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Gewidmet

der Ruth O’Hara, die das Mark meines Lebens ist: meiner Frau.

Inhaltsverzeichnis

Kosmonen-Saga: 1. Ambivalente Zone

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4: RUTH

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7: RUTH

Kapitel 8

Kapitel 9: RUTH

Kapitel 10

Kapitel 11: RUTH

Kapitel 12

Kapitel 13

Kosmonen-Saga

1.

Ambivalente Zone

Nach einer galaktischen Katastrophe verläßt Mark Brandis die Sicherheit des Kunstplaneten Cosmopol und begibt sich auf die Suche nach der verschollenen Erde. Aus der Zeitlosigkeit stößt er vor in Zeit und Vergänglichkeit. In einem Duell auf Leben und Tod mit der mörderischen Sekte der Malusiten entdeckt er der Vergänglichkeit schönste Blüte: den Zauber der Erotik und die Liebe.

1.

Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus. Die gleichförmige Leere vor dem Fenster machte mich krank.

Wann genau das geschah, kann ich nicht sagen. Niemand weiß es - denn auf Cosmopol gab es nicht, was überall sonst den Maßstab setzt. Es gab keine Zeit. Lediglich ein Paar Uhren mit unbeweglichen Zeigern ließen ahnen, daß es nicht immer so gewesen war. Ein weiterer Zeuge für den stattgefundenen Umbruch war die Sprache. Mit altertümlichem Starrsinn staffelte sie die Abläufe in klar voneinander getrennten Ebenen - eine Unlogik, an die man sich längst gewöhnt hatte.

Wie gesagt, es war unter anderem die Leere vor dem Fenster, was mich davontrieb. Mehr und mehr drohte sie zum Spiegel meiner selbst zu werden. Gegen Cosmopol selbst ließ sich im Prinzip nichts vorbringen. Cosmopol war eine perfekte abgeschlossene Welt irgendwo in der großen Leere, das technische Meisterwerk vergessener Erbauer - eine Welt, in der es an nichts fehlte.

Nur, daß Cosmopol nie ganz zu dem geworden war, was es ursprünglich hätte sein sollen, nämlich der Brutkasten einer Population idealer Raumfahrer. Mit dem Kosmonen aus der Retorte sollte zugleich die uralte biologische Zweiteilung der Menschheit aus Gründen der Zweckmäßigkeit überflüssig gemacht werden. An die Stelle von Zeugung und Geburt trat das Labor. Verfehlungen, die es gelegentlich gegeben hatte, war mit drakonischen Strafen begegnet worden, und fortan wurde der Ernährung etwas beigemischt, was alles sexuelle Verlangen unterband. Man nannte es Neutralin.

Aber noch bevor das ehrgeizige Projekt seinen erfolgreichen Abschluß hatte finden können, erschütterte eine Katastrophe die Milchstraße. Cosmopol wurde hinauskatapultiert in die große Leere der Zeitiosigkeit; alle Verbindungen zum Mutterplaneten Erde rissen ab. Allmählich verblassten sogar die Erinnerungen. An ihre Stelle traten Sagen und Legenden.

Geblieben war das Ärgernis der Zweiteilung, für die es keine konkrete Aufgabe mehr gab. An seiner Beseitigung wurde nach wie vor gearbeitet, und irgendwann, daran zweifelte ich nicht, würde der ausgereifte geschlechtslose Kosmone aus der Retorte steigen. Bis dahin unterschieden Wissenschaft als auch Amtssprache zwischen dem muskulösen M-Typ und dem etwas kleineren, rundlicheren W-Typ. Und nur in der Alltagssprache gab es den Mann und die Frau.

Nein, ich verstand mich selbst nicht. Eigentlich hätte ich mit meinem Los zufrieden sein müssen. Und trotzdem rebellierte ich innerlich gegen den einlullenden Zustand ohne Zeit und Geschichte, gegen ein Leben, in dem nichts geschah und das keine Aufgaben stellte. Immer wieder waren es dieselben Gesichter, in die ich sah, vertraute Gesichter ohne eine Spur von Wandlung. Und immer wieder wußte ich: das würde sich nie ändern. Nicht morgen, nicht in einer Woche, nicht in einem Jahr, nicht in Tausenden von Jahren. Nie.

