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Tragische Unglücksfälle entreißen Greta Holinger immer wieder Menschen, die in ihrem Leben eine tragende Rolle spielen.

Präparierte Rosen werden zu geheimnisvollen Wegbegleitern, deren Sinn sie erst erkennt, als es fast zu spät ist. Die Ereignisse verdichten sich zu einem turbulenten Strudel aus Intrigen, Leidenschaft und Verbrechen. Er zieht Greta fast in die Tiefe, als die dunklen Machenschaften eine unvermutete Auflösung finden.

Erst Jahre später ist sie bereit, ihren Blick nochmals auf die Vergangenheit zu richten und muss sich der Frage stellen – ist es wirklich vorbei?

Kirsten Eggers ist 1966 in Bremen geboren. Sie lebt in der Nordheide und im Bergischen Land. Schon im Jugendalter entstanden erste Geschichten. Der Roman mit Krimi-Charakter »Das Geheimnis der goldenen Rose« ist ihr erstes Buch. Ein weiteres ist in Arbeit.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: 2002 – Zürich

1982 – Locarno

1983 – Locarno

1984 – St. Moritz

1985 – Zürich

1987 – England

1990 – Zürich

1992 – Zürich

1993 – Locarno

1994 – Locarno

Epilog: Zürich – 2002

Prolog: 2002 – Zürich

Wie jeden Abend war die Zeit, in der meine beiden Kinder zu Bett gehen sollten, ein schwieriger Moment.

Plötzlich gab es für die Mädchen noch etwas unglaublich Dringendes zu erledigen. Manchmal war es die Suche nach einer Puppe, die noch mit ins Bett musste, oder aufkommender Hunger machte das sofortige Zu-Bett-Gehen unmöglich.

Heute konnte sich meine Tochter Kira nicht von ihrem Computer-Spiel trennen. Ich hatte keine Lust auf Streit oder kleine Rangeleien, so entschloss ich mich strategisch vorzugehen.

»Kira, leg doch mal deinen Gameboy beiseite. Das Märchen lese ich euch nur vor, wenn du nicht weiter mit diesem Ding spielst. Also, entweder oder. Maja, komm, geh jetzt auch ins Bett, damit wir anfangen können.«

Sich möglichst langsam bewegend, gingen sie zu Bett, schauten mich dann aber doch ganz erwartungsvoll an.

Ich atmete tief durch und begann die Geschichte vorzulesen:

»Es mag schon 200 Jahre her sein, als sich diese Geschichte zutrug, die ich nun erzählen möchte. Auch ich habe sie erzählt bekommen, wie schon viele Menschen vor mir.

Es lebte damals ein Mädchen, an das sich die Menschen noch lange erinnern sollten!

Es kam aus sehr armen Verhältnissen, denn der Vater war ein selbstsüchtiger Taugenichts, der die Arbeit scheute wie die Ratten das Licht.

Stets dachte er nur an sich und verschwendete keinen Gedanken an seine kranke Frau, die häufig das Bett hüten musste und deshalb wenig als Schneiderin verdienen konnte.

Da auch das Essen immer knapper wurde, waren sie auf Almosen angewiesen, die andere für sie bereit hielten. So ging das Mädchen jeden Abend nach Sonnenuntergang durch lange, dunkle Gassen, bis es zu einem Gasthof kam, wo der gütige Koch stets die Reste des vergangenen Essens für es verwahrte.

Ich schaute von meinem Buch auf, weil meine sechsjährige Tochter Maja mir eine Frage stellte:

»Wieso ist denn der Vater da nicht selbst hingegangen? Hatte der denn gar keine Angst um seine Tochter? Papi würde uns da nicht hingehen lassen, oder?« Darauf antwortete ich ihr fast automatisch:

»Nein, Maja – jetzt hör weiter zu, ihr sollt doch gleich schlafen!«

Mein Blick ging zu meiner großen Tochter Kira, die im Bett gegenüber lag. Sie war zwei Jahre älter als Maja. Bis zum Kinn in die Bettdecke eingemummelt, lag sie mit geschlossenen Augen da, so dass ich nicht erkennen konnte, ob sie schon schlief oder mir noch zuhörte.

