Der Bergpfarrer 386 – Ein unglaublicher Verdacht

Der Bergpfarrer –386–

Ein unglaublicher Verdacht

Wem kann man noch trauen?

Roman von Toni Waidacher

»Wir müssen in Richtung Herrsching«, sagte ›Big Tom‹ und lenkte seinen Wagen auf die Bundesstraße.

Sie hatten sich im Büro des Münchner Privatdetektivs getroffen und sogleich auf den Weg gemacht.

»Das Dorf heißt Kaltenbach«, erklärte Thomas Bergmeister, wie der Detektiv eigentlich hieß, weiter, »und der Hof der Familie Berninger liegt ein wenig außerhalb davon.«

Max Trenker rutschte unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her.

Würden sie Sebastian dort tatsächlich finden? Würde der Albtraum dann endlich ein Ende haben?

Mischa, ein Bekannter ›Big Toms‹, der den Detektiv hin und wieder mit Informationen versorgte, hatte herausgefunden, wer die angebliche Rechtsanwaltskanzlei und das Haus am Tegernsee gemietet hatte. In der Kanzlei hatte man den Bergpfarrer vermutlich betäubt und dann verschleppt, in dem Haus wurde Sebastian Trenker allem Anschein nach gefangen gehalten.

Nachdem Max, Claudia und die beiden Detektive, wie von den Entführern angeordnet, den Geldkoffer in das Haus am See gebracht hatten, mussten sie feststellen, dass der gute Hirte von St. Johann offenbar an einen anderen Ort gebracht worden war. Der Mieter des Hauses, ein gewisser Manfred Urlacher, so hatte Mischa herausgefunden, war mit einer Familie Berninger verwandt, der ein alter, nicht mehr bewirtschafteter Bauernhof südlich von München gehörte.

Dorthin waren sie jetzt unterwegs, in der Hoffnung, endlich etwas über das Schicksal des Bergpfarrers erfahren.

»Dieser Manfred Urlacher«, fragte der Polizist, »was ist das für ein Typ?«

»Wie ich schon am Telefon sagte«, antwortete Tom, »ist er einer, der seine Großmutter verkauft, wenn er davon einen Vorteil hat. Ich denke, das sagt alles über ihn aus.«

Max nickte düster.

»Mischa hat weiter herausgefunden«, fuhr der Detektiv fort, »dass ein Lieferservice jeden Tag Essen zum Berningerhof gebracht hat. Er kennt einen der Fahrer und versucht, ein Treffen mit dem Mann zu arrangieren.«

»Dein Bekannter hat wirklich ganze Arbeit geleistet«, bemerkte Claudia, die neben Andreas Bogner auf der Rückbank saß.

Nach einer knappen Stunde hatten sie Kaltenbach erreicht. ›Big Tom‹ hielt allerdings nicht in dem kleinen Dorf an, sondern fuhr über die Hauptstraße zum anderen Ende wieder hinaus, zwei Kilometer später, bog er in einen breiten Feldweg ein und hielt etwas abseits davon, in einem Wäldchen, auf einer Lichtung an.

»Von hier aus sollten wir besser zu Fuß weitergeh’n«, meinte er und stieg aus.

Max schloss leise die Wagentür und schaute sich um. Es war inzwischen Abend geworden, und die Dämmerung hatte eingesetzt. Der Himmel war bedeckt und verhinderte, dass das Licht des Mondes auf die Erde schien, was ihr Vorhaben begünstigte.

Während rechter Hand ein brachliegendes Feld lag, das offenbar seit Jahren nicht mehr beackert worden war, stand links der Wald, in dessen Schutz sie sich langsam voranpirschten.

Vom Feldweg aus seien es kaum mehr als fünfhundert Meter nach Norden, hatte Mischa ›Big Tom‹ erklärt.