Selten nur kam es vor, daß ein neues Gesicht nachrücken durfte. Denn obwohl Tod ebenso wie Zeit zu den dunklen Legenden gehörten, die nicht auszurotten waren, kam es doch vor, daß eines der Schiffe samt Besatzung aus dem gähnenden Schlund des Nichts nicht mehr herausfand. Für die Poluplation war das kein dauerhafter Verlust. In den Labors war genug Genmaterial gespeichert, um im Handumdrehen Kopfzahl und Norm wiederherzustellen.

Auch ich war auf diese Weise plötzlich dagewesen.

Ich weiß: Ich trat hinaus in das Licht und hinter mir schloß sich die kosmische Sperre und löschte das Erinnern ans an das, was vor diesem Schritt gewesen sein mochte.

Ich war ein Kosmone, austauschbar, belegt mit einem Namen aus der Lostrommel, aber fertig: angereichert mit dem Wissen und den Kenntnissen eines SCOUT-Kommandanten.

Seitdem zählte ich zum fliegenden Personal. Tag für Tag stieg ich in das Cockpit meiner SCOUT, um den leeren Raum um unsere Kunstwelt nach Veränderungen abzusuchen, und Tag für Tag kehrte ich mit der gleichen stereotypen Auskunft zurück: Nichts.

Aber es gab auch die Träume mit ihren unerklärlichen märchenhaften Bildern und der unendlichen Sehnsucht, die sie hinterließen.

Und so trug ich schließlich meinen Vorsatz, Cosmopol zu verlassen, dem Großmeister vor. Anfangs ließ er mich reden, aber irgendwann gebot er mir mit einer Handbewegung Schweigen.

„Brandis“, sagte er, „gehen wir an Ihren Fall doch mal realistisch ‘ran! Angenommen, Sie bekämen die SCOUT, um die Sie mich gebeten haben, was würde dann das Ziel Ihrer Reise sein?“

Über das Wohin hatte ich bislang nicht nachgedacht. Mit einer einzigen Frage hatte mich der Großmeister in die Enge getrieben. Ich sann über eine angemessene Antwort nach, und mein Blick ruhte auf der Vitrine mit den gehüteten Reliquien einer verschollenen Vergangenheit.

Da gab es die fotografische Abbildung einer fremdartigen Welt von unbeschreiblicher Schönheit. Über der Landschaft lag ein intensives Licht, das hier und da starke Schatten warf.

Weiter gab es in der Vitrine ein dickes Buch mit ausgefransten Seiten, das man die Bibel nannte. Gelegentlich wurde daraus vorgelesen. Besonders die Schöpfungsgeschichte hatte auf mich Eindruck gemacht.

Und es gab eine zwiebelförmige Uhr mit goldener Kette. Auch ihre Zeiger waren von ewiger Totenstarre befallen.

Alles das waren stumme Zeugen einer Herkunft von dem verlorenen Mutterplaneten.

Meine Gedanken arbeiteten. Der Großmeister spürte das. Er sagte: „Vielleicht fällt Ihnen die Antwort leichter, wenn ich Sie frage: Was fehlt Ihnen auf Cosmopol?“

„Eigentlich“, antwortete ich ehrlich, „weiß ich das selbst nicht so recht. Eigentlich habe ich hier alles, was man so braucht. Eigentlich gibt es für mich keinen Grund, mich zu beklagen. Und -“

Der Großmeister war ein weiser Mann. Denn wieder unterbrach er mich:

„Jede Ihrer Beteuerungen wurde eingeleitet mit dem Wörtchen ‘Eigentlich’. Liegt da nicht irgendwo der Schlüssel zu Ihrer Unzufriedenheit?“

Wieder einmal hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Eigentlich“, erwiderte ich, „finde ich in all dem keinen Sinn.“

Der Großmeister ließ mich einen Seufzer hören.