Ich las weiter:

»Aber das Mädchen war auch reich – reich an Herz und Seele und hatte viel Fantasie. So träumte es oft – auch wenn es seiner Mutter bei den Näharbeiten helfen musste. Waren diese dann fertig, gehörte es noch zu seinen Aufgaben, den Kunden die fertig gestellten Arbeiten nach Hause zu bringen.

Auf seinen Wegen durch das Dorf träumte das Mädchen so offensichtlich, dass niemand sich traute es anzusprechen. Keiner aber, der guten Herzens war, konnte seinen Blick von ihm abwenden. Denn wer einmal in sein Gesicht sah, konnte es nicht mehr vergessen, solch eine Verzauberung ging von ihm aus. Es war, als ob sein geträumtes Glück sich auf die Menschen übertrug, wenn sie es nur lange genug ansahen! Menschen mit dunkler Seele aber konnten seinem Blick nicht standhalten. Sie erschraken furchtbar, denn sie sahen darin nur sich selbst. So kam es, dass alle das Mädchen Glück nannten.

Die Jahre vergingen und das Kind erblühte zu einem schönen Mädchen. Es war von zarter Gestalt und trug seine langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten, die die Mutter jeden Morgen kunstvoll auf seinem Kopf feststeckte. Es hatte blau-graue Augen, die umrahmt waren von einem Kranz dichter Wimpern. Hübsch tummelten sich Sommersprossen auf seinem schmalen Nasenrücken.

Obwohl sein Leben in den letzen Jahren voller Entbehrungen gewesen war, umspielte stets ein leises Lächeln seinen Mund und sein Wesen blieb unverändert liebenswert. Überall war es beliebt und gern gesehen.

Eines Tages hörte der König von ihm und ließ es zu sich rufen. Es war bekannt, dass der Königssohn trotz seines Standes und Reichtums traurigen Herzens war. Niemand konnte ihn zum Lachen bringen, niemals war er froh. Trotz hoher Belohnungen war es keinem gelungen, dem Prinzen auch nur ein Lächeln zu entlocken.

Der Vater war geehrt vom Rufe des Königs und drängte hastig zur Abreise. Er sah unverhofften Reichtum auf sich zukommen, denn der König war bekannt für seine Liebe zum Sohn und würde sich sicher großzügig zeigen.

Die Mutter war dagegen und sorgte sich sehr. Sie wollte ihre geliebte Tochter nicht von sich lassen.

Der Vater aber blieb unerbittlich.

Unentwegt schimpfte er und war gereizt. Er trieb sie zu immer schnellerem Gehen an, denn sie mussten ihre Reise zu Fuß bewältigen. Der Vater befürchtete, der König könnte sein Interesse an den Fähigkeiten seiner Tochter verlieren, wenn sie ihn zu lange warten ließen.

So ging sie bekümmert, aber klaglos ihren langen Weg.

Den vielen Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegneten, wurde bei ihrem Anblick ganz traurig ums Herz. So schenkten sie ihr Brot und Blumen. Das Brot jedoch aß der Vater fast allein, die Blumen ließ er ihr.

Nach langem, beschwerlichem Fußmarsch gelangten sie endlich zum Schloss. Mittlerweile hielt das Mädchen so viele Blumen auf dem Arm, wie es gerade noch tragen konnte.

Als der König es zu sich rief, war er berührt vom Anblick des Mädchens und unterhielt sich mit ihm. Es erzählte ihm von sich und wie krank und allein gelassen seine Mutter zu Hause war. Da erbarmte sich der König und schickte gleich eine Kutsche, um die Mutter zu holen.

Der Vater aber wurde fortgeschickt, um ungeliebte Arbeiten im Ausland zu verrichten. Darüber freute das Mädchen sich so sehr, dass es anfing zu tanzen und zu lachen. Dabei verteilten sich die vielen Blumen um es herum – ein wunderschöner Anblick.