Niemand sprach ein Wort, als sie über den Pfad im Wald gingen und sich dem Bauernhof näherten. In sicherer Entfernung blieben sie stehen und sondierten erst einmal die Lage. Direkt vor ihnen war ein alter, verrosteter Drahtzaun, der eine wild wuchernde Wiese zum Wald hin begrenzte. Dahinter konnten sie im Dunkeln die Umrisse des Bauernhauses ausmachen. Eine Scheune stand rechts, das verfallene Gebäude daneben war vermutlich einmal ein Kuhstall gewesen.

»Nix zu seh’n«, meinte Max und schaute die anderen an. »Was machen wir jetzt?«

»Wir teilen uns auf«, schlug Andreas Bogner vor, »und schleichen uns von drei Seiten heran.«

»Und ich?«, fragte Claudia.

»Du bleibst schön hier!«, erklärte Max bestimmt. »Erst wenn wir wissen, dass keine Gefahr besteht, kommst du nach.«

An dem Ausdruck in ihrem Gesicht erkannte der Bruder des Bergpfarrers, dass es seiner Frau überhaupt nicht passte, was er gerade gesagt hatte. Indes war die Journalistin einsichtig genug zu erkennen, dass ihr Mann recht hatte. Vorsichtig strich sie sich über den Bauch, gerade in ihrer jetzigen Situation sollte sie sich besser nicht zu irgendwelchen Unternehmungen hinreißen lassen, die sie oder das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, gefährden würden. Seufzend nickte Claudia und gab Max einen Kuss. Er drückte sie an sich und nickte den beiden Detektiven zu.

»Wir können.«

›Big Tom‹ hatte sie in seinem Büro mit Taschenlampen ausgestattet, die sie jetzt zwar bei sich trugen, aber nicht einschalteten. Wenn sich die Entführer tatsächlich in dem Bauernhaus aufhielten, würde der Schein der Lampen sie nur vorzeitig warnen.

Max hatte es übernommen, die Wiese zu umrunden und sich dem Haus von der Rückseite her zu nähern, während Andreas Bogner sich vorsichtig an die Einfahrt heranpirschte. ›Big Tom‹ schlich rechts davon über einen Trampelpfad, der vom Hof aus nicht einzusehen war. Mannshohes Gestrüpp aus wilden Brombeeren und andere seit Jahren nicht geschnittene Büsche verdeckten die Sicht auf den Detektiv.

Der Polizist war in gebückter Haltung an dem verrotteten Zaun entlanggelaufen und richtete sich erst wieder auf, als er die Rückseite des Bauernhauses erreicht hatte. Die Fenster waren nicht erleuchtet, Max stieg über ein Gattertor und ging in die Hocke. Nachdem er ein paar Sekunden hatte verstreichen lassen, richtete er sich auf und näherte sich vorsichtig dem Haus.

Nichts, aber auch gar nichts, deutete darauf hin, dass hier irgendjemand wohnte. Meistens standen hinten auf der Terrasse Gartenmöbel oder es war eine Wäscheleine gezogen, manchmal konnte man auch einen kleinen Gemüsegarten finden, in dem die Bäuerin das anbaute, was sie fürs tägliche Kochen brauchte. Hier gab es nichts dergleichen, dafür lag undefinierbarer Schutt auf der Terrasse, und mehrere Säcke und ein alter Zementmischer deuteten darauf hin, dass hier einmal irgendwelche Baumaßnahmen geplant waren. Allerdings waren sie nie ausgeführt worden. Max probierte eine Tür, die allerdings verschlossen war, er vermutete, dass sie in die frühere Waschküche führte, schlich um die Ecke und wäre um ein Haar mit einer Gestalt zusammengeprallt.

»Himmel, hast du mich erschreckt!«, murmelte Andreas Bogner und japste nach Luft.

»Du mich aber auch«, schmunzelte Max und atmete ebenfalls tief durch.

Zusammen gingen sie weiter, von ›Big Tom‹ war nichts zu sehen.

