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Marie Louise Fischer

Das Mädchen Senta

Roman

hockebooks

»Senta!«

Sie glaubte zu träumen, bewegte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen, und murmelte etwas Unverständliches.

»Senta!« Jemand schüttelte sie an den Schultern.

Sie blinzelte durch die Wimpern und sah Wolfgang Kändlers Gesicht mit den warmherzigen Augen unter dem widerspenstigen blonden Haar dicht vor sich.

»Du!«, rief sie und breitete die Arme aus.

Er zog sie an sich und hielt sie lange fest.

»Na, jetzt siehste, det ick nich jelogen ha’!«, rief das Kind, das, ohne dass Senta es bemerkt hatte, Wolfgang nachgeklettert war.

Er ließ sie los. »Nein, wahrhaftig nicht, Lene«, sagte er, »und ich dachte schon, du wolltest mich auf den Arm nehmen.«

»Dir? Nicht die Tüte!«

Senta zog den halben Zehnmarkschein hervor und gab ihn dem Kind. »Deine Belohnung!«, sagte sie. »Das hast du fein gemacht. Ich danke dir auch schön!«

»Lass sehen! Der ist ja kaputt!«

»Sie hat die andere Hälfte«, erklärte Senta.

Das Kind riss ihr blitzschnell den Schein aus der Hand, rannte zur Leiter und rutschte hinunter. »Muttern wartet auf mir!«, rief sie von unten herauf.

Wolfgang wollte Senta in den Lichtstreifen ziehen, der aus der geöffneten Dachluke fiel.

Aber sie wehrte sich. »Bitte, sieh mich nicht an!«

Er gab sofort nach. »Was ist los mit dir?«

Sie setzte sich wieder auf das Sofa. »Ich bin von zu Hause weggelaufen.«

Er blieb vor ihr stehen und sah mit gerunzelter Stirn auf sie herab. »Hat deine Tante dich geschlagen?«

»Nein, das nicht, aber …« Senta schlug die Hände vor das Gesicht. »Sie hat mir so entsetzliche Dinge gesagt!«

»Was?«, fragte er.

»Dass mein Vater nicht mein Vater ist … und meine Mutter nicht meine Mutter war! Es ist so schwierig, dir das zu erklären, Wolfgang, ich verstehe es ja selber immer noch nicht …«

»Aber Senta«, sagte er, »das weiß ich längst!«

Sie ließ die Hände sinken und sah ihn an. »Du hast es gewusst?!«

»Ja.«

»O Wolfgang, warum hast du es mir dann nicht gesagt?«

Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Nun hör einmal zu, Liebling, wann hätte ich es dir denn sagen sollen …«

»Sofort! Von Anfang an! Gleich damals, als wir uns in den Anlagen der Charité getroffen haben!«

»Unsinn! Wie stellst du dir das vor? Hätte ich dir denn wirklich sagen können: Entschuldige, aber wenn du dich für Doktor Weigands Tochter hältst, bist du im Irrtum. Ich halte es für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen.«

»Nein«, sagte sie zögernd.

»Na, siehst du. Ich hatte nicht einmal das Recht, dir das zu sagen.«

»Woher … wusstest du es?«, fragte sie leise.

»Du warst als kleines Kind bei meiner Mutter in Pflege. Ich erinnere mich noch genau daran. Du warst so weiß und rosig und hübsch, ganz anders als meine Schwestern. Zuerst dachten wir natürlich, du wärest Doktor Weigands Kind, weil er jeden Abend kam, um dich zu baden und mit dir zu spielen. Aber irgendwann hat mir Hans dann gesagt, dass der Doktor dich nur zu sich genommen hätte, weil deine eigene Mutter nichts von dir wissen wollte. Er hat deinen Vater … Doktor Weigand … sehr bewundert und war sehr stolz auf alles, was er tat, verstehst du?«

»Ja, deshalb hat deine Mutter nichts von mir wissen wollen! Deshalb hat sie mich behandelt wie … wie eine Dahergelaufene!«

»Ach, Quatsch!«, sagte er grob.

Sie rückte von ihm fort. »So einfach kannst du das nicht abtun! Vielleicht hättest du mich auch anders behandelt, wenn ich Justus Weigands Tochter wäre.«

»Kann schon sein«, gab er zu und verzog sein breites Gesicht dann zu einem Grinsen, »wahrscheinlich hätte ich dann gar nicht gewagt, dich anzusprechen. Wäre dir das lieber gewesen?«

Sie seufzte tief. »Ach, Wolfgang, du kannst lachen! Wenn du nur wüsstest, wie schrecklich das alles für mich ist.«

»Nimm es doch nicht so schwer. Im Grunde genommen ist es doch gleichgültig, wer deine Eltern sind.« Er zog sie wieder an sich. »Überhaupt … weißt du es denn jetzt?«

»Was?«

»Wer sie sind.«

»Meine Mutter war ein Stubenmädchen …«

»Das war meine Mutter auch, bevor sie geheiratet hat!«

Es verletzte, ohne dass sie es selbst hätte definieren können, ihren Stolz, dass er, dem sie sich bis gestern doch immer ein wenig überlegen gefühlt hatte, sie damit trösten wollte, dass seine Herkunft nicht besser war als die ihre.

