978-3-401-80169-8.tif

Titel

Kristy Spencer und Tabita Lee Spencer

Dark Angels’ Fall

Die Versuchung

Arenaneu.tif

Widmung

Für Mum und Dad

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
unter Verwendung von Fotos von
© mauritius images/Trigger, emay 20216;
© mauritius images/Trigger, jjon 16189; ilolab und bloom © shutterstock
ISBN 978-3-401-80169-8

www.arena-verlag.de
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Prolog

Der Regen prasselt gleichmäßig und monoton auf den Ford Ranger herunter. Im Radio läuft Hank Thompsons »Six Pack to go«, der Pick-up schnurrt die gerade Straße entlang. Scheiß Wetter, denkt Ferris und tippt im Takt der Musik mit den Fingern auf das Lenkrad. Alles Scheiße, nicht nur das Wetter. Aber es gibt für alles eine gute Erklärung, vermutlich auch für Mileys Verschwinden. Wahrscheinlich ist er bei Dawna.

Die Scheibenwischer rasen über die Frontscheibe und befördern riesige Wassermengen nach links und rechts. Er ist nicht bei Dawna, er ist nicht auf Whistling Wing, das habe ich im Gefühl, denkt sie wieder, ich brauche dort gar nicht aufzutauchen. »Sixpack to go« verklingt und die ersten Klänge von »This ain‘t my first rodeo« erfüllen das Auto.

Es ist nur wegen Whistling Wing, flüstert es in ihr. Ich grusle mich vor Whistling Wing. Das ist alles. Die Bilder von damals sind so schnell in ihrem Kopf, dass es schmerzt. Mrs Spencer, die am Boden liegt. Der komische Vogel mit dem kahlen Gesicht über ihr. Als wäre er der Tod, der über dem Leben kauert. Im nächsten Moment taucht im strömenden Regen die Abzweigung nach Whistling Wing auf und sie biegt, ohne zu blinken, ab.

Die Scheibenwischer kämpfen gegen die Wassermassen an. Später weiß sie nicht mehr, was ihr zuerst aufgefallen ist. Dass das Radio zu spinnen anfängt und rauscht und knackt oder dass ein seltsames Wummern durch die Countrymusic und das Prasseln des Regens dringt. Wie ein Hornissenschwarm taucht eine Gruppe von Motorradfahrern hinter ihr auf, hängt sich an sie, als würde sie sie verfolgen. Viel zu nahe, bedrohlich, eine schwarze Horde von Fremden. »Überholt doch«, murmelt sie an sich selbst gerichtet und geht ein wenig vom Gas. Das Knistern und Kreischen im Radio pfeift in ihren Ohren. Sie schlägt mit der rechten Hand auf das Gerät, aber davon wird es nicht besser. Die Motorradfahrer überholen nicht, das Grollen der schweren Dukes hängt sich im Auto fest wie in einem Spinnennetz und erfüllt ihren Kopf mit einem dumpfen Sog. Ich werde krank, denkt sie und geht noch mehr vom Gas.

Plötzlich überholen die Motorradfahrer doch. Es geht alles blitzschnell, die Motorräder grollen vorbei, sind vor ihr, stellen sich schräg. Im letzten Moment macht Ferris eine Vollbremsung, der Sicherheitsgurt schneidet ein, das Radio verstummt.

Was soll das, Leute. Seid ihr verrückt, will sie schreien, aber ihr Gehirn scheint zu stottern anzufangen. Keine Sekunde später springt einer der Motorradfahrer auf die Kühlerhaube des Pick-ups. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie auf den seltsamen Mann. Das Blech der Kühlerhaube verbiegt sich, quietscht, mit einem Ruck reißt er den Helm vom Kopf. Seine weißblonden Haare sehen wirr aus, seine laserblauen Augen fokussieren sie. Die einzige Emotion, die er ausstrahlt, ist tiefster Hass. Schwarzer dunkler Hass, der alles zerschmilzt, was sich in seinen Weg stellt.

Geh weg, kann sie noch denken, dann setzen ihre Gedanken aus, das Gefühl von Hilflosigkeit und Angst drückt ihr den Hals zu.

»Du hast etwas, was wir brauchen«, sagt er so klar in ihrem Kopf, als würde er neben ihr sitzen. Die nächsten Worte spricht er so langsam, dass sich jeder Laut wie ein Messerstich in ihre Gedanken bohrt. »Du wirst es uns geben.«

Sie weicht seinem Blick aus, kann es nicht mehr ertragen, die eisigen Augen auf sich gerichtet zu wissen. Der Motorradfahrer scheint eine irrsinnige Hitze auszustrahlen, die Kühlerhaube beginnt zu dampfen, das Wasser darauf verdunstet in rasender Geschwindigkeit.

»Wenn du es nicht UNS gibst«, flüstert es bedrohlich in ihrem Kopf und allein die Stimme scheint alle Muskeln in ihr zu lähmen, »…sondern ihnen«

Die Motorhaube kreischt metallisch auf.

»Bist. Du. Tot.«

Im nächsten Moment springt der Mann mit einer Lässigkeit vom Auto, die nicht an einen Menschen erinnert.

»Sondern ihnen«, wispert es in ihrem Kopf. »Sondern ihnen.«

Als wäre alles nur ein schlechter Traum gewesen, verschwinden die Motorradfahrer im strömenden Regen, das Wummern entfernt sich, verklingt in der Ferne. Sie starrt die Motorhaube an, der dunkle Sog in ihrem Kopf entweicht. Das Gefühl, einer Katastrophe entgangen zu sein, macht sie zittrig. Das Radio setzt wieder ein, Bobby Bare singt »Detroit City«. Und schon bedeckt wieder der Regen die trockene Kühlerhaube und die Spur, die man dort sehen konnte, verschwindet in der Nässe.

Zwei Krallenabdrücke eines riesigen Vogels.

1 Indie

»Hast du das Auge zur Hand?«, fragt Dawna neben mir.

Während unser Pick-up noch die letzten Meter rollt, lasse ich den Motor ausgehen und sofort bildet der Regen kleine Bäche auf der Windschutzscheibe, die sich schnell zu einem riesigen Netz von Flüssen verbinden. Wir sehen das heruntergekommene Haus nicht mehr, vor dem wir stehen. Das Prasseln auf dem Autodach ist so laut, dass ich mich frage, ob ich mir das leise Seufzen von Dawna nur eingebildet habe.

»Du glaubst den Kack doch wohl nicht, den uns Ferris eben erzählt hat?«, frage ich, sehe sie dabei aber nicht an. »Mileys Mum hat keinen bösen Blick, für den man irgendwelche Schutzaugen bräuchte.«

Das war ein schlechter Witz, will ich gerne sagen, das hat Ferris nur gesagt, weil sie nicht selbst mit Kalo über Miley reden wollte. Aber plötzlich kann ich das nicht mehr. Ferris hat eben nicht ausgesehen, als würde sie Witze machen. Sie hat ausgesehen wie jemand, der über dem Abgrund baumelt und sich mit letzter Kraft gerettet hat. Genau die Ferris, die sonst in der Tanke mit den Jungs ihren Mann steht und immer selbstbewusst und gelassen wirkt.