»Glaubst du, dass wir deinen Bruder hier finden?«, fragte der Versicherungsdetektiv aus Nürnberg.

Der Polizist zuckte die Schultern.

»Im Moment glaub’ ich net, dass wir überhaupt eine Menschenseele hier antreffen«, antwortete er.

»Ich eigentlich auch net«, sagte Andreas.

»Und damit habt ihr leider recht«, vernahmen sie die Stimme von ›Big Tom‹.

*

Zu ihrem Erstaunen stand er in der offenen Haustür und zog seine Taschenlampe hervor

»Wenn die Kerle hier waren«, setzte er hinzu, »dann sind die Vögel längst ausgeflogen.«

Auch Max und Andreas schalteten ihre Taschenlampen ein, zu dritt betraten sie das Haus. Der Bruder des Bergpfarrers blieb in der Diele stehen und hob schnuppernd die Nase.

Thomas Bergmeister nickte: »Du riechst es auch, net wahr?«

Es war derselbe Geruch nach einem scharfen Reinigungsmittel, den sie schon aus der angeblichen Anwaltskanzlei, in München, und dem Haus am Tegernsee kannten.

»Dann sind wir schon mal auf der richtigen Spur«, bemerkte Andreas.

Indes ahnte Max, dass Sebastian nicht mehr hier war. Seine Ahnung bestätigte sich, als sie sämtliche Räume des Bauernhauses durchsuchten.

»Die eine Kammer, oben im ersten Stock, war schon interessant«, sagte ›Big Tom‹ und stieg schon wieder nach oben.

Die beiden anderen folgten ihm. Im Zimmer angekommen, zeigte der Detektiv, was er meinte.

»Hier schaut mal«, forderte er Max und Andreas und öffnete eine Tür.

Max blickte hinein, das Bad hatte er schon bei der ersten Durchsuchung gesehen.

»Fällt dir nix auf?«, wollte ›Big Tom‹ wissen.

Der Polizeibeamte ließ den Lichtschein seiner Lampe durch das Bad gleiten.

»Scheint neu zu sein«, sagte er.

»Richtig, ist ganz offenbar erst vor Kurzem eingebaut worden. Ist das net seltsam, auf einem verlassenen Bauernhof ein nagelneues Bad einzubauen? Meiner Meinung nach ist das ein neuer Beweis dafür, dass man deinen Bruder hier gefangen gehalten hat.«

Max nickte und beschloss, die Kammer noch einmal näher in Augenschein zu nehmen.

Bei Betreten des Hauses, hatte ›Big Tom‹den Lichtschalter in der Diele probiert, es war jedoch dunkel geblieben. Ganz offenbar hatten die Entführer die Sicherungen ausgeschraubt und mitgenommen, wie sie feststellten, als sie in den Sicherungskasten schauten.

Jetzt leuchteten sie die Kammer mit ihren Taschenlampen aus und versuchten, jedes noch so kleinste Detail zu erfassen.

»Du, schau mal«, sagte Andreas Bogner zu Max und winkte ihn zu sich.

Er stand vor einer alten Anrichte, und hielt seine Taschenlampe so, dass sie von oben auf den Schrank leuchtete.

»Was meinst’ denn?«

Der Bruder des Bergpfarrers war wie elektrisiert, als er sah, worauf Andreas deutete.

In den Staub, der die Anrichte dick bedeckte, war ein Edelweiß ›gemalt‹!

»Das war Sebastian!«, rief Max. »Ganz ohne Zweifel!«

Er kannte dieses Zeichen nur zu gut, schon als Bub hatte sein Bruder diese Blume, das Symbol der Alpen, hinterlassen; auf Schulheften, in Malblöcken oder im Winter, wenn es draußen Schnee und Eis gab, auf den zugefrorenen Fensterscheiben.