»Wer mein Vater ist«, sagte sie, »weiß ich noch nicht. Es ist immerhin möglich, dass er … dass er ein adliger Herr war, vielleicht sogar ein Hohenzoller!«

»Wahrscheinlich Seine Majestät höchstpersönlich!?«, neckte er sie.

»Nun ja«, sagte sie ernst, »warum nicht?«

»Weil wirklich vornehme Herren sich nur höchst selten mit Stubenmädchen einlassen.«

Ihre Erfahrungen reichten nicht aus, um ihm in diesem Punkt zu widersprechen. »Du bist gemein«, sagte sie leise.

»Komm, sei friedlich«, mahnte er, »was hat es für einen Zweck, dass wir beide uns zanken, es ist so schon alles verzwickt genug. Ich würde dich ja zu deiner Stiefmutter zurückbringen …«

»Nein«, sagte sie, »das will ich nicht.«

»Ich täte es auch nicht allzu gern«, gab er zu, »ich habe gestern bei ihr schlecht genug abgeschnitten. Meiner Mutter kann ich schon gar nicht mit dir kommen …«

»Wenn du mich wirklich liebtest, dann würdest du es tun«, warf sie ein, verbesserte sich dann aber im gleichen Augenblick: »Nein, nein, hör gar nicht hin! Deine Mutter soll mir nicht helfen!«

»Was also dann?«, fragte er.

»Ich dachte, dir würde etwas einfallen«, sagte sie und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Diese ganze schreckliche Nacht hindurch hatte sie sich nur gewünscht, bei Wolfgang Kändler zu sein. Sie war überzeugt gewesen, dass dann alles gut sein würde – wie, darüber hatte sie sich keine Gedanken gemacht. Sie hatte auf seine männliche Überlegenheit wie auf ein Wunder gehofft. Aber nun war alles so anders, als sie es erwartet hatte. Unmöglich hätte sie ihm jetzt noch erzählen können, was sie, seit sie sich gestern Abend getrennt hatten, alles erlebt hatte. »Ich muss auf die Toilette«, sagte sie stattdessen.

Er verzog das Gesicht, unangenehm berührt durch ihre Direktheit. »Ja, natürlich«, sagte er widerstrebend, »könntest du hier nicht irgendwo …?«

»Nein.«

Einen Augenblick saßen sie schweigend da und fühlten sich einander sehr fremd.

»Die Toilette ist unten im Flur«, sagte er endlich.

Sie stand sofort auf, aber er packte sie bei der Hand.

»Hast du Angst, jemand könnte mich sehen?«, fragte sie und blickte auf ihn herab.

»Nein. Mir fällt gerade ein, dass die junge Frau Schwippke im fünften Stock – ihr Mann ist Soldat – tagsüber auf Arbeit ist. Mutter hat gestern darüber gesprochen. Die Wohnung steht also leer. Wenn Lene uns den Schlüssel besorgen könnte …«

»Du traust der Kleinen allerhand zu.«

»Sie ist die Tochter vom Hausmeister.« Er stand auf. »Ich will mal sehen, was sich da machen lässt.«

»Ich komme mit«, sagte sie entschlossen.

Sie wartete unten auf der Toilette, bis er gegen die Tür klopfte – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, das verabredete Zeichen –, dann folgte sie ihm zu der gegenüberliegenden Wohnung, sah zu, wie er aufschloss, und trat hinter ihm ein. Sie standen gleich in der Küche, und durch eine offene Tür sahen sie auf die Ehebetten im Schlafzimmer, von denen nur eines bezogen war.

»Na, was sagst du jetzt?«, fragte er stolz. »Hier bist du doch entschieden besser untergebracht.«

»Für die nächsten Stunden«, sagte sie. Die Müdigkeit machte sie mutlos.

»Bis Frau Schwippke nach Hause kommt, ist noch viel Zeit«, erklärte er munter, »bis dahin haben wir bestimmt einen Ausweg gefunden. So, und jetzt gehe ich noch mal weg und versuche, etwas zu essen für dich zu beschaffen.«

Sie sah sich in der kleinen, bescheiden eingerichteten Küche um, ging weiter in das Schlafzimmer, das außer den beiden Betten einen großen Kleiderschrank, zwei Nachttische und zwei Stühle enthielt.

Beim Anblick des sauber überzogenen Bettes überkam sie die Müdigkeit so stark, dass sie sich am liebsten so, wie sie war, hingelegt hätte. Aber dann kam ihr eine andere Idee. Sie wollte die Gelegenheit benutzen, um sich zu waschen.

Im Herd war noch ein wenig Glut, und das Wasser im Reservoir war heiß, sie schüttete es ins Küchenbecken und gab kaltes hinzu. Dann zog sie sich rasch aus. Sie würde ja hören, wenn Wolfgang zurückkam, und konnte ihn dann bitten, noch einen Moment zu warten. Als sie aus den Stiefeletten schlüpfte, stellte sie fest, dass ihre Strümpfe zerrissen und ihre Füße rot und geschwollen waren. Es war eine Erleichterung, die Zehen frei bewegen zu können.