„Brandis“, sagte er dann, „man kann nicht alles haben. Als es Cosmopol hierher verschlagen hat - niemand weiß wann und warum, denn die Erinnerung ist ausgelöscht - als das geschah, hat man das sicher für ein entsetzliches Unheil gehalten. Doch irgendwann kam man dahinter, daß es in diesem Teil des Universums, in dem wir uns heute befinden, die mörderische Zeit nicht gibt, die anderswo alles altern läßt und zerstört, und da erkannte man im Unglück das unverhoffte Glück. Wir sind zu Kosmonen geworden, und Kosmonen sind unvergänglich. Nur fremde Gewalt kann sie vernichten.“ Der Großmeister behielt mich fest im Auge, als er hinzufügte:

„Einen anderen Sinn vermag ich Ihnen nicht zu nennen.“

Die Worte, die der Großmeister für meine Zweifel fand, waren gut. Sie waren warmherzig und wohlabgewogen, und vielleicht hätte ich mich von ihnen noch einmal überzeugen lassen, wäre da nicht über unseren Häuptern die kristallene Kuppel gewesen. Und auf dieser lastete das Nichts der leeren Unendlichkeit und machte mich krank.

Ich überlegte wohl zu lange, denn in den nächsten Worten des Großmeisters lag ein Hauch von Ungeduld.

„Also, Brandis - was würde Ihr Ziel sein? Konkret! Mit Wegfliegen allein ist es ja nicht getan. Also?“

Und nun, plötzlich, lag es vor mir, das Ziel - eine leuchtende Vision.

„Seit je her“, sagte ich, „höre ich immer die gleiche Litanei. Wir müßten uns aufraffen und eine Expedition losschicken, um den verlorenen Mutterplaneten zu suchen. Aber Tatsache ist doch: eine solche Expedition ist nie aufgebrochen, und sie wird nie aufbrechen. Und wir werden auch weiterhin von der Erde, der wir unsere Herkunft verdanken, lediglich träumen.“

Meine Rede, mit einer gewissen Unsicherheit begonnen, gewann an Festigkeit.

„Einer muß es tun. Einer muß aufbrechen. Ich.“

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, nannte ich den Beweggrund:

„Dann bekommt alles für mich einen Sinn.“

Die schlanke Hand des Großmeisters hob sich plötzlich dem Nichts über unseren Häuptern entgegen, der schrecklichen Leere ohne Maß und Ende.

„Sehen Sie das, Brandis? Darüber gibt es keine Aufzeichnungen, keine Karten, geschweige denn ein Computerprogramm. Völlig auf sich allein gestellt, würden Sie darin nach der Nadel im Heuhaufen suchen - mit verbundenen Augen.“

Bevor er fortfuhr, ließ er die Warnung wirken.

„Und was, wenn es diese Nadel überhaupt nicht mehr gibt? Was, wenn die Erde in der kosmischen Katastrophe, die Cosmopol hierher verschlagen hat, untergegangen ist? Was dann?“

In einem solchen Fall würde ich als Irrläufer enden: ein heimatloses Objekt, verdammt zu ewiger Einsamkeit. Mich schauderte.

Die Hand kehrte aus dem Nichts zurück und legte sich auf meine Schulter.

„Brandis, überlegen Sie!“

Hätte er mich besser verstanden, wenn ich ihm erzählt hätte, wie lange ich schon mit dieser Überlegung lebte? Aber nun wollte ich die Entscheidung, bevor er mich ins Wanken brachte. Und so sagte ich nur:

„Mein Entschluß steht fest. Alles, was ich von Ihnen erbitte, ist eine SCOUT und Ihre Erlaubnis.“

Ungewohnte Wärme zeigte sich plötzlich in den auf mich gerichteten ernsten Augen.

„Also gut, Brandis“, entschied der Großmeister, „die SCOUT sollen Sie haben. Und meine Erlaubnis auch. Sie haben ja so unrecht nicht, wenn Sie sagen: Einer muß schließlich den Anfang machen und aufbrechen. Aber, um Himmels willen, suchen Sie sich einen tüchtigen Co-Piloten.“

Das war sein letztes Wort. Und ich wußte es zu schätzen. Ich gab meine Annonce ins Netz, ohne die Katze gleich aus dem Sack zu lassen:

Zuverlässiger Co
für längere Expedition gesucht.

Auf den ersten Bewerber brauchte ich nicht lange zu warten. Und, der Himmel weiß, ich hätte ihn liebend gern genommen, denn es war kein anderer als Boris Bojan, einer von den Besten.

Bojan war Vollpilot wie ich, und manchmal schien er mir von der gleichen Krankheit befallen zu sein wie ich.