In diesem Moment kam der Prinz herein. Er ging auf das Mädchen zu und konnte seinen Blick nicht mehr abwenden, so bezaubernd sah es aus, tanzend in seinem Meer aus Blumen.

Dann fasste er es bei der Hand. Raum und Zeit verloren an Wichtigkeit. Ihre Blicke versanken ineinander, während sie tanzend über den marmornen Boden des Königspalastes schwebten. Sie wussten beide, es war Liebe.

Als der König dies sah, war er überglücklich. Denn endlich einmal sah er seinen Sohn lächeln.

Einmal in die Obhut des Königs gelangt, ging es der Mutter von Glück bald wieder besser. Kurze Zeit darauf heirateten der Prinz und das Mädchen namens Glück. Darüber war das Volk sehr froh, denn es ahnte, dass nun schöne Zeiten vor ihm lagen.«

Als ich das Buch schloss und aufschaute, sah ich, dass meine beiden Töchter tief und fest schliefen. Ich ordnete ihre Bettdecken, löschte bis auf die Mini-Lampe, die in der Steckdose nahe der Zimmertür steckte, alle Lichter und ging hinaus.

Unschlüssig blieb ich vor der Kinderzimmertür stehen. Ich könnte es meinen Kindern gleichtun und ebenfalls früh zu Bett gehen, dort wartete ein Buch auf mich. Der Gedanke schien mir nicht besonders verheißungsvoll, denn bisher hatte es lediglich erfolgreich als Einschlafhilfe gedient. Nein, entschied ich mich und steuerte die Couch im Wohnzimmer an. Fernsehen wollte ich und hoffte auf einen guten Film. Der würde mich wohl eher fesseln, als der langweilige Schmöker es vermochte.

Ich kuschelte mich in eine Wolldecke, die Kira achtlos hatte liegen lassen und schaltete doch nicht den Fernseher ein. Ich lag einfach nur da und musste an das Ende des Märchens denken, das ich gerade meinen Töchtern vorgelesen hatte. Wie war das noch – das Volk freute sich auf die schönen Zeiten, die nun vor ihm lagen!

»Schöne Zeiten« murmelte ich vor mich hin – ich erinnerte mich noch genau an den einen Moment in meinem Leben, an dem ich fest davon überzeugt war, diese vor mir zu haben. Schöne Zeiten – dachte ich, das ist lange her! Ewig!!

So ewig und fern, dass ich gar nicht wusste, ob es gut war, sich zu erinnern. »Erlebnisse sind das Ergebnis der Vergangenheit«. Momentan wusste ich nicht, von wem ich diesen Ausspruch gehört hatte.

Mir fiel etwas ein. Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch. Langsam öffnete ich die linke Tür, die den Blick auf innen stehende Aktenordner verbarg und wühlte, bis ich sie endlich in den Händen hielt – meine Tagebücher!

Als ich vor acht Jahren erfuhr, dass ich ein Kind bekam, war diese Nachricht der letzte Eintrag in mein Tagebuch gewesen. Danach hatte ich die Bücher weit hinten im Schreibtisch verstaut und sie nie wieder hervorgeholt. Bis heute – heute wollte ich mich erinnern!

Mit den Büchern auf dem Arm, kehrte ich zur Couch zurück, zog die Wolldecke über mich, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen:

1982 – Locarno

Es war Weihnachten und bitterkalt. In diesem Gebiet war man im Allgemeinen milderes Klima gewohnt, aber es störte mich kaum. Schnee bedeckte den Hausberg dieser Gegend, den Monte Cardada. Von seinem Gipfel hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Lago Maggiore und die Städte, die an seinem Fuße im Laufe der Jahrhunderte entstanden waren. Mittlerweile war er bis auf halbe Höhe bebaut und bot vielen Menschen aus unterschiedlichsten Nationen und Schichten ein Domizil für die Ferien oder sogar auf Dauer. Wenn die Gipfel so viel Schnee trugen wie in diesem Winter, dann versprach die Skisaison erfolgreich zu werden. Und das in einer Region, die für den Sommer-Tourismus berühmt war. So schulterten viele erfreut ihre Skier und machten sich mit der Zahnradbahn auf den Weg zur Piste.