Sie band sich das Haar mit einem Küchentuch hoch, nahm die grüne Seife und begann sich zu waschen. Als sie sich abgetrocknet hatte, goss sie kaltes Wasser in eine Blechschüssel und stellte die Füße hinein. Das tat gut. Sie wusch auch Füße und Beine, schüttete das schmutzige Wasser in den Ausguss und wollte schon ihr Kleid anziehen, als ihr auffiel, wie schmutzig es geworden war. Sie säuberte den dunkelblauen Rock mit einer angefeuchteten Bürste Bahn für Bahn, dann die Bluse, und stellte mit Erleichterung fest, dass das schöne Dunkelblau wieder unter dem Staub zum Vorschein kam.

Von Wolfgang war immer noch nichts zu hören.

Sie legte Rock, Bluse und Strümpfe im Schlafzimmer über einen Stuhl, stellte die Stiefel dazu und schrieb auf eine Schiefertafel, die sie auf der Küchenkredenz fand: »Habe mich hingelegt. Bitte, wecke mich rechtzeitig, wenn ich eingeschlafen sein sollte! Kuss, Senta.«

Die Tafel lehnte sie an ein Salzfässchen und stellte sie gut sichtbar mitten auf den Tisch.

Dann kroch sie in das fremde Bett und war trotz aller Sorgen Sekunden später eingeschlafen.

Senta wachte niesend auf und fuhr sich unwillkürlich über die Nase. Sie sah in Wolfgang Kändlers lachende Augen ganz nahe vor ihrem Gesicht; er hielt eine Bettfeder in der Hand, mit der er sie eben gekitzelt hatte.

»Aufwachen, mein Fräulein, zwölf Uhr vorbei!«

Sie gähnte und rieb sich die Augen. »Herrje, habe ich gut geschlafen!«

»Fühlst du dich jetzt besser!?«

Sie lachte ihn an. »Und wie! Ich könnte die ganze Welt umarmen!«

»Dann mach mit mir den Anfang«, sagte er und zog ihren Kopf an seine Brust; er hatte sich ins Nebenbett auf die unbezogene Matratze gelegt.

Vertrauensvoll kuschelte sie sich an ihn. »War ich vorhin recht garstig zu dir?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ich mich selbst nicht leiden konnte. Das ganze Leben schien mir verpfuscht. Dabei lag es wahrscheinlich nur daran, dass ich übermüdet war. Komisch, nicht?«

»Nein, gar nicht«, sagte er, »ich habe das an der Front oft genug mitgemacht, Müdigkeit, Kälte oder Hunger wirken eben demoralisierend.«

»Wie gescheit du bist, Wolfgang! Aber da du gerade von Hunger sprichst …«

»Ich habe dir was zu essen besorgt, Brot, Honigersatz und Apfel …«

»Hmmm«, machte sie genüsslich, »gib her!«

Er sagte: »Jetzt ist es gerade so gemütlich. Bleib noch ein bisschen bei mir«, und hielt sie fest. Sie ließ sich zurücksinken. »Hast du schon einen Plan gemacht?«, fragte sie.

»Ja. Wir sollten mit Frau Schwippke reden. Sie ist eine sehr nette Frau und wird sicher für deine Situation Verständnis haben. Du könntest vielleicht hier bei ihr wohnen.«

»Ja, meinst du?«, fragte sie unsicher.

»Wahrscheinlich wird sie froh sein, wenn sie Gesellschaft hat«, sagte er zuversichtlich.

»Und wenn ihr Mann auf Urlaub kommt?«

»Ach, darüber sollten wir uns jetzt noch keine Gedanken machen! Stell dir nur vor, du könntest hierbleiben … dann würde ich dich jeden Tag besuchen, wenn Frau Schwippke auf Arbeit ist.«

»Und wovon soll ich leben?«

»Ich habe Geld. Die vierzehn Tage, die ich noch hierbleiben darf, wird es reichen, und nachher … nachher gehst du eben in die Fabrik!«

»In die Munitionsfabrik gehe ich nicht«, sagte sie sehr entschieden.

»Brauchst du ja auch nicht. Es gibt schließlich noch andere Firmen. Was machst du denn für ein Gesicht? Denk doch nur an die vierzehn Tage, die wir vor uns haben!«

Sie seufzte tief und lächelte ihn an. »Du hast ja recht. Ich bin sehr dumm. Ich kann mich einfach nicht so schnell daran gewöhnen, dass ich nicht mehr Senta Weigand bin, sondern irgendein Mädchen … ein Mädchen, das von der Hand in den Mund leben muss.«

»Ein wunderschönes Mädchen«, sagte er, »ich habe dich angeschaut, als du schliefst. Du sahst wunderbar aus. Noch nie habe ich ein so schönes Mädchen gesehen wie dich.« Er küsste ihre Ohrmuschel, den Ansatz ihres kastanienbraunen Haares, ihre Stirn, ihren Nacken und ihren Mund.

Sie ließ es sich gefallen wie ein schnurrendes Kätzchen. Auch als er unter die Decke tastete, ihren Unterrock hochschob und ihren flachen Bauch streichelte, wehrte sie sich nicht, aber sie wurde steif in seinen Armen.