Trotzdem nehme ich das kleine Porzellanauge, das sie mir vor zehn Minuten mit schwitzigen Händen in die Hand gedrückt hat, aus meiner Hosentasche und lasse es zwischen Dawna und mir hin- und herschwingen. Seltsamerweise erfüllt mich der Anblick mit Unbehagen. Vielleicht weil ich Dawnas Herzschlag spüre, als wäre es meiner. Weil ich ganz entfernt ihre Gedanken wahrnehmen kann, obwohl unsere 33 Tage vorbei sind. Diese verfluchten Tage, in denen wir gleich alt sind und unsere Gedanken verschmelzen wie Butter und Honig in einer heißen Pfanne. Aber diese Zeit ist vorbei. Sie ist seit Mitternacht vorbei, es sollte kein Geknister mehr geben, kein Gedankenlesen. Kein fremder Herzschlag in meinem Ohr. Doch er ist da, leise, aber bestimmt.

Ferris hat doch einen an der Waffel, wie alle aus Mileys Clique, möchte ich am liebsten sagen, aber was ich sage ist: »Über Kalo hört man ja viel. Von A wie Alkoholiker bis Z wie Zigeuner ist alles dabei. Aber das mit dem bösen Blick ist doch Quatsch. Außerdem könnten wir an deinem Geburtstag langsam was anderes machen als in dieser versifften Gegend abhängen.«

Dawna wirft mir einen grimmigen Blick zu.

»Zum Beispiel zurück zu deiner tiefgefrorenen Torte fahren«, setze ich noch eins drauf, was zugegebenerweise ein blöder Vorschlag ist. Denn zu Hause sitzt Mum, die sich wegen Shantani die Augen ausheult, zusammen mit ihren Engelstanten. Die heulen sich zwar nicht die Augen nach ihrem tollen Guru aus, aber Whistling Wing verlassen sie leider auch nicht. Schließlich müssen sie erst einmal ausprobieren, ob ihr Engelsseminar mit dem ganzen Channel-Kack nicht doch besser klappt, wenn ihre weibliche Energie nicht durch das fiese Testosteron von Shantani ausgebremst wird.

»Ich kann Miley nicht hängen lassen. Er ist nur weg« Dawnas Stimme bricht.

»Er ist nicht wegen dir weg«, vervollständige ich ihren Satz, runzle die Stirn, um nicht auch loszuheulen. »Nur weil er nicht bei Ferris aufgetaucht ist, heißt das noch lange nicht«

»Er ist verschwunden«, sagt sie tonlos. »Ich muss ihn finden. Und ich werde ihn finden.«

Retten, denke ich. Sie will ihn retten. Ich blicke durch das Fenster auf der Fahrerseite nach draußen, um sie nicht ansehen zu müssen. Die Trauer brennt hinter meinen Augenlidern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Miley tot ist. Im Grunde war er echt ein feiner Kerl, auch wenn er mich immer blöd angequatscht hat. Aber die Suche nach ihm können wir uns sparen. Das, was gestern Nacht passiert ist, ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was passieren könnte. Allein die Idee, hierherzufahren und Mileys Mum nach Miley zu fragen, war schon eine beschissene Idee. Völlige Zeitvergeudung.

»Sam hat das nur zu dir gesagt, damit wir das Engelstor nicht schließen«, erkläre ich ihr zum wiederholten Mal wie einem kleinen Kind, das die Details eines Gesprächs nicht kapiert. Sam, Handlanger des Bösen, Boss der dunklen Engel. Er hätte Miley so oder so abgemurkst. Hundertpro. Wir hätten ihn auch nicht retten können, wenn wir unsere Pflicht als Hüterinnen des Engelstores vernachlässigt hätten: das Engelstor nicht geschlossen, und dem Fürst der Schattenwelt damit Zugang zu unserer Welt gewährt hätten. Miley war zu dem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich schon längst tot.

Weil ich ihn verraten habe.

Der Gedanke ist kaum auszuhalten, der Gedanke an mein eigenes blödes Verhalten nur durch mich hat Sam Mileys Namen erfahren. Wie Asche schmecke ich das Gefühl von Versagen auf meiner Zunge und ich weiß, ich sollte es ihr sagen. Dass ich es war, die gestern Sam Rosell in seinem Laden erzählt hat, in wen sie verliebt ist. Dass das der wahre Grund dafür ist, dass sie ihren Liebsten nie mehr wiedersehen wird. Ich starre auf das Lenkrad des Pick-ups. Was bin ich nur für eine feige Ratte. Aber ich kann Dawna einfach nicht die Wahrheit sagen. Stattdessen muss ich meine Schwester bei ihrer verzweifelten und völlig sinnlosen Suche nach Miley unterstützen. Was für eine Scheiße!

An Gabe zu denken, habe ich mir bis jetzt verboten. Sobald ich nur in die Nähe dieses Gedankens komme, schmerzt meine Schulter und hinter meinen Lidern brennt es salzig. Dann sind die Erinnerungen da, so lebendig, als wären sie Gegenwart: vor mir Gabe, hinter ihm der stahlgraue Rüssel des Tornados, der sich auf uns zubewegt, düster und bedrohlich. Mein geliebter Gabe. In dessen Armen ich liegen will, dessen Wärme ich spüren will. Und sofort ist auch wieder dieses Gefühl da. Als mir endlich klar wird, was Gabe eigentlich ist. Es hätte mir schon längst klar sein müssen, allein wegen der eintätowierten Feder auf seinem Arm.

Er ist ein böser Engel, flüstert es in meinem Kopf. Ein Verführer. Seine Aufgabe ist es, mich von meiner Mission abzubringen. Er ist ein blödes Arschloch, das ist er. Das war er, verbessere ich mich und mein Herz stolpert bei diesem Satz.

Und es war richtig, hallt es in meinem Kopf. Plötzlich pocht wieder der Schmerz in meiner linken Schulter. Die Stelle, an die der Kolben der Pumpgun gedrückt hat. Gabe ist das Böse. Er musste genauso sterben wie die 25 bösen Engel vor ihm. Gestern. An dem Tag, an dem wir das Engelstor geschlossen und Sam, den Anführer der dunklen Engel, gebannt haben. Auf dem Friedhof, am Grab unserer Ahnen. Natürlich war es richtig, auf Gabe zu schießen, ihn zu töten. Auch wenn sich mein Herz jetzt wie tot anfühlt. Wie ein Eisklumpen in der Brust.

Ist Gabe tot? Ich erinnere mich nur noch an den Schuss. Die wirbelnden schwarzen Federn. Den grauen Rüssel des Tornados, der immer näher kam. Aber nirgendwo sein Leichnam. Ich wünsche mir, dass er tot ist, sage ich mir, er hat mich verraten und benutzt. Besser für ihn, er wäre tot.

Dawna öffnet die Beifahrertür und steigt aus dem Wagen, ich schüttle meine Gedanken an das Gestern ab. Der Wind peitscht kalt und nass den Regen gegen uns und der abrupte Wetterumschwung erinnert mich noch mehr daran, dass nichts mehr so ist wie früher. Dawna geht auf das niedrige Haus zu. Es macht einen schmuddeligen Eindruck. Würde mich nicht wundern, wenn sich da allerhand Ungeziefer wohlfühlen würde.