Diesen Winter verlebten meine Familie und ich die Feiertage zu Hause in Locarno. Auch meine Großmutter reiste aus Zürich an. Normalerweise verbrachten wir die Festtage in den Bergen. Genauer gesagt in Sankt Moritz, manchmal auch in Gstaadt, vorausgesetzt es gab dort genügend Schnee, denn wir waren alle begeisterte Skifahrer. In beiden Orten besaßen wir Häuser, die auf die Bedürfnisse der Familie zugeschnitten waren.

Vorerst aber bestand meine Mutter darauf, zu Hause zu bleiben. Meine Großmutter hatte gesundheitliche Probleme. Sie litt an einer Herzerkrankung und war vor kurzem erst operiert worden. Alles war gut verlaufen, aber die Höhenveränderungen, die solche Aufenthalte mit sich brachten, hätten ihrem Herzen womöglich zu schaffen gemacht. Außerdem glaubte meine Mutter fest daran, nur unser hiesiger Hausarzt verstünde meine Großmutter bei einem Notfall richtig zu behandeln. Für den heutigen Heiligen Abend war ein kleines Fest geplant, ganz im engsten Familienkreis und das waren meine Eltern, Granny, so nannte ich meine Großmutter, und ich. Es wurde ein schöner, ruhiger Abend. Sonst luden wir auch Freunde der Familie ein, es war immer viel Trubel. Tatsächlich gefiel mir der kleine Kreis viel besser.

Meine Großmutter machte mir stets tolle Geschenke. Zum letzten Weihnachtsfest hatte ich von ihr eine Staffelei und unglaublich viele Aquarellfarben erhalten. Voller Begeisterung ging ich ans Werk und besuchte sogar einen Malkurs, den ich zusätzlich von ihr bekommen hatte. In dieser Zeit machte ich merkliche Fortschritte. Ein besonders gelungenes Bild, zumindest in den Augen meiner Großmutter, zierte bald eine Wand in ihrem Schlafzimmer. In diesem Jahr jedoch bedachte sie mich mit drei wunderschönen, in dunkelblaues Leder gebundenen Tagebüchern. Auf die Einbände war mein Namenszug in feiner Goldschrift geprägt. Um sie später vor ungebetenen Blicken zu schützen, waren die etwa DIN A 4 großen Bücher seitlich mit kleinen Schlössern versehen, die ebenfalls goldfarbig glänzten. »Du wirst mindestens drei Bücher brauchen,« erklärte mir meine Großmutter lächelnd. Sie stellte sich die Inhalte folgendermaßen vor: »Das erste wirst du benötigen, um von den Kontakten zu berichten, die du in den nächsten Jahren knüpfen wirst. In dem zweiten werden diese verarbeitet und im dritten geht es nur darum, diese wieder zu lösen!«

Das sagte sie mir schmunzelnd hinter vorgehaltener Hand, denn meine Eltern hielten von derlei Aussagen nicht viel. Im nächsten Herbst würde ich siezehn Jahre alt und war voller Erwartung, ob meine Großmutter Recht behalten würde.

Meine Eltern beschenkten mich auch zu diesem Fest wie gewohnt. Das Präsent war teuer und vor allen Dingen den Freundinnen meiner Mutter gegenüber äußerst erwähnenswert. Einmal bekam ich von ihnen einen Tennisschläger, dessen Griff mit der Signatur einer bekannten Schweizer Tennisspielerin versehen war. Für manch einen ein tolles Geschenk. In meinem Fall jedoch mussten meine Eltern vergessen haben, dass ich schon seit zwei Jahren keinen Platz mehr betreten hatte und es auch nie wieder tun wollte.