Er merkte es nicht. »Sei lieb«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, »zieh doch das dumme Hemd aus.«

»Nein«, sagte sie, »nein, bitte nicht!«

Er hielt ihren Widerstand für Ziererei, schlug die Bettdecke zurück, zog die Träger ihres Unterrocks herunter und küsste zärtlich ihren Busen.

Sie stemmte sich gegen seine Schulter und versuchte, ihn von sich zu schieben. »Lass das!«, forderte sie. »Hör auf damit!«

Seine Hand tastete weiter. »Aber wir lieben uns doch«, keuchte er, »ich weiß doch, dass du mich liebst!«

»Was hat denn das mit Liebe zu tun?!«, rief sie.

»Alles! Bitte, Senta, sträub dich doch nicht … ich werde dich glücklich machen, wir werden glücklich sein. Weißt du denn nicht, dass das das Schönste ist, was eine Frau einem Mann geben kann?« Seine Hand fand ihren warmen Schoß.

»Nein!«, schrie sie.

»Doch, doch! Ich weiß, dass du es selber willst!«

Ihre wilden Bewegungen, mit denen sie sich zur Wehr setzte, reizten ihn noch mehr. Seine Begierde war jetzt so stark, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Er warf sich auf sie und wollte sie mit Gewalt nehmen.

Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, einmal, zweimal, und dann mit dem Handrücken. Nicht der Schmerz war es, der ihn zur Besinnung brachte, sondern das Blamable dieser Züchtigung, die ihn an die Ohrfeigen erinnerte, die er als kleiner Junge von seiner Mutter bekommen hatte. Seine Kraft erlahmte.

Sie rollte sich unter ihm weg und fiel auf den Fußboden, stand Sekunden später auf den Beinen, zog ihre Wäsche zurecht und schlüpfte in ihren langen, dunkelblauen Rock.

»Senta!«, rief er und streckte die Hand nach ihr aus. »Wie konntest du das tun?«

Sie antwortete nicht, sondern zog sich rasch ihre Matrosenbluse über den Kopf.

»Denkst du denn gar nicht daran, dass ich vielleicht schon in wenigen Wochen tot sein kann? Ist dir das denn ganz gleichgültig?«

Sie warf die kastanienbraune Mähne, die sich im Schlaf gelöst hatte, mit einer heftigen Bewegung in den Nacken und fragte zurück: »Und du? Hast du daran gedacht, was aus mir werden sollte … danach? Wenn du vielleicht wirklich fallen würdest?«

»Du würdest weiterleben.«

»Aber wie! Vielleicht mit einem Kind von dir! Sieh mich nicht so an, ich weiß Bescheid. Ich bin nicht so dumm, wie du wohl gedacht hast. Und ich sage dir, ich will kein Kind, das ohne Vater aufwachsen muss und das sich seiner Mutter schämt, wie ich es tue. Nein, ich will es nicht. Ich will nicht, dass Tante Tina recht behält und ich auch so eine werde.«

»Man bekommt doch nicht gleich ein Kind. Senta! Ich verspreche dir, dass ich aufpasse …«

»Ach was«, sagte sie, betrachtete ihre zerrissenen Strümpfe mit Abscheu, zerknüllte sie und fuhr mit bloßen Füßen in ihre Stiefel, »versprich du mir nichts. Ich glaube dir kein Wort mehr. Niemals hätte ich gedacht, dass du so etwas tun könntest.«

»Ich liebe dich, Senta! Wenn ein Mann liebt, dann will er eine Frau besitzen.«

Sie blickte ihn voller Verachtung an. »Will er das wirklich? Will er sie unglücklich machen und dann ihrem Schicksal überlassen? Wenn das so ist, will ich nie, nie in meinem ganzen Leben etwas mit einem Mann zu tun haben!« Sie trat an das Bett, nahm, ohne sich um seine ausgestreckte Hand zu kümmern, ihre Haarspange und wandte sich ab. »Leb wohl!«

»Wo willst du hin? Senta, du kannst doch nicht allein …« Er sprang auf.

»O doch, ich kann«, erklärte sie mit Nachdruck, »ich habe begriffen, dass ich überall sicherer bin als in deiner Nähe. Lass dir nur ja nicht einfallen, mir zu folgen. Ich würde mich beim nächsten Polizisten beschweren.«

Sie ließ ihn stehen, hörte, wie er sich wieder auf das Bett fallen ließ, und dann einen seltsamen Ton wie ein ersticktes Schluchzen. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie war wie erstarrt. Ihre Hände zitterten nicht, als sie sich vor der Spiegelscheibe über dem Ausguss ihre Haare ordnete. Sie wunderte sich, dass ihre Lippen so rot und ihre Augen so glänzend waren.

Im Hinausgehen sah sie den Teller mit den Broten und den Äpfeln, den Wolfgang Kändler für sie hingestellt hatte. Ohne zu zögern nahm sie zwei Schnitten, klappte sie zusammen und griff nach einem Apfel. Sie schloss die Tür auf und lief die Treppe hinunter und aus dem Haus.

