zu murmeln.

Als sich die Lifttür öffnete, wurde sie bereits erwartet. Der stämmige Leiter der Karlsruher Mordkommission kam ihr auf dem Gang entgegen.

»Frau Wein, so eine Überraschung!« Oskar Lindt drückte ihre Hand.

»Was ist denn das für einer da unten am Empfang? Meint der doch, er müsst mich verdummen, bloß, weil ich ein bissle schwäbisch schwätz«, schüttelte Lisbeth den Kopf. »Also wenn wir unsere Gäste so empfangen würden …«

Lindt grinste. »Ich hoffe, Sie haben es sich nicht gefallen lassen.«

Sie zwinkerte: »Worauf Sie sich verlassen können.«

»Jetzt bin ich aber gespannt«, meinte der Kommissar, als er seiner Besucherin im Büro einen Stuhl angeboten und sich selbst hinter den ausladenden Schreibtisch gesetzt hatte. »Ohne Grund werden Sie sich ja nicht auf den weiten Weg nach Karlsruhe gemacht haben, in die badische Metropole. Oder ist heute Shopping angesagt?«

»Also ich sag lieber Einkaufen dazu«, antwortete Lisbeth Wein. »Ja vielleicht, wenn noch Zeit bleibt, bis die Bahn wieder fährt.« Dann atmete sie tief durch, kam aber nicht weiter, weil sich die Tür zum Nebenraum öffnete und Paul Wellmann mit einem Tablett hereinkam.

»Milch, Zucker oder schwarz?«, fragte er, stellte drei Tassen und eine Kaffeekanne auf den Tisch.

»Ach der Herr Wellmann, Sie kenn ich doch auch noch«, lächelte Lisbeth und drückte Lindts Partner die Hand.

»Natürlich«, zwinkerte Paul zurück. »Wer uns beiden einmal begegnet ist, der vergisst uns nie mehr.«

»Schließlich haben Sie damals den entscheidenden Tipp gegeben«, meinte Lindt. »Sie und Ihre Kusine.«

Lisbeth nickte, sagte: »Viel Milch und ohne Zucker«, und holte Luft.

»Also ich weiß ja nicht, ob da was dran ist, aber es lässt mir einfach keine Ruh’. Ich glaub’, bei den zwei Männern im Obertal, da stimmt was nicht.«

Lindt schaute fragend.

»Ja der Hansjörg, mein Neffe, der ist seit einiger Zeit so komisch. Sie können mir glauben, ich merk das. Der Hellste war er ja noch nie, aber schuften tut der wie ein Ochs. Im Wald sind sie sehr zufrieden mit ihm, und die Landwirtschaft macht er ganz alleine. Nur mit seinem Vater, da kommt er einfach nicht aus.«

»Darüber hat er mit Ihnen gesprochen?«, fragte Lindt und goss halb Kaffee, halb Milch in seine große Tasse.

»Nicht direkt«, druckste Lisbeth herum. »Aber ich merk so was. Die Stimmung bei denen … zwei Männer alleine in dem abgelegenen Bauernhaus … die schwätzen ja fast nichts, aber ich bin mir sicher, da ist Feuer unterm Dach!«

»Schon lange?«

»Jahrelang. Und seit die Mutter tot ist, wissen Sie, die Marianne, meine ältere Schwester, also seit die nicht mehr lebt …«

»Krank gewesen?«

Lisbeth schüttelte den Kopf. »Nein, ein Unfall im Stall. Von der Kuh an die Wand gedrückt. Der Hansjörg hat sie am Abend gefunden, aber da war es schon lange zu spät.«

Lindt schaute sie nachdenklich an: »Und jetzt machen Sie sich Sorgen? Sorgen um Vater und Sohn?«

Die Besucherin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, der Vater, also bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, aber der ist ein echter Kotzbrocken.«

»Oha, so schlimm?«

Die Frau nickte. »Noch schlimmer. Der macht dem Hansjörg das Leben schwer, wo er nur kann. Auch früher schon, als er noch gesund war, hat er nichts getan auf dem Hof. Alles hat meine Schwester machen müssen und dann der Hansjörg. Der Valentin war sich dafür immer zu fein. Im Anzügle ins Büro, das war sein Ding, aber sich bloß nicht die Händ’ dreckig machen. Und nach dem Unfall, da war’s dann ganz aus.«

»Der Unfall Ihrer Schwester mit der Kuh?«

Lisbeth bekam wieder rote Backen: »Nein, nein, den Valentin mein ich, diesen … diesen …« Den Kraftausdruck, der ihr auf der Zunge lag, schluckte sie runter. »Mit dem Motorrad ist er immer rumgefahren, anstatt in der Landwirtschaft zu helfen. Meistens ins Badische hinüber, da, wo er herkam, das lange Elend. Entschuldigung, so sagen alle zu ihm. Lang und dünn und bloß nicht anpacken.«

Paul Wellmann legte die Stirn in Falten: »Moment mal. Nur zum Verständnis. Dieser Valentin, also Ihr Schwager, wenn ich das recht verstanden habe, der hat in einen Bauernhof eingeheiratet, aber dort nie was gearbeitet.«