Früher waren es schon mal Lackschühchen mit passender Handtasche gewesen, in meinen Augen gräßliche Geschenke. Ich wusste, meine Mutter würde nicht ruhen, bis ich sie endlich trug. Oder eine Puppenstube, ganz in Samt und Seide ausstaffiert. Die Puppen handgearbeitet und kostbar. Anfänglich spielte ich damit, nur die ständigen Ermahnungen meiner Mutter an die Sauberkeit meiner Hände ließen dieses ohnehin alberne Spielzeug für mich völlig uninteressant werden. Sobald ich auch nur eine Figur anfasste, rief sie: »Greta, du weißt ja, du sollst dir vor dem Spielen die Hände waschen!« Nein, das nahm mir jede Freude.

Waren ihre Freundinnen dann bei uns zu Besuch, kam es oft vor, dass ich gebeten wurde, diese »Objekte« vorzuführen und von ihnen bestaunen zu lassen. Mich haben diese »Spielchen« als kleines Mädchen sehr verwundert, obwohl ich sie meiner Mutter zuliebe eine Weile ertrug. Später, als ich älter und selbstbewusster wurde, habe ich mich schlichtweg geweigert sie mitzumachen.

Natürlich gab es auch bei uns Wunschzettel – meine Mutter brachte es nur selten über sich, Dinge zu kaufen, die nicht ihren Vorstellungen entsprachen. Dabei lag es nie am Geld, denn es ging uns sehr gut.

Die Tagebücher meiner Großmutter allerdings, versöhnten mich in diesem Jahr mit allem.

1983 – Locarno

Es war zu spät, unabänderlich. Jede Chance war vertan, ihnen zu erklären, was sie mir bedeuteten. Ihnen zu sagen, dass ich sie liebte. Sie waren tot. Meine Eltern waren tot. Seltsam fremd hörte sich das in meinen Ohren an. Noch nie war ich in meiner Familie dem Tod begegnet. Nichts ist endgültiger. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu tun, das meine Eltern und mich endlich einander näher bringen würde.

An jenem letzten Morgen hatten sie mich zum Frühstück gebeten. Mein Vater steckte seinen Kopf zur Zimmertür herein und rief aufmunternd: »Greta, komm, steh auf, das Frühstück ist fertig.«

Aber ich war müde, blieb mürrisch brummend liegen und pochte auf mein Recht samstags auszuschlafen: »Papa, die ganze Woche muss ich früh aufstehen, lass mich doch bitte ausschlafen, wenn ich zu Hause bin,« quengelte ich. »Mutti hat gestern gesagt, ihr hättet heute noch einen Termin in diesem Einkaufszentrum und an dem wollte ich eh’ nicht teilnehmen. Dort ist es sicher wieder zum Gähnen langweilig. Nein, ich bleibe lieber im Bett.«

Mit enttäuschter Miene, aber ohne eine weiteres Wort an mich zu richten, verließ mein Vater den Raum und schloss die Zimmertür leise hinter sich. Ich spürte ein nervöses Kribbeln in der Magengegend, denn schlechtes Gewissen kroch in mir hoch. Mit einer heftigen Bewegung strich ich mir die langen braunen Haare aus dem Gesicht, die morgens wild in alle Himmelsrichtungen abstanden. Ich zögerte kurz und überlegte, ob ich nicht doch nach unten gehen sollte. Trotzig drehte ich mich auf die andere Seite und zog unzufrieden die Bettdecke bis an die Nasenspitze herauf. Minuten später war ich wieder eingeschlafen.

An diesem Morgen sah ich meinen Vater zum letzten Mal lebend. Später quälten mich furchtbare Selbstvorwürfe. Wäre ich doch bloß aufgestanden und zu ihnen hinunter gegangen. Hätte ich ihnen doch bloß beim Frühstück Gesellschaft geleistet. Ich war schuld, dass … War ich schuld, dass …?