»Wenn sie tatsächlich den bösen Blick hat, fragen wir sie nicht nach Miley«, sage ich und beeile mich, ihr zu folgen. »Ich zerr dich ins Auto und geb Vollgas.«

Dawna stößt einen genervten Seufzer aus.

»Ehrlich. Versprochen. Ich dreh den Zündschlüssel um und nichts wie weg. Und wenn ich den blöden Briefkasten auf die Kühlerhaube nehme.«

Der Briefkasten sieht eh beknackt aus. Wer streicht so was schon rosa an?

Dawna klingelt. Jedenfalls drückt sie den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses hört man nichts. Ich betrachte meine Schwester von hinten. Ihre schmalen Schultern, den kerzengeraden Rücken, zu allem bereit. Wie eine Welle wirft sich plötzlich die Trauer gegen mich. Ich schiebe mich an ihr vorbei, wieder ganz die coole Indie, und lege die Hand auf den Türknauf.

»Indie«, sagt Dawna erschrocken. »Nicht!«

»Hey. Die Klingel funktioniert nicht. Also gehen wir eben hinein.«

Kaum habe ich das Haus betreten, ist mir furchtbar schlecht. Die Luft riecht abgestanden und überall stehen Schälchen mit Katzenfutter herum. In irgendeinem Zimmer läuft in einer Wahnsinnslautstärke der Fernseher. Obwohl ich am liebsten wieder umkehren würde, folge ich dem Geräusch. Dawna ist dicht hinter mir.

Das Zimmer ist völlig überheizt. Es ist so warm, dass mir sofort der Schweiß ausbricht. Auch hier hängt dieser merkwürdige Geruch nach abgestandener Luft, vermischt mit Katzengeruch oder was immer das ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Raum so scheußlich eingerichtet ist. Es ist rappelvoll mit unzähligen Möbeln. Dazu Plastikblumen in grässlichen Vasen, Rüschenvorhänge und Deckchen. Ein einziger gerüschter Albtraum. Außerdem sollte hier mal gelüftet werden. In meinem Magen setzt sich eine fiese Übelkeit fest.

Der Fernseher ist laut aufgedreht, direkt davor steht ein altes Sofa mit der Rückenlehne zur Tür. Darauf sitzt bewegungslos eine ziemlich dicke Frau, die uns offenbar noch nicht gehört hat. Kein Wunder bei dem Lärm.

Dawna macht eine Miene, als würde sie jetzt am liebsten auch wieder kehrtmachen.

»Und?«, fragt die Frau auf dem Sofa plötzlich mit heiserer Stimme, ohne sich umzudrehen.

»Ihre Klingel«, sagt Dawna etwas atemlos und starrt auf den dunklen Dutt der Frau, in dem irgendetwas steckt. Vielleicht ein Bleistift?

Statt zu antworten, greift die Frau zur Fernbedienung und wechselt das Programm.

»Können Sie uns sagen, wo Miley ist?«

Dawna versucht, das Werbeprogramm, das gerade läuft, zu übertönen. Eine halbe Ewigkeit lang sagt die Frau gar nichts und ich mache Dawna schon ein Zeichen, so schnell wie möglich abzuhauen. Das bringt doch alles nichts. Aber dann wiederholt sie »Miley« und hustet. Ein grässliches Geräusch.

Mehr sagt Mileys Mutter nicht.

»Von dem bösen Blick kriegt man ja gar nix mit«, flüstere ich Dawna zu und fische das kleine blaue Auge aus meiner Hosentasche. »Uaaaah. Wie gruselig.«

Mein grässliches Miley-Gefühl ist plötzlich weg, nur die Übelkeit bohrt weiter in meinem Magen.

Ich lasse das Auge ein wenig an dem Band kreisen, dann winke ich damit in Richtung Fernseher. Dabei verdrehe ich die Augen und greife mir gespielt an die Kehle, als würde ich keine Luft kriegen.

»Lass das!« Dawna packt meinen rechten Arm. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, das Auge noch mal an dem Band auf und ab wippen zu lassen. In diesem Moment verstummt der Fernseher, als hätte es einen Stromausfall gegeben. Ich ziehe leicht den Kopf ein und lasse das Auge schleunigst in der Hosentasche verschwinden. Ein paar Sekunden verstreichen, dann dreht sich Mileys Mutter zu uns um. Das mit dem bösen Blick kommt mir plötzlich nicht mehr so abwegig vor. Und seltsamerweise richten sich ihre Augen nur auf mich, als wüsste sie, was ich in ihrem Rücken getrieben habe. Sie sieht eigenartig aus. Das dunkle Haar straff zurückgekämmt. Die großen und tief liegenden Augen werden durch die dunklen Schatten darunter noch betont. Sie hat einen riesigen Mund mit schmalen Lippen, die tiefrot geschminkt sind.

»Lass das sein«, ihre Augen verengen sich. Sie wendet sich noch etwas mehr um und sieht Dawna genauso böse an. »Miley ist nicht da.«

Dann konzentriert sie sich wieder auf den Fernseher, bückt sich nach einem Pantoffel und wirft ihn gegen den Apparat. Ein Knacken, das Bild flammt wieder auf und die Stimmen zweier Männer gellen durch den Raum.

Puh. Noch mal gut gegangen.

»Und wo ist er?«, fragt Dawna.

Tapferes Mädchen.

Mileys Mutter antwortet nicht, sondern zappt durch die Programme.

»Seit wann ist er denn nicht mehr da? Hat er gesagt, wohin er wollte? Ist er mit dem Motorrad weg?«

Dawnas Fragen prallen an Kalos Hinterkopf ab.

»Er hat den Chevy genommen.«

Dawna wirft mir einen schnellen Blick zu. Ich wusste gar nicht, dass Miley ein Auto hat. Ich habe ihn immer nur mit dem Motorrad gesehen.

»Was hatte er denn vor? Wollte er jemanden besuchen?«

Meine Hand tastet wieder nach dem Auge in meiner Jeanstasche. Was soll Miley denn vorgehabt haben? Zu Beebee, dem Miststück? Nach Fillis, um Mädels aufzureißen? Eines so abwegig wie das andere.

Dawna wirft mir einen drohenden Blick zu.

»Ich sag ja nix«, murmle ich und sehe auf den Fernseher.

»Machen Sie sich denn keine Sorgen?«, fragt Dawna und stemmt die Fäuste in die Hüften.

Plötzlich hört die Frau auf zu zappen. Und ich habe den Eindruck, dass sie uns nun mit allen Sinnen wahrnimmt.

»Er wollte unseren Klan suchen.«

»Den Klan?«, wiederholt Dawna ungläubig.

»Das wollte er schon immer. Er wollte einfach nie kapieren, dass es keinen Sinn macht. Dass wir ihn verlassen mussten.«

»Ihn verlassen?« Diesmal bin ich es, die fragt.