Auf dem Hof begegnete sie Frau Kändler, aber das machte ihr nichts mehr aus. Sie grüßte mit einem höflichen, leicht ironischen Knicks und eilte, mit Appetit in ihren Apfel beißend, an der erstaunten Frau vorbei.

Im September 1916 wurde in das Behelfslazarett, in dem Justus Weigand nur wenige Kilometer hinter der Westfront die Schwerverwundeten operierte, ein junger Artillerist mit einem Brustschuss eingeliefert. Er hatte viel Blut verloren und war bewusstlos. »Puls kaum noch fühlbar«, sagte sein Assistent.

»Wir wollen trotzdem versuchen, die Kugel herauszuholen«, entschied Justus Weigand, »der Kerl ist doch noch blutjung. Die haben oft eine erstaunliche Zähigkeit! Narkose, bitte!«

Gerade als der Sanitätsgefreite Chloroform auf das Tuch zu tröpfeln begann, öffnete der verwundete Soldat die Lider und sah Justus Weigand an. Seine braunen Augen leuchteten plötzlich auf.

»Moment mal!« Justus Weigand winkte dem Sanitätsgefreiten ab und beugte sich über den Mann. »Wollen Sie mir etwas sagen?«

Der Schwerverletzte bewegte mühsam die Lippen und formte, fast lautlos, die Worte: »Ich bin …«, und dann: »Senta!«

»Senta?«, fragte Justus Weigand alarmiert. »Sie haben Senta gesagt?«

»Senta«, wiederholte der junge Mann, diesmal so klar, dass alle in dem großen Schulzimmer, das als Operationssaal eingerichtet worden war, es verstanden.

Justus Weigand wusste, dass Senta von zu Hause fortgelaufen und nicht mehr aufgetaucht war; Clementine hatte es geschrieben. Jetzt glaubte er, unversehens auf eine Spur gekommen zu sein.

»Was wissen Sie über Senta?«, fragte er. »Bitte, sagen Sie mir alles …«

Wieder bewegte der Junge die Lippen, als wollte er sprechen. Aber es kam nichts als ein ersticktes Röcheln aus seinem Mund und dann ein Strom hellroten, blasigen Blutes. Seine Augen brachen.

Justus Weigand drückte ihm die Lider zu. »Exitus«, sagte er, und als zwei Sanitätssoldaten herbeisprangen, um den Toten wegzuschaffen, fügte er hinzu: »Bitte, bringen Sie mir die Papiere des Mannes!«

Aber ehe er noch über diesen sonderbaren Zufall nachdenken konnte, lag schon der nächste Verwundete vor ihm auf dem Operationstisch, ein Mann mit blutdurchtränktem Hosenbein. Der Assistent zerschnitt den Stoff, und ein völlig zerschmettertes Knie kam zum Vorschein.

»Wir müssen amputieren«, entschied Justus Weigand.

Der Soldat stand noch unter dem Schock der Verwundung, spürte kaum einen Schmerz und war bei Bewusstsein. »Ich will nicht!«, schrie er. »Lassen Sie mir mein Bein! Das können Sie nicht machen. Jeder anständige Zivilarzt …« Er schlug um sich, und zwei Sanitäter schnallten ihn mit Lederriemen an den Tisch, bevor ihn der Assistent chloroformieren konnte.

»Armes Schwein«, sagte er.

»Immer noch besser ein Krüppel als tot«, erklärte Justus Weigand, bevor er mit der Operation begann.

Als er sich Stunden später eine kurze Kaffeepause gönnte, hatte er den Soldaten, der in seiner Sterbestunde Senta gerufen hatte, schon fast vergessen.

»Was soll ich damit?«, fragte er verständnislos und starrte auf die Papiere, die einer der Sanitäter ihm hinhielt.

»Sie wünschten doch, Herr Doktor …«

»Ach ja, lesen Sie mir vor«, bat er, in der einen Hand die Kaffeetasse, in der anderen eine Zigarette.

»Kanonier Wolfgang Kändler, wohnhaft Berlin, Elsässer Straße, geboren am …«

Justus Weigand winkte ab. »Danke, das genügt. Weiß schon Bescheid.«

Trotz totaler Erschöpfung zwang er sich dazu, um Mitternacht, bevor er sich auf seiner Pritsche ausstreckte, einen Brief an Frau Kändler zu schreiben und ihr zu berichten, dass ihr Sohn gestorben war, viel zu jung, aber schmerzlos und schnell.

»Sein letztes Wort«, schrieb er, »lautete deutlich vernehmbar: Senta! Und das hat mich auf den Gedanken gebracht, Sie nach dem Verbleib meiner Tochter zu fragen. Wenn Sie etwas über Senta wissen, so bitte ich Sie, liebe Frau Kändler, es mir zu schreiben. Sie werden verstehen, dass man sich in diesen Zeiten nicht nur Sorgen um die Söhne, sondern auch um die Töchter machen muss.«

Er erhielt auf diesen Brief nie eine Antwort. In dem unendlichen Leid, das er täglich miterlebte, fand er nicht mehr die Kraft, an sein Privatleben zu denken. Er hatte mehr und mehr das Gefühl, auf ein Chaos zuzusteuern, aus dem es keine Rettung mehr gab.