In den vergangenen Wochen und Monaten hatten meine Eltern und ich uns nicht besonders gut verstanden, obwohl sie im Grunde genommen nie viel von mir verlangt hatten.

Manchmal hatte ich sie absichtlich gereizt und verletzt. Irgendwie wollte ich sie aus der Reserve locken. Sie sollten Gefühle zeigen, die laut und heftig waren, nicht nur leise, immer um Haltung bemüht. Obwohl ich sie wirklich liebte, nervte mich ihre, wie ich fand, oberflächliche Art. Manchmal glaubte ich zu spüren, was sie dachten, wenn ich wieder auf meine recht unverschämte Weise mit ihnen stritt. Das »Warum macht sie das nur« stand unausgesprochen im Raum. Ich erkannte es an ihren Blicken, wenn die Augen meiner Eltern sich trafen, anstatt auf mich zu reagieren.

Irgendwann mussten sie beschlossen haben, es nicht zu tun. Gekränkt hatte ich ihren Beschluss registriert, denn die fehlende Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern und mir ließ mich irgendwie schuldig zurück.

Seit zwei Jahren besuchte ich ein Internat im Oberengadin und sah meine Eltern in der Regel nur an den Wochenenden und in den Ferien. Sie schulten mich auf meinen eigenen Wunsch dort ein. Meine beste Freundin Marielle ging schon seit geraumer Zeit in dasselbe Internat, weil ihre Eltern ständig in der Weltgeschichte herumjetteten. Ich war ein typischer Teenager und ich vermisste die täglichen Gespräche mit meiner vernünftigen und herzlichen Freundin mehr, als die mit meinen eigenen Eltern, mit denen ich mich ständig vor neuen Konflikten wiederfand.

Im Großen und Ganzen gefiel mir das Internatsleben gut. Wir hatten dort zahlreiche Möglichkeiten unsere Freizeit zu gestalten. Sport konnte man fast unbegrenzt ausüben. Sogar Reiten und Fechten gehörten zum vielseitigen Programm dieser Schule.

Mich für das Leben dort zu entscheiden, hieß auch, sich meinen Eltern und ihrer Fürsorge zu entziehen. Heute weiß ich, es war mein Versuch, sie aus der Reserve zu locken. Obwohl ich viele Jahre brauchte, um mein eigenes, gekränktes Tun zu erkennen, wollte ich wohl damals sehen, ob sie mich gehen ließen. Wochenlang diskutierten wir, ob die Entscheidung gut war und welches Internat das richtige für mich wäre. Aber nie sagten meine Eltern etwas, das klang wie: »Bleib doch bei uns, wir würden dich furchtbar vermissen.« Nachdem ich im Internat so viele positive Erfahrungen hatte sammeln können, bereute ich meinen Entschluss, dort hingegangen zu sein, nicht.

Trotzdem verfing ich mich ab und zu im Zwiespalt der Gefühle. Manchmal nagte es an mir, dass meine Eltern nicht den Wunsch äußerten, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Mich beschlich die bedrückende Ahnung, sie würden mich vielleicht nicht genug lieben, um mich häufiger sehen zu wollen. Dann wieder, an anderen Tagen, redete ich mir gut zu, denn sie verfügten in der Tat über wenig Zeit.

Sie hatten beruflich wie auch gesellschaftlich viele Pflichten übernommen. Da war für mich nur ungenügend Platz. Trotzdem wusste ich, dass sie letztlich an mir hingen. Auch gaben sie mir immer das Gefühl, behütet zu sein. Nur eben wie ein wertvoller Schatz und nicht wie das geliebte Kind.

Abends rief mich meine Mutter häufig an, wenn ich im Internat war und erkundigte sich, ob ich etwas brauchte. War dies der Fall, dann regelten und organisierten meine Eltern alles wie mit Zauberhänden.