»Genau«, ereiferte sich Lisbeth aufs Neue. »Hab ich nie verstanden, was meine Schwester an dem gefunden hat. Geht mich ja nichts an … eigentlich … aber der Hof ist halt auch meine Heimat. Wenn man da jahrelang zuschauen muss, macht man sich halt so seine Gedanken.«

Lindt nickte: »Kann ich gut verstehen, dass Sie das nicht kalt lässt. Aber wie war das mit dem Unfall? Motorrad?«

»Ja, hoch zum Ruhestein. Sie kennen doch die Kurven. Eine nach der anderen. Da erwischt es jedes Jahr ein paar Verrückte mit ihren schweren Maschinen. So auch den Valentin. An seinem 50. Anstatt mit der Familie zu feiern, ist er los. Rauf auf den Bock und Gas gegeben. Im Beruf immer mehr als korrekt, ja richtig steif und trocken. Aber auf der Maschine, da hat er die Sau rausgelassen. Meine Schwester und der Hansjörg haben das Heu heimgebracht, und er war unterwegs. Spritztour. Nie hat er gesagt, wohin, aber oft den Ruhestein hoch, da haben ihn einige erkannt. Immer geheizt wie verrückt. Wir wissen nicht, wohin er gefahren ist, aber …«

»Aber?«, fragte Lindt.

»Na ja, man macht sich halt so seine Gedanken.«

»Ob da eine andere im Spiel ist?«, sagte Paul Wellmann.

Lisbeth nickte. »Was würden Sie denn denken, wenn einer ein paar Mal in der Woche nach Feierabend abdüst und erst mitten in der Nacht zurückkommt?«

»Und dann der Unfall«, knüpfte Lindt wieder an.

»Aus der Kurve geflogen, unter die Leitplanke, voll gegen einen Pfosten. Nur knapp mit dem Leben davongekommen. Aber sein Bein, das konnten sie nicht mehr retten.«

»Schluss mit Motorradfahren«, konstatierte Paul.

»Ein ganzes Jahr war er krank. Die Wunde wollte erst nicht recht heilen, wahrscheinlich auch, weil er Zucker hat. Schon jahrelang, aber nie hat er sich drum gekümmert. Erst nach dem Unfall kam’s raus.«

»Hat er wieder gearbeitet?«

»Nach und nach ging’s so mit der Prothese, und er konnte auch wieder autofahren, Automatik natürlich, aber er war so oft krank und in Kur, dass schließlich sein Rentenantrag durchging. Frührentner mit 52.«

»Keine gute Perspektive«, nickte Lindt. »Wann starb die Frau?«

»Das ist passiert, solange der Valentin in Reha war. Und jetzt wird das Elend immer schlimmer. An Weihnachten war ich dort, auf dem Hof, aber der Kerl wollte mich gar nicht sehen. Nur mit dem Hansjörg hab ich eine Zeitlang in der Küche gesessen. Irgendwie war der ganz verstört. Völlig durch den Wind, wie man so sagt, aber ich hab nicht rausgefunden, wieso.«

Lindt schaute die Besucherin nachdenklich an: »Und seither machen Sie sich Sorgen.«

»Auch schon vorher, doch jetzt weiß ich mir nicht mehr zu helfen.«

Der Kommissar schwieg, nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf.

Paul Wellmann dachte laut nach. »Ziemlich tragisch, das Ganze, aber ob das ein Fall für uns ist?«

»Mein Kollege hat recht«, sagte Oskar Lindt. »Bei dem, was Sie uns geschildert haben, müsste man Ihrem Neffen eigentlich eher eine psychologische Beratung empfehlen … es sei denn …«

»Ich will nicht lange drum herumreden«, unterbrach ihn Lisbeth. »Ich habe einfach Angst. Angst, dass da noch mal was passiert.«

Lindt nickte. »Woran denken Sie denn konkret?«

Lisbeths Augen wurden feucht. »Wissen Sie, mein Elternhaus, das liegt ziemlich abseits. Die nächsten Nachbarn sind ein paar Hundert Meter weit entfernt, die bekommen kaum was mit. Aber immer wieder sprechen mich Leute an, die dort spazieren gegangen sind, und erzählen mir von lautstarkem Streit, Mordsgeschrei zwischen Vater und Sohn, und den Hansjörg hat man mehr als einmal mit blauen Flecken gesehen. Sogar genäht werden musste er schon.«

»Was? Der kräftige Holzhauer lässt sich von seinem invaliden Vater grün und blau prügeln? Der wird sich doch wehren?«

»Bitte glauben Sie mir, Herr Lindt, bitte. Der Hansjörg ist absolut friedfertig und auch ein wenig unbeholfen. Der hat Kraft, aber keinen Mumm.«

»Sonst wäre er schon längst von zu Hause ausgezogen«, mutmaßte Lindt.