Ostern 1917 bekam Justus Weigand einen kurzen Heimaturlaub. Clementine und die beiden Jungen empfingen ihn freudig und ein wenig scheu; er war ihnen fremd. Seine Lippen waren schmal und hart geworden. Hohlwangig, mit tief umschatteten Augen und sehr erschöpft, hielt er sich noch gerader als früher, und sein abwesender Blick schien sie kaum wahrzunehmen.

Tatsächlich entging ihm aber nicht, dass sie alle drei dünn und blass geworden waren. Schon längst kam kein Paket mehr aus den Vereinigten Staaten durch, und sie mussten, wie alle anderen, mit Hungerrationen vorlieb nehmen. Die Engländer blockierten, von Norwegen bis zu den Shetlandinseln, die ganze Nordsee.

Justus Weigand brachte es nicht übers Herz, seiner ausgemergelten Frau Vorwürfe wegen Sentas Verschwinden zu machen, obwohl er ihr die Schuld daran gab. An der Front hatte er sich gegen jeden privaten Gedanken gewehrt, aber jetzt erst begriff er ganz, was er mit Senta verloren hatte. Die Wohnung schien ihm wie ausgestorben ohne das junge Mädchen. Er hatte das Gefühl, dass sie jeden Augenblick auftauchen müsste, glaubte beinahe, ihre melodische, ein wenig heisere Stimme zu hören, ihr etwas gepresstes Lachen, sah den Blick ihrer dunklen Augen vor sich und erinnerte sich deutlich an die Art, wie sie ihre kastanienbraunen Locken in den Nacken warf.

Am dritten Tag seiner Heimkehr konnte er sich nicht mehr länger beherrschen, und er fragte, so beiläufig wie möglich, während er sich Ersatzmarmelade auf das graue, klebrige Brot strich: »Keine Nachricht von Senta?«

Clementine hatte diese Frage erwartet, trotzdem zuckte sie zusammen. »Nein«, sagte sie.

»Ich nehme an, dass du alles versucht hast, um sie wiederzufinden?«

»Hätte ich die Polizei einschalten sollen?«

»Warum nicht?«

Clementine kaute auf ihrem Daumennagel. »Ich fürchtete, das würde dir nicht recht sein. Aber wenn du willst, kannst du ja jetzt noch …«

»Nach einem dreiviertel Jahr!? Nein, jetzt ist es zu spät.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf.

»Du hast ja fast nichts gegessen«, sagte sie besorgt.

»Keinen Hunger«, erklärte er mit dem Versuch eines Lächelns, »ich gehe ein bisschen an die frische Luft. Zum Mittagessen bin ich zurück.«

Sie wusste, dass er Senta suchen würde, und die alte Eifersucht überfiel sie. Senta bedeutete ihm anscheinend doch mehr als sie. »Justus!«, rief sie.

Er drehte sich in der Tür noch einmal um.

»Senta weiß, wo wir wohnen«, erklärte sie eindringlich, »sie kann jederzeit zurück, wenn sie nur will.«

»Vielleicht fürchtet sie, nicht willkommen zu sein«, sagte er und verließ sie ohne Gruß. Er wollte sie nicht kränken, aber er fürchtete, dass sie auf Sentas Herkunft anspielen könnte, und er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass das der Anfang gerade jener Auseinandersetzung geworden wäre, die er unbedingt vermeiden wollte.

Erst als er auf der Straße stand, dem Kurfürstendamm, der jedes Flair einer Weltstadt längst verloren hatte und so grau geworden war wie die Gesichter der Passanten, wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo er Senta suchen sollte. Er bemühte sich nachzudenken. Senta hatte seinerzeit erfahren, wer ihre leiblichen Eltern waren. Lag es da nicht nahe, dass sie versucht hatte, mit ihnen Verbindung aufzunehmen? Den Gedanken, Rosa Janowitz zu finden, tat er sofort als aussichtslos ab. Aber Otto Thielemann verbrachte, soviel er wusste, mindestens die Hälfte des Jahres in Berlin, jedenfalls hatte er das in Friedenszeiten so gehalten. Mit etwas Glück musste er ihn finden.

Clementine hatte ihm erzählt, daran erinnerte er sich plötzlich wieder, dass Rechtsanwalt Dr. Rosenbaum für Frau Dorothee die Villa in der Von-der-Heydt-Straße vermietet und ihr selber eine nette kleine Wohnung in der Xantener Straße beschafft hatte. Das war nicht weit von hier, er hatte Patienten dort gehabt und wusste, dass die Xantener Straße nur kurz war. Es lohnte sich, dachte er, Frau Thielemann zu suchen, denn sicher würde sie ihm Auskunft über den Aufenthalt ihres geschiedenen Mannes geben können.