Zu meiner Großmutter hingegen hatte ich ein ganz unkompliziertes, gutes Verhältnis. Ich hielt sie für eine tolle Frau. Für ihr Alter sah sie sehr attraktiv aus. Sie war schlank, groß gewachsen und genau wie meine Mutter achtete sie auf ein vollkommenes Äußeres. Trotzdem war sie ganz anders als meine Mutter und sprühte vor Esprit und Zuneigung mir gegenüber. Früher war sie oft bei uns gewesen und hatte die Lücken gefüllt, die meine Eltern hinterließen. Sie trocknete mir die Tränen, wenn ich als Kind weinte und sie war es, die mir Liebe schenkte.

Später reiste sie viel und wir sahen uns weniger regelmäßig. Als Ausgleich schickte sie liebevoll gepackte Pakete aus aller Herren Länder zu mir ins Internat. Sie enthielten all’ die Dinge, die mein Magen und mein Herz begehrten. Zum Glück war ich gertenschlank und konnte nach Herzenslust essen, was ich wollte. Diese Veranlagung hat mir wohl mein Vater mitgegeben, denn meine Mutter hatte immer Probleme mit ihrer Figur, zumindest erwähnte sie diese ständig. Ich fand insgeheim, sie sah so gut aus wie Sophia Loren. Vielleicht eine Idee rundlicher, aber immer noch sehr schön. Ansonsten habe ich viel von ihr geerbt, denn meine Augen sind rehbraun und mandelförmig wie die ihren, meine Haare eine Nuance dunkler, dafür aber mit einem rötlichen Schimmer versehen.

Aber dann kam der Tag, der unser aller Leben verändern sollte. Ich hatte einige Tage schulfrei und war aus diesem Grunde zu Hause, als es mittags an unserer Haustür klingelte. Ich war allein, gerade mit dem Duschen und Abtrocknen fertig. Schnell schlüpfte ich in Jeans und Pullover, die ich mir vorher bereit gelegt hatte. Es stand eine Frau mittleren Alters vor der Tür, die sich als Polizistin zu erkennen gab und um Einlass bat. Ich führte sie ins Wohnzimmer und bot ihr einen Platz auf der Sitzgruppe an. Ehe ich fragen konnte, was sie von mir wollte, ergriff sie zögerlich das Wort: »Ihre Eltern …, Ihre Eltern sind heute einem Attentat zum Opfer gefallen. Es tut mir sehr Leid, Ihnen diese Nachricht bringen zu müssen. Wir sind sicher, sie haben nicht gelitten. Es ging alles wahnsinnig schnell, sie haben die Situation, in der sie sich befanden, nicht mehr erfassen können,« fügte sie eilig hinzu.

Ich saß reglos da und war innerlich selbst wie tot. Mein Mund, der wie zum Schrei geöffnet war, brachte keinen Ton heraus. Empfindungslos. Ich hielt meine Hände vor das Gesicht gepresst, wollte das alles nicht hören. Es konnte doch nicht wahr sein, dachte ich verzweifelt. Nach einigen Minuten beiderseitigen Schweigens gelang es mir, die Polizistin anzusehen. »Irren Sie sich nicht?« fragte ich sie und sprach ungläubig weiter: »Ich wusste heute morgen, sie würden bald wiederkommen, deshalb habe ich sie nicht begleitet. Jetzt sagen Sie mir, sie leben gar nicht mehr?« Ich stand ruckartig auf und rannte im Wohnzimmer meiner Eltern orientierungslos auf und ab, lief dann die Treppe hinauf direkt in mein Zimmer und schlug mit einem lauten Knall die Tür hinter mir zu.