„Mark“, brüllte er, wobei er meine Hand fast zerquetschte, „ist das wahr? Es gibt Abwechslung?“

„Wenn du dir nicht zu schade bist, unter mir die zweite Geige zu spielen“, machte ich ihm die Bedingung klar. „Nur dann.“

Bojan grinste.

„Ehrlich, Mark, unter dir würde ich sogar auf dem Kamm blasen - nur um aus diesem Mief mal für ‘ne Weile rauszukommen. Und nun pack aus: Wohin soll der Ausflug gehen?“

Nun war es an mir, zu grinsen.

„Wie würde dir das zur Abwechslung mal gefallen, Boris - nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen?“

Er blieb Feuer und Flamme.

„Immer noch besser, als hier zu versauern und auf die Erlösung durch den Weltuntergang zu warten.“ In seinen Augen las ich, wie seine Spannung wuchs. „Aber nun mal Klartext, Mark! Was hat es auf sich mit dieser Nadel im Heuhaufen?“

Ich sagte es ihm - nackt und unverblümt.

„Boris, ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die Erde zu finden.“

Sein Strahlen gefror zur Grimasse.

„Was?“

„Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die Erde zu finden“, wiederholte ich geduldig.

Das Licht in seinen Augen wurde eisig.

„Mark, du spinnst!“

Seine Reaktion war mehr als verständlich. Sie war nichts, was ich ihm hätte verübeln dürfen. Boris Bojan war ein As im Cockpit, und, wie gesagt, ich hätte ihn nur zu gern an meiner Seite gewußt, aber selbst für ihn, der sonst zu jeder Tollkühnheit bereit war, ging mein Vorhaben zu weit. Seine nächsten Worte waren nur noch ein Versuch, Gesicht zu wahren.

„Mark, du weißt selbst, daß das unmöglich ist. Und bei aller Langeweile, unter der ich zu leiden habe, geht es mir hier nicht so übel, als daß ich Lust verspürte, als Irrläufer zu enden. Stell dir vor - eine Ewigkeit unterwegs im Nichts, und nicht mal ein paar Comics an Bord!“ Bojan schüttelte den Kopf. „Mark, laß dir einen besseren Witz einlallen, oder such dir einen anderen!“

Das war Boris Bojan. Wenn es nur darum gegangen wäre, den Teufel am Schwanz aus der Hölle zu ziehen - Boris Bojan hätte nicht gezögert. Doch wenn er zu einer Sache nein sagte, hatte das Hand und Fuß.

Der nächste, der bei mir vorsprach, war Jean Gordon. Auch er zählte zur Elite. Auf mehr als einem Kontrollflug war er mein Partner gewesen: Co-Pilot mit Leib und Seele. Zuverlässig, gewissenhaft, technisch bewandert. Und immer völlig zufrieden damit, die zweite Geige zu spielen. Er wußte schon Bescheid. Boris Bojan hatte ihn vorgewarnt.

„Du willst es also ernsthaft riskieren?“

„Will ich.“

„Aber doch wohl nicht einfach so? Ich meine, nicht ganz ohne einen Anhaltspunkt. Du mußt doch was in der Hand haben, Mark. Eine Berechnung. Eine Peilung. Etwas in der Art. Sag es mir, und du kannst auf mich zählen.“

Ich wies ihm meine leeren Handflächen vor.

Danach schwieg er eine gute Weile, bevor er hervorbrachte:

„Tut mir leid, Mark. Unter diesen Umständen ziehe ich meine Zusage natürlich zurück. Tut mir aufrichtig leid. Aber so ganz ohne was?“

Er blickte unglücklich. „Du weißt selbst, daß du sonst immer auf mich zählen kannst.“

Jean Gordon druckste noch eine Weile herum, und ich begriff endlich, daß es an mir lag, ihm eine goldene Brücke für einen ehrenvollen Rückzug zu bauen. Ich schob ihn zur Tür.