»Er darf nicht zurück zum Klan.« Mileys Mutter sitzt noch immer mit dem Rücken zu uns da. »Es ist zu gefährlich.« Der Fernseher lärmt weiter. »Es ist schon zu viel passiert.«

2 Dawna

Ich habe das Gefühl, mein ganzer Körper klebt vor Schweiß. Ich bin für dieses Zimmer viel zu warm angezogen. In einer Ecke steht ein Heizlüfter, der unentwegt heiße Luft in den Raum pustet. Heiße Luft, die nach Rauch, Alkohol und nassem Fell riecht. Kalo schweigt wieder und stellt den Fernseher noch ein bisschen lauter. Als ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse, sehe ich, dass überall Katzen liegen. Ineinander verknäuelte Bündel, die Augen geschlossen, eine liegt auf der Lehne von Kalos Sofa. Ein riesiger, gestromter Kater.

»Ist noch was«, sagt Kalo und hustet Schleim in ein kariertes Taschentuch.

Indie verzieht ihr Gesicht.

»Lass uns gehen«, flüstert sie, »das ist bestimmt ansteckend. Ferris hätte uns anstelle des Anhängers besser einen Mundschutz mitgeben sollen.«

»Wo ist der Klan?«, mache ich noch einen Versuch, doch Mileys Mutter beachtet mich nicht. Sie starrt auf den Fernseher, eine TV-Show, in der zwei unglaublich dicke Frauen miteinander streiten. Die schwarze Moderatorin versucht, die beiden zu trennen. Trotzdem gehen sie aufeinander los. Ich mache ein paar Schritte vor und sehe Kalo direkt an. Sie hat ihre Augen halb geschlossen und sieht einfach durch mich hindurch. Ich weiß nicht, ob es am Alkohol liegt, ob sie mittlerweile irgendeinen Trancezustand erreicht hat oder ob sie mich einfach mit Missachtung strafen will. Was auch immer, sie ignoriert mich völlig. Der Kater hebt den Kopf und faucht mich an. Anscheinend ist es Kalo gleichgültig, wo Miley abgeblieben ist. Ob er noch lebt oder ob ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist.

»Wo ist der Stamm?«, wiederhole ich. Vielleicht ist er ja wirklich dort. Nein, ist er nicht, flüstert es in mir. Sam hat ihn. Sam hat ihn irgendwohin gebracht und niemand, wirklich niemand weiß, wo dieser Ort ist. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und ich würde Kalo gerne schütteln, damit sie mir hilft. Miley ist doch ihr Sohn.

»Was wissen Sie von Sam Rosell«, sage ich laut.

Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich Sams Namen ausspreche, und Kalos Augen verengen sich zu Schlitzen. Wieder flimmert der Fernseher so stark, dass das Bild kurzzeitig verschwindet, es flackert und schwarzes Schneegestöber huscht über den Bildschirm und mir ist mit einem mal klar, dass Ferris mich nicht angelogen hat. Das mal de ojo.

»Ich fahr da nicht hin«, hat Ferris gesagt, als sie vorhin bei uns auf Whistling Wing war. Sie dachte, Miley ist bei mir. Sie kam extra zu uns rausgefahren, um ihn zu suchen. »Mileys Mutter hat das mal de ojo«, hat sie gesagt, bevor sie zurück nach New Corbie fuhr, »die kann dich damit umbringen.«

»Nawal«, brüllt Kalo plötzlich so laut, dass Indie und ich erschrocken zusammenzucken, »Nawal, bring sie zur Tür.«

Indie und ich sehen uns an und Indie tippt sich an die Stirn. Die spinnt ja, formen ihre Lippen. Wir treten gemeinsam den Rückzug an, lassen aber Kalo nicht aus den Augen. Vorsichtshalber.

»Ich glaub das nicht«, flüstere ich, »das mit dem Stamm.«

Ich würde es so gerne glauben. Meine Verzweiflung nimmt mir kurzzeitig den Atem. Ich denke an Sam und daran, dass Indie glaubt, Sam hat Miley getötet. Sie glaubt es. Das weiß ich, auch wenn sie ständig davon redet, dass Miley abgehauen ist, um irgendwo Mädels aufzureißen.

»Ist doch jetzt egal«, sagt Indie, »ich will nur noch raus hier.«

Wir tasten uns durch den dämmrigen Flur. An den Wänden sind Heiligenbilder. Die Muttergottes mit flammendem Herzen. Unsäglicher Kitsch. Ich habe das Gefühl, kaum mehr atmen zu können.

Hinter uns fängt der Fernseher wieder zu dröhnen an. Die zwei Frauen streiten lautstark.

»Ich bringe sie um«, kreischt die eine, »ich skalpiere dich, du Schlampe!«

Wir treten auf Schuhe und Klamotten, die einfach so auf dem Boden liegen. Hier hat seit Wochen niemand mehr aufgeräumt. Auch Mileys Schuhe liegen herum, als wäre er eben nach Hause gekommen, hätte sie einfach hier ausgezogen und wäre in die Küche gegangen, um sich ein Bier zu holen. Ich erkenne seine Lederjacke, hebe sie auf und verscheuche dabei eine Katze, die sich darauf zusammengerollt hat.

»Du kannst nicht einfach die Jacke klauen«, sagt Indie streng.

Ich ziehe mir die Jacke über meine restlichen Klamotten, obwohl mir schon ohne Jacke viel zu heiß ist. Das weiche Leder fühlt sich irgendwie tröstlich an.

»Lass uns abhauen«, sage ich.

Diesmal fahre ich. Ich halte mich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und setze den Blinker, wenn ich abbiege. Ich habe keine Lust zu sterben, bloß weil Indie ihren Ärger an unserem Pick-up auslässt. Genau genommen könnte ich das auch. Ich könnte das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrücken und den Pick-up über die verschlammten Pisten schießen lassen. Vielleicht macht es keinen Sinn, immer vernünftig zu sein. Ich schalte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe und sehe Indie von der Seite an. Sie kaut auf ihren Nägeln herum und macht ein finsteres Gesicht. Ich kann ihre Gedanken nicht sehen. Nur schwarze Federn.

Kurz vor der Tanke überholt uns eine Gruppe Motorradfahrer. Sie sind so schnell da, dass ich sie im Rückspiegel nicht wahrnehme, sie überholen uns und Indie zeigt ihnen den Mittelfinger.

»Verpisst euch«, schreit sie.

Ihre Rücklichter verschwinden im Regen.

»Und?«, Ferris winkt uns nach hinten in die Werkstatt. »Wie war es mit Kalo?«

»Sie weiß nichts«, sage ich und sehe mich in der Werkstatt um.

An den Wänden hängen alte, verblichene Poster von nackten Frauen. Die hat wahrscheinlich Morti hier vor Jahren aufgehängt. Ein Kalender ist aus dem Jahr 1986.

Ferris wischt sich die ölverschmierten Hände an ihrer Jeans ab und zieht sich das blau gemusterte Tuch vom Haar. Sie sieht aus, als hätte sie auf uns gewartet, jedenfalls war sie blitzschnell an der Tür, kaum dass wir den Pick-up abgestellt hatten. Und kaum waren wir in der Werkstatt, drehte sie den Schlüssel im Schloss.