Mich in meinem Bett zu verkriechen, das war mein Ziel. Es war der einzige Ort, der mir Schutz und Trost versprach. Auf dem Weg dorthin stieß ich mir den nackten rechten Fuß heftig am Holzbein meines Bettes, das wie eine Bärentatze gearbeitet war. Ein starker Schmerz ließ mich auf dem Boden zusammenkauern.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort lag, aber als ich aufstand, war keine Träne mehr in mir. Nur humpelnd konnte ich den Weg ins Bad meistern, das direkt von meinem Zimmer aus zu betreten war. Wahrscheinlich hatte ich mir den rechten, kleinen Zeh verknackst oder schlimmer, dachte ich, aber das war mir egal. Alles war unwichtig geworden, so schien es jedenfalls. Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch lange mein glühendes Gesicht mit eiskaltem Wasser. Als ich wieder herunter kam, saß die Beamtin immer noch auf der Couch und wartete geduldig auf mich. Ich nahm neben ihr Platz, um zu hören, was sie mir noch zu sagen hatte. Während sie weiter von den tragischen Ereignissen berichtete, hielt sie tröstend meine Hände in den ihrigen.

Meine Eltern waren im Begriff gewesen, ein neues Shopping-Center einzuweihen. »In dem Moment, in dem Ihr Vater seine Rede beendet hatte und das Podium verließ, um dem Bürgermeister das Wort zu übergeben, passierte es. In dem Augenblick, als das Publikum heftig applaudierte, fielen mehrere Schüsse,« sagte die Beamtin, der ich anmerkte, wie sehr auch sie sich um Haltung bemühte. Es war unfassbar, dachte ich verzweifelt. Ich schaute die Polizistin an und fragte sie: »Sind noch mehr Menschen zu Schaden gekommen?« Sie räusperte sich und fuhr fort, mich über alles aufzuklären. »Ihre Eltern und ein junges Mädchen, das nur dort stand, um an umstehende Passanten gefüllte Sektgläser zu verteilen, sind tödlich getroffen worden. Der Bürgermeister wurde nicht verletzt, dafür aber zwei Männer des Sicherheitsdienstes.«

Es verging einige Zeit, bis ich das volle Ausmaß des Verbrechens begriffen hatte.

Der Mörder konnte unmittelbar nach der Tat festgenommen werden. Ohne sich zu wehren, ließ er es zu, dass ihm die Sicherheitsleute Handschellen anlegten. Über das Motiv für die Bluttat schwieg er sich aus. Die Polizei hielt ihn für einen geistesgestörten Amokläufer, der rein zufällig in das Geschehen geraten war.

Meine Großmutter holte mich noch am gleichen Abend von Zuhause ab. Gemeinsam fuhren wir nach Sankt Moritz, um einige Tage in unserem Ferienhaus zu verbringen. Wir wollten den Ort des Schreckens so schnell wie möglich verlassen.

Der Tod meiner Eltern hatte sie stark mitgenommen. Im Gegensatz zu früher sah man ihr nun die schwache Gesundheit an. Das machte mir Angst, denn ich wusste ja jetzt zu genau, wie grausam einem Menschen entrissen werden können. Einfach so.

Eine Woche später ging ich wieder ins Internat zurück, das ganz in der Nähe lag. Alle meinten, es sei so am besten. Die Schule würde mich auf andere Gedanken bringen. Es fiel mir schwer, die lachenden Mitschüler um mich herum zu ertragen. Viele schauten mich mit betretenen Mienen an, ohne mich anzusprechen. Sie brauchten wohl auch Zeit, um zu lernen, mit der Situation umzugehen.

Ich nahm mir vor, meine Großmutter zu überreden, mich wieder in Zürich aufzunehmen. Eines Abends rief ich sie an, um sie danach zu fragen. Sie riet mir jedoch dringend ab und sagte: «Greta, ich freue mich sehr über deinen Entschluss, bei mir leben zu wollen. Allerdings müsstest du hier eine neue Schule besuchen. Das halte ich so kurz vor dem Abitur für keine gute Idee. Halte doch noch die sechs Monate durch, du machst dir damit das Leben erheblich leichter.« Diese Entscheidung zu treffen, fiel meiner Großmutter hörbar schwer. Im Gegenzug schwor sie mir dann einen Moment später, nichts und niemand könnte sie daran hindern, mich persönlich aus dem Unterengadin abzuholen, wenn der Tag der bestandenen Prüfung gekommen wäre.