Justus Weigand machte sich auf den Weg. Er schritt erst die linke Seite der Xantener Straße ab und las jedes Türschild, jedoch ohne Erfolg. Er wusste wohl, wie viel einfacher es gewesen wäre, Clementine nach Frau Thielemanns Adresse zu fragen. Aber er wollte ihr keine Rechenschaft über den Ausgang dieses Unternehmens abgeben und versuchte es deshalb lieber weiter auf eigene Faust. Er hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, als er das Türschild fand, das er suchte: »Dorothee Thielemann« stand in schwarzen Buchstaben auf abblätterndem weißem Emaille.

Die Haustür war nicht verschlossen. Er stieg bis zur zweiten Etage hinauf und klingelte. Eine schwarzgekleidete, blasse junge Frau öffnete.

Justus Weigand nahm seine graue Schirmmütze ab und grüßte höflich. »Kann ich, bitte, Frau Thielemann sprechen?«

Die junge Frau blickte ihn so fragend an, dass er sich veranlasst sah, sich vorzustellen.

»Mama«, rief die junge Frau in die Wohnung, »ein Offizier … ein Herr Doktor Weimann …«

»Weigand«, verbesserte er.

»Ein Doktor Weigand möchte dich sprechen.« Sie ließ ihn in die kleine, elegant möblierte Diele treten, die allerdings auch die Zeichen kriegsbedingter Verwahrlosung zeigte.

Frau Thielemann erschien, auch in Schwarz, und trotz der Jahre, die er sie nicht mehr gesehen hatte, schien sie ihm kaum verändert. Sie war damals, im Jahre 1900, als Clementine ihn ihrer Dienstherrin vorgestellt hatte, nicht jung gewesen, hatte mit ihrem dünnen, langen Hals und dem schmalen Gesicht zart und zerbrechlich ausgesehen, und heute wirkte sie noch immer so. Selbst ihre übergroßen Augen hatten den verstörten, ein wenig kindlichen Ausdruck über die Zeiten hinweg bewahrt.

»Sie wünschen, bitte?«, fragte sie sehr distanziert.

»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, gnädige Frau«, sagte er, »ich bin der Vetter Ihrer früheren Gesellschafterin Clementine Hergert … und inzwischen ihr Ehemann.«

»Clementine? Ach ja, Clementine. Ich schulde ihr vielen Dank. Bitte, setzen Sie sich doch.«

»Ich möchte Sie nicht lange aufhalten, gnädige Frau. Es geht mir nur um eine Auskunft. Können Sie mir vielleicht zufällig sagen, wo sich Ihr geschiedener Gatte zur Zeit aufhält?«

Er war sich nicht ganz sicher gewesen, wie sie reagieren würde; Clementine hatte ihm einiges von ihren unberechenbaren Launen erzählt.

Doch sie blieb ganz ruhig. »Er ist hier«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen.

Das hatte er nicht zu hoffen gewagt. »Kann ich ihn einen Moment sprechen?«, fragte er aufatmend.

Sie winkte ihm stumm, ihr zu folgen, schritt einen Gang entlang, öffnete eine Tür und trat vor ihm in ein schmales Zimmer. Er sah vor sich ein freistehendes Bett, auf dem Otto Thielemann lag, die Hände gefaltet, das gelbe, fleischlose Gesicht, über dessen Knochen sich die Haut wie dünnes Pergament zog, zu einer tragischen Maske verzerrt und die geschlossenen Augen tief in die Höhlen gesunken.

Justus Weigand sah mit einem Blick, dass er tot war.

»Zu Lebzeiten«, sagte Frau Thielemann mit ausdrucksloser Stimme, »hatte er viele sogenannte gute Freunde, Schmarotzer, Kumpane und leichte Mädchen. Aber als es zum Sterben ging, wollte niemand ihn haben. Ich musste ihn aufnehmen. Meine Tochter und ich haben uns in der Pflege abgewechselt. Es war ein schwerer Tod. Er hatte noch auf Erden Gelegenheit, für all seine Sünden zu büßen.«

»Leberzirrhose?«, fragte Justus Weigand, der das Gespräch in sachliche Bahnen zu bringen wünschte.

»Ja.«

Er konnte sich nur schwer von dem Anblick des Mannes losreißen, der Sentas leiblicher Vater gewesen war. »Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen, gnädige Frau«, sagte er und war sich bewusst, wie hohl diese Floskel klingen musste.

»Ich habe nichts verloren«, sagte die Witwe hart, »der Gatte meiner Tochter ist gefallen … es sterben heute so viele junge Männer, anständige Männer, dass das Leben oder Sterben Otto Thielemanns gar nichts dagegen wiegt.«

Lange lief er allein durch die Straßen. Als er nach Hause kam, hatten die anderen schon gegessen, und Clementine machte ihm einen Teller voll Kohlrüben und Kartoffeln warm. Er löffelte alles in sich hinein, ohne irgendetwas zu schmecken. Sie sah ihm zu und war froh, dass er wenigstens aß.

»Hast du etwas ausgerichtet?«, fragte sie tastend, als der Teller leer war.