»Sicher ist sicher«, sagte sie und wich meinem Blick aus.

Indie setzt sich auf die Motorhaube eines pinkfarbenen Nissan Navara, den Ferris gerade auseinandernimmt. Ich bleibe stehen, weil ich so rastlos bin. Ich will wissen, wo Miley ist, weiß aber nicht, wo ich suchen soll. Schnell! Nur schnell! Sonst kann es zu spät sein, dröhnt es in meinem Kopf.

»Sei vorsichtig«, sagt Ferris, »das ist Sidneys Wagen.«

Wir sehen sie fragend an.

»Sidney ist Beebees Mum«, erklärt Ferris, »sie hat einen Knall, was das Auto betrifft. Das Auto ist ihr Baby. Sie hat jedes Mal Tränen in den Augen, wenn sie es in die Werkstatt bringt. Und sie bringt es wirklich oft. Nissan hat eine verdammt schlechte Pannenstatistik.«

Indie grinst und wippt ein bisschen auf und ab. Sie kann Beebee genauso wenig leiden wie ich. Der Navara quietscht unter ihrem Hintern.

»Ich meine es ernst«, endlich erscheint ein kleines Lächeln auf Ferris’ Gesicht.

»Kalo sagt, Miley wollte den Klan suchen«, wechsle ich unvermittelt das Thema, »weißt du etwas davon?«

»Den Klan«, Ferris nickt, »Miley hat manchmal davon gesprochen. Dass er abhauen will, um seinen Vater zu suchen. Immer wenn er es zu Hause nicht mehr aushielt. Aber er hat es nie getan. Er hat den Stamm nie gesucht. Irgendwann hab ich gesagt, den Stamm gibt es doch gar nicht. Da ist er richtig wütend geworden.«

»Ich glaube, Kalo hat das alles erfunden«, sagt sie, »diesen ganzen Quatsch, dass sie den Klan verlassen mussten, weil etwas Schreckliches passieren würde. Die sind doch einfach ohne sie weitergezogen und nie wiedergekommen.«

»Habt ihr oft darüber gesprochen«, ich spüre einen Stich von Eifersucht.

Miley hat nie mit mir über den Klan geredet. Warum nicht? Vertraute er mir nicht? Ich muss an die Stunden denken, die wir zusammen verbracht hatten. Diese wenigen Stunden, in denen wir uns nahe waren. Zumindest dachte ich das. Ich sehe Miley auf meinem Bett liegen. Ich lehnte daneben, die Beine untergeschlagen. Wir reichten den Joint hin und her. Seine Lippen und meine Lippen. Besser als küssen, dachte ich, nein, nicht besser, nur anders. Küssen ohne den letzten Schritt. Manchmal berührten sich unsere Finger flüchtig, und dann haben wir uns angesehen, bis das Ziehen in meinem Herzen unerträglich wurde und ich ihn wirklich küssen wollte. Wirklich. Warum habe ich es nicht getan? Warum war ich zu feige dazu. Oder zu stolz. Warum habe ich mich nicht einfach nach vorne gebeugt und mich links und rechts neben seinem Gesicht abgestützt, seinen Geruch in der Nase, ganz nah an seinem Mund. Und ihn dann geküsst.

Dawna!

Ich zucke zusammen, Indie sieht mich böse an.

Spar dir deine versauten Gedanken. Scheiße. Zumindest wenn ich dabei bin. Das ist ja widerlich.

Ferris blickt zwischen uns hin und her.

»Nicht oft«, sagt sie dann, »aber immer zu der Zeit. Im Herbst. Nach den Tornados. Er sagte, das war die Zeit, zu der sie gehen mussten.«

»Daran kann Miley sich doch gar nicht mehr erinnern«, sagt Indie, »er muss ein Baby gewesen sein. Miley ist doch schon immer hier.«

»Das stimmt nicht«, sagt Ferris, »er war klein, als sie hierherkamen. Aber kein Baby mehr. Er hat erzählt, er weiß noch, wie sie weiterzogen. Die Wagen. Sie lagerten unten am Fluss. Es regnete und der Boden war aufgeweicht, die Autos konnten die Wohnwagen kaum aus dem Morast ziehen. Er stand da und sah zu, wie sie davonfuhren. Kalo sagte, sie wüsste, was zu tun sei. Sie bräuchte den Rat des Ältesten nicht. Sie könne die Zukunft sehen. Und die Zukunft sei schwarz.«

»Schwarz«, sagt Indie und verdreht die Augen, »na ja, so kann man das auch ausdrücken. Die haben sie bestimmt hiergelassen, weil Mileys Mutter zu viel gesoffen hat. Das kann ja kein Mensch aushalten.«

Ferris sagt nichts, aber ich sehe an ihrem Gesicht, dass sie Indies Meinung ist. Ich schließe kurz die Augen und sehe, was Miley sieht, die Vision ist so klar, dass sie sich in meinen Kopf schneidet. Ich sehe schwarze Erde, ein Stück Mauer, Wasser tropft auf den Boden.

»Du lebst«, flüstere ich, »ich weiß es.«

»Mann, diese Kalo«, sagt Indie und das Bild in meinem Kopf zerfließt, »die spinnt ja. Miley kann einem ganz schön leidtun. Bei so einer Mutter würde ich es auch nicht aushalten. Ich glaube, er ist abgehauen. Der hat es in diesem versifften Loch einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Das glaube ich nicht«, sage ich leise.

Von draußen ertönt das Geknatter eines Motorrades und ich hoffe einen Moment, es ist Miley.

Ferris Körper versteift sich, doch dann klopft es ungehalten an der Tür und wir hören Rudys Stimme. »Was soll das, Ferris«, schreit er, »hast du Angst, dass dich jemand klaut?«

Ferris läuft zur Tür, dreht den Schlüssel im Schloss und Rudy streckt seinen Kopf herein. Er hat noch seinen Motocrosshelm auf und ist von oben bis unten nass und mit Dreck bespritzt.

»Hat irgendjemand das Arschloch Miley gesehen?« Er nimmt den Helm ab. »Wir wollten uns in der Kiesgrube zum Biken treffen und er ist nicht gekommen. Ich wollte schon mal eine Runde fahren und hab die Maschine in eine Wasserlache gesetzt. Ich hätte beinahe dort übernachten müssen. Und Miley? Ist nicht auf seinem Handy zu erreichen. Nichts.«

Indie seufzt und springt von der Motorhaube.