»Genauso ist es, und er hängt auch so sehr an dem ganzen Anwesen.«

»Wem gehört es denn?«

Lisbeth tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen trocken. »Alles gehört dem Valentin. Ich verstehe die Marianne nicht, dass sie so einem Testament zugestimmt hat.«

Oskar Lindt griff nach einer seiner vielen Pfeifen, die hinter ihm auf dem niedrigen Schrank beim Fenster aufgereiht standen, und begann zu stopfen. »Hilft mir halt beim Nachdenken«, lächelte er Lisbeth an. »Sie mögen doch Pfeifenrauch, wenn ich mich recht erinnere.«

»Lieber als Zigaretten auf jeden Fall.«

3. Kapitel

In der letzten Zeit wird es immer schlimmer mit meinem Alten. Er tut absolut nichts. Staubsaugen wäre doch nicht zu viel verlangt, oder mal kochen. Eigentlich kann er ja ganz gut gehen, trotz Holzbein. Aber nein, nicht den geringsten Handschlag. Den ganzen Tag sitzt er nur rum – voll mürrisch sein Gesichtsausdruck. Er schaut fern oder liest Zeitung, ab und zu auch ein Buch. Kann er machen, interessiert mich gar nicht. Aber ein klein wenig mithelfen, das könnte er doch. Ich erwart’ ja auch nicht von ihm, dass er im Stall ausmisten soll oder Brennholz spalten. Obwohl, wenn er wollte … Doch daran brauche ich keinen Gedanken verschwenden – schon seine schmalen Hände und die langen dünnen Finger, nein zum Arbeiten, zum richtig Schaffen sind die nicht gemacht.

Aber es geht mir immer mehr auf die Nerven, dass er sich voll von mir aushalten lässt. Keine Ahnung, wie viel Rente er bekommt. Die Kontoauszüge schließt er immer weg. Vor Jahren schon hat er sich einen schweren Stahlschrank liefern und im Wohnzimmer aufstellen lassen. Hab mal versucht, das Schloss zu knacken, als er weggefahren war, aber keine Chance.

Und wenn ich zu ihm sage, du könntest auch mal was zu essen einkaufen, wenn du schon unterwegs bist, dann schaut er nur böse und brummt, das sei meine Sache, und sein bisschen Rente brauche er für sich und für das Auto.

Es wurmt ihn furchtbar, dass er nicht mehr Motorrad fahren kann. Er sagt nichts drüber, aber wenn mal eine Maschine bei uns am Haus vorbeifährt, dann hastet er ans Fenster, um sie bloß nicht zu verpassen.

Das Auto verachtet er genauso wie mich. In seinen Augen kann ich das ganz deutlich lesen. Ein Japaner, gebraucht gekauft, der kleinste, den es mit Automatik gibt. Er darf nur Automatik fahren, wegen dem Holzbein natürlich. Dass er so was fahren muss. So einen popeligen Kleinwagen, doch für mehr langt seine Rente halt nicht, und von meinem Verdienst kann ich dem Alten nicht auch noch einen größeren Wagen finanzieren. Es reicht doch wohl, dass ich alles bezahle, was wir zum Leben brauchen.

Und dann das Haus! Da kommt was zusammen. Ärgert mich furchtbar, dass ich das alles blechen kann. Grundsteuer, Feuerversicherung, Wasser, Strom, Müllabfuhr – alles geht von mir ab. Auch die ganzen Handwerkerrechnungen. Was ich kann, reparier’ ich ja sowieso selbst, aber trotzdem bleibt noch eine ganze Menge.

Im Sommer, als fünf zugerostete Wasserleitungen ausgetauscht werden mussten, da hab ich ’s noch mal versucht, zum hundertsten Mal. Er soll mir jetzt endlich das Haus überschreiben, wenn ich schon immer alles zahlen muss. Vielleicht war ich ja ein wenig laut und auch etwas grob zu ihm, als ich ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt hab. Zuerst drei Bier, sonst hätt’ ich mich gar nicht getraut.

Da hat der mir doch mit seinem Gehstock eine übergebraten, dass mir Hören und Sehen vergangen ist. Geblutet wie Sau. Der Doktor musste fünf Stiche machen. Hab dem natürlich nicht gesagt, wie ’s passiert ist. Im Stall ausgerutscht und gegen einen Eisenträger geknallt. Ich hoff’, er hat ’s geglaubt.

Zurückschlagen? Nein, also bitte, einen Krüppel doch nicht! Nein, das tät’ ich nie. Doch nicht meinen eigenen Vater. Ehren soll man sie, Mutter und Vater, steht zumindest in der Bibel.

Und seinen Blick vergess’ ich nie, als er mich angeschrien hat. Beim nächsten Streit ein paar Tage später. Schlag doch zu, los, schlag zu! Getrau dich doch, du blöder grober Nichtsnutz. Ja, grober Nichtsnutz hat er mich gescholten. Und dass sein nächster Weg zur Polizei ginge, wenn ich ihn noch mal anfassen würde. Anzeigen würde er mich, sofort, auf der Stelle. Und aus dem Haus werfen. Und dann alles verkaufen. Dann könnte ich sehen, wo ich bleibe.

Weggerannt bin ich, voll geschockt. Hinten im Stall hab ich mich verkrochen und … ja, ich sag’s nicht gern, aber es war so … geheult hab ich, geheult wie ein Schlosshund. Wenn das meine Mutter wüsste …