„Du brauchst dich nicht zu schämen, Jean. An deiner Stelle hätte ich mich auch für verrückt erklärt. Ist schon gut, alter Junge. Und danke, daß du wenigstens gekommen bist.“

Ich war damit beschäftigt, meine Reisetasche zu packen, denn obwohl ich im Begriff stand, einen vollständig ausgerüsteten Raumkreuzer zu übernehmen, gab es doch noch immer einigen persönlichen Krimskrams, auf den ich nicht verzichten mochte. Um ein Haar hätte ich das Anklopfen überhört. Und dann war, was mich aufmerksam werden ließ, mehr noch als das Anklopfen der Duft, der durch die Türritzen quoll. In meinen Träumen war so der Duft der Erde gewesen. Die Verheißung einatmend, sagte ich:

„Kommen Sie schon ‘rein!“

Und der Duft der Erde kann herein, als W-Typ nicht eben klein, aber sonst ausgestaltet mit allen Rundungen einer Frau. Mit diesem Schicksal schien sie durchaus im Einklang zu leben. Sowohl der direkte Blick aus seegrünen Augen ließ mich das spüren, als auch die ungezierte Art, mit der sie sich eine vorwitzige Strähne ihres kupferfarbenen Haares aus der Stirn wischte. Sie war ein W-Typ mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein.

Schon einmal war mir ihre selbstbewußte Haltung aufgefallen, am Tag der Namensgebung. Ich hatte zu den geladenen Zeugen gehört, als der Großmeister in die rotierende Lostrommel griff und den solcherart ermittelten Namen mit lauter Stimme verkündete:

„Ruth O’Hara.“

Es folgte die vorgeschriebene Frage:

„Nehmen Sie diesen Namen an?“

Die meisten W-Typen pflegten bei der Gelegenheit zu kichern oder mit hochrotem Kopf eine kaum verständliche Antwort zu stammeln - sie jedoch antwortete klar und deutlich:

„Ich nehme den Namen an.“

Ein W-Typ mit Selbstbewußtsein - innerlich ging ich auf Abstand.

Und auch von einer anderen Erinnerung ließ ich mich leiten, von der Erinnerung an den Vargo-Scott-Prozess. Man hatte die beiden, M-Typ und W-Typ, bei einer gesetzwidrigen intimen Handlung überrascht: beide in unbekleidetem Zustand. Die Anklage lautete auf Sabotage der wissenschaftlichen Ordnung, das Urteil auf lebenslange Verbannung.

So war das Gesetz, so waren die Regeln. Ich hielt mich daran und schluckte gehorsam meine tägliche Ration Neutralin.

„Sie sind noch immer auf der Suche nach einem zuverlässigen Co-Piloten, Brandis.“ Die Stimme hatte an Selbstbewußtsein nichts eingebüßt. „Nun, er steht vor Ihnen.“

Ruth O’Hara zählte zu den Gesichtern, die erst kürzlich von der Retorte nachgeschoben worden waren, als Ersatz für einen Irrläufer. Weshalb man den Ersatz wieder als W-Typ konzipiert hatte, entzog sich meiner Beurteilung, und die Retorten-Heiligen ließen sich nicht in die Karten gucken. Ohne Umschweife machte ich dieser Ruth O’Hara klar, daß ich sie nicht wollte.

„Ich werde darauf zurückkommen, sobald ich einen Ausflug mit Picknick plane. Aber diesmal....“

So leicht war sie nicht loszuwerden.

„Hören Sie“, beharrte sie, „ich werde Ihnen nicht zur Last fallen - falls es das ist, was Sie befürchten. Was ich anzubieten habe, ist Assistenz im Cockpit und gelegentlich ein Wort gegen die Einsamkeit.“

Sie mochte es so sehen, ich sah das anders.

„Wie schon gesagt ... Sobald ich einen Ausflug mit Picknick plane ...“

Doch so rasch war ihre Hartnäckigkeit nicht zu erschüttern.

„Brandis“, bedrängte sie mich, „diese Reise ist wichtig für meine Forschung. Sie bietet mir eine Chance, die vielleicht nie wiederkehrt. Ich muß dabei sein.“ Ihre Augen beschworen mich. „Bitte, stellen Sie mich ein. Bitte!“

Ich mußte deutlicher werden.

„Beschweren Sie sich bei den Heinis im Labor, daß man Sie nicht als M-Typ in die Welt entlassen hat. Ich habe für Sie keine Verwendung.“

Sie behielt das letzte Wort.

„Warten wir’s ab!“ sagte sie und ließ mich stehen.