»Rudy«, sagt sie, »sollen wir ein bisschen mit dir weinen?«

»Nein«, gibt Rudy zurück, »aber trösten könntest du mich, Indie. Mir würde da schon was einfallen.«

»Geh zu Beebee, wenn du Trost willst.«

»Ich steh aber auf dich, Indie, vor allem, wenn du nicht so grässliche Klamotten anhast wie gestern. Du hast das Zeug hoffentlich verbrannt.«

»Das war mein Sonntagsoutfit«, Indie stemmt ihre Hände in die Hüften, »das trag ich nur zu besonderen Anlässen. Zum Beispiel, wenn ich dich kotzen sehen will.«

»Jetzt hört doch mal mit dem Kinderkram auf«, sagt Ferris ungeduldig und dann an Rudy gewandt: »Wir suchen ihn auch, Miley wollte heute Morgen hierherkommen. Er hatte mir versprochen, bei Sidneys Wagen zu helfen. Sie hasst es zu warten. Eigentlich wollte sie ihn heute Mittag abholen. Als ich ihr am Telefon gesagt habe, dass es länger dauert, ist sie ausgeflippt.«

»Zigeuner«, sagt Rudy, »auf die kann man sich nicht verlassen. Meine Rede. Denen kannst du einfach nicht trauen.«

»Was für eine Scheiße«, sagt Indie, »weißt du eigentlich, was du den ganzen Tag für eine Scheiße redest?«

Rudy zuckt mit den Schultern und schält sich aus seiner Ledermontur. Da, wo er steht, haben sich braune, nasse Flecke auf dem kahlen Betonboden gebildet. Er kickt seine Motorradstiefel von den Füßen und öffnet die Schnalle seines Gürtels.

»Das weiß doch jeder«, sagt er, »dass Zigeuner plötzlich weg sind. Verschwunden. Folgen dem Pfad und so einen Quatsch. Das kenn ich doch. Mileys Gelaber. Damit wollte er sich doch bloß wichtig machen. Weiber aufreißen. Und jetzt ist er weg. Wie die anderen auch.«

»Aber Miley doch nicht«, wirft Ferris ein, »das hätte er uns gesagt. Oder, Dawna? Dir hätte er es gesagt.«

»Oder Beebee.« Ich schlucke mein ungutes Gefühl hinunter. Schließlich wollte Miley mit mir reden. Vor Sam Rosells Laden. Vielleicht hatte er geahnt, dass etwas aus dem Ruder lief und dass es auch ihn betreffen würde. Wir hatten ihn einfach da stehen lassen. Und Sam hat die Gelegenheit genutzt. Sam, der Meister. Wir hatten doch keine Ahnung, wer Sam wirklich war. Wir hätten Miley nicht vor ihm warnen können. Aber er hätte mit uns kommen können. Dann wäre das alles vielleicht gar nicht passiert. Dann wäre er jetzt nicht spurlos verschwunden.

»Mit Beebee redet doch keiner«, sagt Rudy und grinst, »da gehts doch um was anderes.«

Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten. Ich will gar nicht wissen, worum es bei Beebee geht, wer schon mal was mit ihr hatte. Und vor allem, was Miley mit ihr hatte.

Ferris nimmt einen trockenen Blaumann von einem Haken und reicht ihn Rudy.

»Kannst schon gucken, Indie«, sagt er, »ich weiß doch, dass du noch nie einen Mann ohne Hose gesehen hast.«

»Mir wird gleich schlecht, Rudy, sieh zu, dass du in den Blaumann kommst«, sagt Indie und dreht sich weg. Ihr rotes Haar knistert und ich versuche vergeblich, einen Blick von ihr aufzufangen. Stattdessen betrachtet sie eingehend die Poster an den Wänden.

Ich weiß gar nicht, wozu sie so ein Theater veranstaltet. So schlecht sieht Rudy gar nicht aus. Er ist groß und muskulös und trägt Boxershorts, was eindeutig für ihn spricht. Er schlüpft in den Blaumann und stellt sich hinter Indie.

»Willst du mal raten, welches mein Lieblingsposter ist«, sagt er und ich höre Indie scharf die Luft durch die Nase einziehen, »komm schon, Indie.«

»Das will ich gar nicht wissen«, sagt Indie, »nicht dass ich Komplexe krieg und die halbe Nacht deswegen nicht schlafen kann.«

»Was wollen wir also wegen Miley tun«, wendet sich Ferris an mich.

Ich spüre, wie mir schon wieder der Schweiß ausbricht und öffne mit einem Ruck Mileys Jacke. Ich habe das Gefühl, gleich umzukippen.

»Ich werde ihn finden«, ich versuche, so zu klingen wie immer, ruhig und gefasst. Aber es gelingt mir nicht. Ich höre mich an, als würde ich gleich zu heulen anfangen.

»Ich werde überall suchen.« Diesmal bekomme ich meine Stimme unter Kontrolle, »mach dir keine Sorgen, Ferris.«

In Sams Laden, auf dem Friedhof

»Ich mache mir aber Sorgen«, sagt Ferris, »vor allem seit ich Mileys Motorrad gesehen habe. Er hat den Schlüssel stecken lassen.«

Sie holt einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche und hält ihn mir hin. Einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Ich stütze mich auf die Kühlerhaube des Navara.

»Wo steht es denn?«, frage ich.

»Vor Sam Rosells Laden.«

Wieder hören wir das Geknatter von Motorrädern. Diesmal scheinen es noch mehr zu sein. Ferris wird blass und schlingt ihre Arme um den Körper. Es klingt, als würden sie genau durch die Tanke fahren. Wir sind still, bis die Motorengeräusche verklungen sind. Dann hören wir nur noch das Rauschen des Regens.

3 Indie

Nachdem Dawna direkt vor unserer Veranda gehalten hat, bleiben wir noch einen Augenblick im Wagen sitzen. Der Regen hört und hört nicht auf. Die ganze Fahrt über sind die unausgesprochenen Gedanken zwischen uns hin- und hergetrieben, immer wieder ist darin Lilli-This Camper aufgetaucht.

Ob der noch hinter Whistling Wing steht? Oder hat ihn jemand abgeholt?

Vergiss es, liegt es mir schon wieder auf der Zunge. Vergiss das mit der Suche nach Miley, wir bringen uns da nur in Schwierigkeiten. Stattdessen springe ich als Erste aus dem Pick-up und renne auf die Veranda. Das hat schon gereicht, um mich komplett zu durchnässen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Dawna nicht hinter mir ist, sondern in die Gegenrichtung geht.

»Hey«, brülle ich ihr nach. »Was machst du?«

Ich weiß, was sie vorhat. Sie will zu dem Camper. Mit einem Sprung bin ich von der Veranda und laufe ihr nach. »Hast du sie noch alle? Du kannst da nicht hin. Das ist« Ich stelle mich ihr in den Weg.

»Meinst du, wir haben es wirklich geschafft?«, unterbricht Dawna mich und sieht mir in die Augen.

Ich weiß sofort, was sie meint. Eigentlich sollten wir jetzt euphorisch sein. Wir haben das Engelstor geschlossen, wir haben das Böse gebannt. Aber es ist ein schaler Geschmack geblieben, ein unbefriedigendes Gefühl, dass es nicht vorbei sein kann.

»Du hast fünfmal geladen«, erklärt Dawna unvermittelt. »Fünfmal laden, das bedeutet 25 Schuss.«

Der Regen tropft mir in den Nacken, durchnässt meine Haare bis zur Kopfhaut, rinnt unter der Kleidung weiter. Dawna steht da, als würde es nicht regnen, als sei jetzt genau der richtige Moment, um uns über die Vögel zu unterhalten.