»Sagt mal, habt ihr mich vergessen?«

Die Männer zuckten zusammen, als sie Claudias Stimme von unten vernahmen, tatsächlich hatte keiner von ihnen mehr daran gedacht, dass Max’ Frau noch immer bei dem Wäldchen auf ein Zeichen von ihnen wartete.

»Hier oben«, rief ›Big Tom‹.

Als die Journalistin die Stiege heraufkam und die Kammer betrat, sah sie ihren Mann, der wie hypnotisiert auf die Anrichte schaute.

»Was gibt’s denn da?«, fragte sie und trat näher.

Max deutete auf das Edelweiß.

»Sebastian war hier drinnen«, sagte er leise.

»Und wo ist er jetzt?«

Ratlos schauten sie sich an.

»Wir haben alles durchsucht«, antwortete Max, »das hier ist die einzige Spur, die wir von ihm gefunden haben.«

Claudia spürte, wie sich Resignation ihr breitmachte, sie musste an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Aber hört das denn überhaupt net mehr auf?«, fragte sie verzweifelt. »Was treiben die Kerle bloß für ein grausames Spiel mit uns?«

Die Männer nickten, es war wirklich grausam, scheinbar so kurz vor dem Ziel zu sein und dann doch wieder enttäuscht zu werden. Max legte einen Arm seine Frau.

»Wir kriegen die Burschen!«, sagte er gepresst. »Und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tu, ich jag sie, bis ich sie hab!«

»Und wir sind dabei«, erklärten die Detektive.

Sie stiegen wieder nach unten, vor dem Haus blieben sie ein Moment stehen und schauten sich betroffen an.

»Das ist Mischa«, bemerkte ›Big Tom‹, als ein Handy klingelte.

Gespannt blickten die anderen ihn an, warteten darauf, dass er mit seinem Kontaktmann sprechen würde. Doch der Detektiv hörte nur zu, was am anderen Ende gesagt wurde und nickte dabei.

»Geht klar, Mischa«, sagte er schließlich, »wir sind so gut wie auf dem Weg.«

Er steckte das Handy wieder ein und holte tief Luft.

»Der Fahrer des Lieferservice erwartet uns in Kaltenbach«, erklärte Tom. »Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat.«

Sie kehrten zu dem Wagen des Detektivs zurück, der im kleinen Wäldchen stand und stiegen ein.

Max hatte sich nach hinten zu seiner Frau gesetzt und hielt ihre Hand.

»Ich liebe dich«, sagte er leise.

Sie erwiderte seinen Blick, und es gelang ihr sogar ein kleines Lächeln.

*

Tobias Hochleitner fuhr den Traktor auf den Hof und stellte ihn auf dem Platz unter dem Scheunenvordach ab. Der Bursche kletterte herunter und ging zur Haustür. Seine Mutter stand der Küche am Herd und rührte in einem Topf.

»Was gibst denn Leckeres?«, fragte der Bauernsohn und trat neugierig näher.

»Gemüseeintopf«, antwortete Burgl, nahm ein Messer und schnitt die bereit gelegten Würstel in Scheiben, die sie anschließend in die Suppe gab und sie darin warm werden ließ.

Tobias schaute auf dem Tisch, der­ nur für zwei Personen gedeckt war.

»Isst Papa nicht mit uns?«

Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Vater hat angerufen, das mit dem Auto dauert noch länger, er kommt später.«

Johann Hochleitner war mit seinem Wagen in die Werkstatt gefahren, das Auto sollte in der nächsten Woche zum TÜV.

Die Bäuerin nahm ein Holzbrett, legte es auf den Tisch und stellte den Suppentopf darauf. Tobias setzte sich und sprach das Tischgebet, seine Mutter füllte ihm auf. Die ersten Minuten aßen sie, ohne ein Wort zu sagen.

»Lecker!«, bemerkte ihr Sohn schließlich.

Burgl lächelte. »Schön, dass es dir schmeckt.«.