*

In den folgenden Tagen hatte ich alle Hände voll damit zu tun, um meine SCOUT zu überprüfen und reiseklar zu machen. Ab und zu besuchte mich der Stationsmeister. Die grauen Haare hatte er schon gehabt, als die Zeitlosigkeit seinen Alterungsprozeß gestoppt hatte. Wo es erforderlich war, faßte er mit an. Kopfschüttelnd betrachtete er im Cockpit den zweiten Sitz, den ich abgedeckt gelassen hatte.

„Brandis, so ganz ohne Co handeln Sie sich ein verflixtes Stück Einsamkeit ein!“

Nun, die Suppe hatte ich mir selbst eingebrockt. Ich war entschlossen, sie auch auszulöffeln.

„Immer noch besser als ein W-Typ, der sich bei jedem Schreck in die Hosen macht.“

Der Graukopf seufzte.

„Ich wollte, Sie nähmen Vernunft an, mein Junge. Ruth O’Hara ist nicht von dieser Sorte. Als Wissenschaftlerin gilt sie schon heute als Koryphäe. Ich fürchte, Brandis, Sie machen da einen großen Fehler.“

Ich winkte ab.

„Kann schon sein“, antwortete ich leichthin. Und dabei blieb es.

In der Nacht vor dem Start stand ich lange vor dem Fenster und hielt auf meine Weise Zwiesprache mit dem dahinter gähnenden Nichts. Wo begann diese entsetzliche Leere, und wo endete sie? Und was gab es außer ihr?

Zumindest gab es in ihr auch noch Astropol, und das war praktisch unser Zwilling - in Dienst gestellt mit gleicher Aufgabe, wenn auch unter leicht abweichenden Bedingungen. Einmal nur nach dem großen Crash war es gelungen, mit Astropol Kontakt aufzunehmen, aber der Verbrauch an Energie war dabei so gewaltig gewesen, daß die Fortsetzung des Dialoges hatte unterbleiben müssen.

Immerhin, auf dem langen Weg, der vor mir lag, mochte Astropol ein freundlicher Hafen sein. Falls ich ihn fand. Und mit etwas Glück mochte ich dort auch das stoßen, was mir fehlte: auf genaue Karten und Computerprogramme. Und vor allem - auf das Wichtigste, auf Gewißheit.

Vielleicht würde ich erfahren müssen, daß ich einem Phantom nachjagte, weil es die Erde längst nicht mehr gab.

Doch wer garantierte, daß Astropol noch existierte? Und wie sollte ich den Weg dorthin finden - in der großen Leere, mit leeren Händen? Was passierte, wenn ich daran vorbeiflog... immer weiter... immer weiter ... immer tiefer hinein in die Unendlichkeit?

Ein Irrläufer.

Verdammt in alle Ewigkeit. Allein auf einem ziehenden Schiff, auf dem nie Mangel herrschen würde, denn alles zum Leben Notwendige war eingebunden in einen ewigen Kreislauf. Nichts ging verloren.

Ich kannte das Risiko, und doch war ich am anderen Morgen pünktlich zur Stelle. Etwas in mir war stärker als alle Furcht: diese geheime Sehnsucht, für die ich keinen Namen fand.

*

Der Großmeister selbst kam an den Start, um mir, bevor sich hinter mir der Lukendeckel schloß, noch einmal die Hand zu drücken.

„Noch können Sie aufstecken, Brandis. Und jeder hier hätte Verständnis dafür.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Es muß sein.“

Seine klugen Augen blieben lang auf nicht gerichtet - mit einem Ausdruck, den ich nicht zu deuten wußte.

„Ich verstehe“, sagte er schließlich. „Also dann, Brandis - Gott befohlen!“

Er hatte mir ein Geschenk mitgebracht: die zwiebelförmige Uhr aus seiner Vitrine. Der Himmel allein mochte wissen, wie schwer es ihm fiel, sich davon zu trennen.

„Ein kleines Hilfsmittel“, brachte er hervor. „Hängen Sie sie im Cockpit auf und behalten Sie sie im Auge! Sobald die Zeiger anfangen, sich zu bewegen, können Sie davon ausgehen, daß Sie auf dem richtigen Kurs sind.“

Und nachdem sich der Großmeister ganz mächtig geräuspert hatte, gab er mir einen letzten Rat mit auf den Weg.

„Aber vergessen Sie nie: Die Zeit, das ist der Feind. Je weniger Sie mit ihr zu tun haben, desto besser. Also: Hinfliegen, ansehen und kehrtmachen! Klar?“