»Du hast jedes Mal getroffen.«

Die Augen nicht schließen. Ich darf jetzt die Augen nicht schließen, ich muss sie offen halten, um nicht wieder die Vögel vor mir zu sehen. Nicht diese starren Bewegungen zu sehen, dieses Gewisper in meinem Kopf zu hören. Der Gedanke an gestern macht mir Angst.

»Aber es waren 32.«

»32?«, frage ich. Das habe ich nicht mitbekommen. Ich war nur damit beschäftigt, mich so weit zu beruhigen, dass ich schießen konnte. Auf die Vögel zu schießen, die dunklen Engel, die nach ihrer Verwandlung den Schattenfürst Azrael durch das Engelstor in unsere Gegenwart geholt hätten. Ich habe getroffen, jedes Mal, und mich dabei immer ruhiger und stärker gefühlt. Es war, als wäre ich ein anderer Mensch gewesen. Ein Mensch, der schießen kann, der cool und abgebrüht ist und der eine Mission erfüllt.

Aber ich war nicht abgebrüht genug gewesen. Denn Nummer 26 war Gabe. Er hätte gar nicht an dieser Stelle stehen dürfen. Er hat sich aus dem Kreis der verwandelten Vögel gelöst und sich vor mich gestellt. Weil er wusste, dass ich zögern würde, ihn zu erschießen. Und jede Sekunde, die ich zögerte, konnte das Leben eines anderen Engels retten.

Gabe, der mich von meiner Mission abhalten sollte. Nachdem ihm das nicht gelungen war, hat er mich gezwungen, auf ihn zu schießen. Was für eine Scheiße.

»Er hat nicht nur einen Vogel gerettet«, flüstert Dawna neben mir. »Er hat sechs Engeln das Leben gerettet.«

Sie tritt einen Schritt zur Seite und geht an mir vorbei weiter in Richtung des Campers, in dem Lilli-Thi gewohnt hat.

»Und wo sind die jetzt?«, flüstert sie weiter. »Die können doch nicht einfach weg sein? Ich werde Miley finden. Ich bin schuld daran, dass er weg ist, und ich werde ihn finden.«

Ich folge ihr und die Wassertropfen laufen über mein Gesicht, ungeweinte Tränen der Schuld, die meine Wangen benetzen, mich zwingen, die Realität zu sehen. Eine Erinnerungswelle schwappt über mich hinweg. Dawna und ich vor dem Grabstein unserer Ahnen, wir schreiben unsere Runen, während sich ein gewaltiges Unwetter zusammenbraut. Und da ist auch Sam, der das verhindern will und behauptet, er hätte Miley in seiner Gewalt. Als Beweis lässt er vor uns Mileys Marienanhänger baumeln.

»Du bist nicht daran schuld, dass Miley weg ist«, fauche ich Dawna an, als ich sie eingeholt habe. »Keiner ist schuld, dass Miley weg ist.«

Lange sieht sie mich schweigend an. »Du nennst ihn Gabe. Ist das die Koseform von Gabriel?«

»Hör damit auf«, flüstere ich. »Hör auf, in meiner Seele zu lesen.«

»Du weißt es«, erwidert sie flüsternd und greift nach meiner Hand. »Miley ist nicht auf der Suche nach seinem Stamm. Wir sind schuld, dass er weg ist.«

Ich ziehe meine Hand zurück. Nein. Miley ist tot, möchte ich sagen. Genau wie Gabe.

»Ich muss Miley suchen.« Sie tritt keinen Schritt zurück. »Und ich werde alles daran setzen herauszufinden, was mit ihm geschehen ist.«

Wir steigen über einen kleinen Sandhügel und vor uns liegt der Camper. Die Reifen sind eingesunken, der Regen hat so viel Sand und Geröll angespült, dass man den Bus wahrscheinlich mit einem Bagger freischaufeln muss. Die Tür steht offen.

»Siehst du was?«, frage ich. »Liegt sie da?«

Wir bleiben auf der Hügelkuppe stehen und versuchen, durch die Regenwand etwas zu erkennen. Einen leblosen Körper. Schwarzes, glänzendes Haar. Die unglaublich weiße Haut der Chinesin.

»Ich sehe nichts«, sagt Dawna, »vielleicht ist sie vom Sand zugedeckt.«

»Igitt. Und du willst da echt noch näher ran?« Es ist der klägliche Versuch, sie aufzuhalten. »Miley ist da nicht. Er müsste ja völlig bescheuert sein. Ich meine, die Tür ist offen. Dawna. Wir müssen da jetzt nicht hin.«

Ich will sie am Arm packen, aber Dawna läuft schon den Hügel hinunter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Als wollte mich jemand aufhalten, sinken meine Stiefel in den nassen Sand. Mein Herz schlägt wie wild. Lass uns gehen, Dawna. Das hat keinen Zweck.

»Da ist niemand«, sagt sie erleichtert, als sie den Bus fast erreicht hat.

»Gott. Ich hätte mir beinahe in die Hosen gemacht. Vielleicht hat Dusk sie doch aufgefressen. Guter Dusk«, ich stochere ein bisschen mit der Stiefelspitze im nassen Sand herum. »Nur falls Dusk ihre Knochen verbuddelt hat. Hunde machen so was. Wenn er dann später Hunger kriegt, denkt er sich: Da war doch was. Hatte ich nicht mal so eine Chinesin in der Wüste vergraben«

Scheiße, ich will nicht in diesen Camper hinein. Ich will auf gar keinen Fall in diesen blöden Camper. Die offene Tür schwingt im Wind hin und her. Dawna hält sich am Türrahmen fest und klettert hinein.

»Da ist niemand«, ruft sie mir noch einmal zu.

Ich mache die letzten zögerlichen Schritte bis zum Camper, dann spähe ich hinein. Bei Tageslicht betrachtet ist der Camper gar nicht so gruselig. Der Regen prasselt auf das Dach. Im hinteren Teil sind ein Bett und eine kleine Kochnische, rechts der Tisch, an den Seiten zwei Bänke. Auf dem Tisch steht noch der Aschenbecher mit ungefähr hundert Zigarettenstummeln darin.

Zögernd klettere ich in den Wagen und sehe mich um.

»Gemütlich«, sage ich cool, um mich selbst zu beruhigen, und lasse mich auf das Bett fallen, »ich versteh gar nicht, dass du abgehauen bist.«

Dawna beginnt, die Einbauschränke zu öffnen. Alle sind leer. In einem liegen ein paar halterlose Strümpfe und ein roter Spitzen-BH. Als hätte jemand in fliegender Hast alles ausgeräumt und mitgenommen. Es sieht nicht aus, als wollte derjenige zurückkehren.

Was sucht sie? Miley war nicht hier.

Ich stehe auf und gehe vor zum Führerhaus. Ich schiebe den Vorhang zur Seite und steige nach vorn. Der Fahrersitz ist durchgesessen und mit hellbraunem Lederimitat bezogen, auf dem Beifahrersitz liegt ein Haufen Klamotten. Ich setze mich und umfasse das Lenkrad. Der Schlüssel steckt nicht, sie muss ihn mitgenommen haben. Unter dem Beifahrersitz lugt etwas Schwarzes hervor, eine kleine Umhängetasche. Ich greife danach, leere sie aus und sehe mir den Inhalt an. Viel ist es nicht. Eine Straßenkarte. Ein zerfleddertes Gebetbuch, eine Augenklappe und Handschellen. Nichts von Bedeutung.

»Ich habe Kondome gefunden«, rufe ich nach hinten, als ich mit einer Hand das Handschuhfach öffne. »Massenweise. Heute ist ja mein Scheiß-Glückstag. So viele Kondome kann man ja in einem ganzen Leben nicht verbrauchen.«

»Lass sie liegen.« Dawna fährt fort, weiter Schranktüren aufzureißen. »Ich will nicht, dass du hier irgendetwas mitnimmst.«

»Wieso nicht, die können wir doch gut gebrauchen«, sage ich, als hätte ich wirklich vorgehabt, das Zeug einzustecken. »Ich will gar nicht wissen, was Lilli-Thi hier getrieben hat.«

Ich starre durch die Frontscheibe nach draußen. Es ist fast so, als würde ich mit dem Camper fahren. Langsam, durch den prasselnden Regen. Er steht so, dass man direkt zum Friedhof kommt, wenn man weiterfährt.

Du musst mich töten. Es ist deine Aufgabe, höre ich Gabes Stimme in meinem Kopf. Ich liebe dich.

Ich presse die Augen zusammen und versuche, mich an Gabe zu erinnern. Ab wann beginnt man, jemanden zu vergessen? Ein Wassertropfen rinnt von meinem Hals in meinen Ausschnitt. Mein Pulli klebt an mir.

»Gabe«, flüstere ich. »Wo bist du?«

Langsam und tief atme ich ein, konzentriere mich nur auf das, was einmal gewesen ist.

Dann, endlich, spüre ich einen warmen Hauch. Einen Atem auf meiner Haut, ein entferntes Wispern in meinem Kopf. Gabe.

Indie, flüstert es zurück. Seine raue, heisere Stimme ist wieder da und mit ihr noch eine ganze Menge mehr. Ich kann sein Gesicht wiedersehen, seinen Geruch riechen, seine Gedanken hören, die mich umweben wie eine laue Sommerbrise. Selbst die Wassertropfen, die meinen Körper benetzen, scheinen plötzlich warm zu sein.

Wo bist du. Wo bist du Wie Pappelblätter im Wind. Eine weit entfernte Erinnerung.

Dann sehe ich ihn vor mir. Er ist groß und stark, perfekt. Sein Gesicht ist so schön und so vollkommen. Zu schön, um irdisch zu sein. Aber trotzdem fühle ich mich so stark zu ihm hingezogen, dass es mir in der Brust wehtut. Gabe, wo bist du? Und wieder spüre ich seine Umarmungen, die mir so viel Wärme und Geborgenheit gegeben haben, seine starken Arme, die mich nicht gehen lassen wollten. Seine Hände auf meinen Armen, auf meiner Taille. Seine Lippen auf meinen Wangen, die heisere Stimme, die mich gefangen hält.

Wenn du jetzt gehst, höre ich seine Stimme. Wenn du jetzt gehst, musst du mich töten.

Er hatte es gewusst, er hatte es von Anfang an gewusst.

Von einer Sekunde auf die andere ist das Bild des schönen Mannes weg und ich sehe die Dunkelheit, die ihn umgibt. Er ist der Mann, der mich hereingelegt hat. Der nur seine Mission im Sinn hat, die er unbedingt erfüllen muss. Ich kann ihn nicht lieben. Ich darf ihn nicht lieben. Plötzlich habe ich eine unglaubliche Wut im Bauch, weil ich ihm nicht entgegenschleudern kann, dass ich ihn genauso wenig liebe wie er mich. Dass er mir so was von am Arsch vorbeigeht, dass es tausend Männer gibt, die ich interessanter finde als ihn.

Ein Geräusch hinter mir reißt mich aus meinen Gedanken. Dawna schlägt die Schranktüren energisch wieder zu. Scheiß-Typ. Wie kann es sein, dass ich auf so einen Scheiß-Typen hereingefallen bin. Sein blödsinniges Geschwafel von meine Seele und deine Seele, alles Humbug. Mit einem Ruck klappe ich die Sonnenblende herunter und ein Bild flattert in meinen Schoß. Es ist eines dieser Heiligenbilder, die man in Kirchen bekommt. Es ist abgewetzt und verblichen, aber ich erkenne trotzdem, was darauf abgebildet ist. Azrael. Der Todesengel, der sich über das Mädchen beugt, die riesigen schwarzen Flügel im Rücken gefaltet. Es ist das Bild, das Granny uns früher gezeigt hat. Das Bild aus Grannys Buch.

Mein Herz ist kalt und still und brennt doch mit einer Leidenschaft jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Ich bin der sprichwörtliche Sammler der Seelen, ernte sie überall im Universum und säe die Samen jeder verblühten Blüte in andere Böden. Ich bin der Herbst der Schöpfung und das Zwielicht der Zeit.

Mir wird plötzlich kalt, als würde mich ein eisiger Lufthauch streifen, und ich schiebe das Bild zurück unter die Sonnenblende.

Sie sind hier irgendwo flüstert es in mir seid euch nicht zu sicher sie wissen, wo ihr seid, sie müssen euch nicht suchen wenn die Zeit gekommen ist.

Kälte scheint mich völlig zu umschließen, eine seltsame, unwirkliche Berührung.

Ihr seid nirgends sicher sie sehen euch überall. Tag und Nacht. Sie wachen über euren Schlaf sie sind die Dunkelheit. Und ihr könnt nicht fliehen. Sie würden euch überall finden.

Ich höre den Regen nicht mehr, nur noch meinen eigenen Atem, oder ist es ein Wesen, das mich umgibt und nicht mehr freilassen will?

Ihr wisst, was zu tun ist unvermeidbar zu tun ist

»Lass mich in Ruhe«, sage ich leise, »geh weg.«

Ich beginne, in den Sachen auf dem Beifahrersitz zu kramen, und seltsamerweise nimmt dadurch der Druck in meinen Gedanken ab. Unter verschiedenen Landkarten, einem langen schwarzen Rock und einem schwarzen Tuch liegt noch ein Mantel, zusammengeknüllt. Ich ziehe ihn ein bisschen auseinander, der Saum ist von Dreckspritzern übersät.

»Verdammte Lilli-Thi«, sage ich halblaut und höre Dawnas gemurmeltes »Was ist?«.

In einer Manteltasche scheint etwas zu stecken, es beult die Tasche aus, ein winziges silberweißes Büschel lugt heraus.

Mein Herzschlag setzt aus, mir wird schwindelig und heiß, obwohl es kalt und nass hier drinnen ist. Ich kann nicht anders, strecke meine Hand aus, um es herauszuziehen. Glatt und leblos gleitet es in meine Hände, als hätte es hier auf mich gewartet. Mein Herzschlag explodiert, ich weiß nicht, ob ich wirklich schreie oder nur in Gedanken, voller Angst und voller Hass. Meine Hand umklammert das silbrige Gespinst der Haare, als würde es zu mir gehören.

Es ist Grannys Zopf.