»Nein«, sagte er, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich habe mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Deine Eröffnung muss Senta einen schweren Schlag versetzt haben … nein, bitte, versteh mich nicht falsch, ich mache dir keine Vorwürfe, ich bemühe mich nur, die Tatsachen zu rekonstruieren. Dass sie daraufhin fortgelaufen ist, ist eine durchaus verständliche Reaktion. Aber sie wäre wiedergekommen, wenn sie noch lebte.«

»Du meinst … sie ist tot?«, fragte Clementine ungläubig; nichts konnte sie sich weniger vorstellen, denn in ihren Augen besaß Senta die Zähigkeit und den Lebenswillen einer Katze.

»Ich fürchte, ja«, sagte er.

Sie war nahe daran, ihm zu widersprechen und ihn darauf aufmerksam zu machen, wie viele Möglichkeiten es für ein hübsches Mädchen gab, in der Großstadt Berlin unterzutauchen. Aber sie presste die Lippen zusammen und schwieg. Sicher war es leichter für Justus Weigand, sie sich tot als verkommen und verludert vorzustellen, und besser auch für ihre Ehe, wenn er endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zog.

»Du musst mir glauben, dass ich das nicht gewollt habe«, sagte sie deshalb nur, »kaum, dass ich es ausgesprochen hatte, wusste ich, dass es falsch war, ihr die Wahrheit zu sagen … jedenfalls sie ihr in dieser Form an den Kopf zu werfen, ich werde es mir nie verzeihen.«

»Es ist vorbei«, sagte er, »es gibt Schicksalsschläge, mit denen man fertig werden muss. Denk an all die Eltern, die nie erfahren werden, wie ihr Junge gestorben ist. Und glaub mir, es ist oft besser so.«

Er reichte Clementine über den Tisch hinweg die Hand, und sie nahm sie mit festem Griff.

Um die englische Blockade zu durchbrechen, setzten die Deutschen ihre Unterseeboote ein, die warnungslos feindliche und neutrale Handelsschiffe torpedierten und so den Vereinigten Staaten eine Begründung für den Kriegseintritt boten. Die klügeren Köpfe der deutschen Regierung erkannten, dass ein Sieg jetzt nicht mehr möglich war, aber das Friedensangebot des Kanzlers Bethmann-Hollweg war so unzureichend, dass die Westmächte es bedenkenlos beiseiteschieben konnten.

Das Jahr 1917 wurde zum Höhepunkt der inneren Krise im Westen. England stand unter dem Druck der U-Boot-Angriffe und wurde von schweren, die Kriegswirtschaft erschütternden Streiks heimgesucht. In Frankreich gab es nicht nur Streiks, sondern auch Meutereien innerhalb der Truppe. Aber das Eingreifen der Vereinigten Staaten in den europäischen Krieg machte das Ende gewiss. Daran änderte sich auch nichts durch die Tatsache, dass in Russland die Revolution ausbrach und endlich Mitte November mit der bolschewistischen Revolutionsregierung ein Waffenstillstand geschlossen werden konnte.

Im März 1918 setzte Generalfeldmarschall Ludendorff alles auf eine Karte, um den strategischen Durchbruch im Westen zu erzwingen. Es gelang ihm, bei St. Quentin die Front zwischen Engländern und Franzosen aufzusprengen, die unter der Schockwirkung zu dem Entschluss kamen, ihre Truppen dem Oberbefehl General Fochs zu unterstellen. Foch gelang es, die Lücke zu schließen und die deutsche Offensive zum Stehen zu bringen, und bald stießen die Amerikaner zu den Kampftruppen der Alliierten.

Das Feldlazarett war den vorrückenden deutschen Truppen in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern gefolgt. In den rasch aufgeschlagenen Zelten wurden die Leichtverwundeten von Sanitätern versorgt und wieder zur Division zurückgeschickt, die Schwerverwundeten mit Kraftwagen ins Hinterland gebracht.

Justus Weigand selber operierte ununterbrochen. Er entfernte Kugeln, amputierte Beine und Arme, während die Verwundeten, von allzu großem Blutverlust geschwächt, ihm oft während der Operation starben. Ohne zu denken und zu fühlen, kämpfte Justus Weigand verbissen weiter gegen Tod und Schmerz.

»Herr Hauptmann, wir müssen zurück«, sagte einer der Sanitäter, »die Front kommt näher!«

»Ja, ja, gleich«, antwortete Justus Weigand, der gerade dabei war, die zerfetzten Gedärme eines jungen Leutnants zusammenzunähen, »Sie sehen doch …«

»Es wird schon abgebaut!«, schrie der Sanitäter, ein älterer Mann, der Frau und Kinder in der Heimat hatte.

»Schon gut, Schulze«, murmelte Justus Weigand unter der Gesichtsmaske, »nur noch zwei Minuten …«

In diesem Moment spürte er etwas wie einen Windstoß, der auf ihn zukam, ihn von den Füßen riss und hochhob, immer höher und höher, in rasender Geschwindigkeit.

Als Justus Weigand wieder zu sich kam, fühlte er sich sehr schwach, aber angenehm leicht, fast schwerelos. Er versuchte sich zu besinnen, was mit ihm geschehen war und wo er sich befand. Aber er wusste nicht einmal, wer er war. Eine Milchglasscheibe schien ihn von seiner Umgebung zu trennen. Hinter dieser Scheibe sah er schattenhafte Bewegungen, weiß und blau und grau.

Dann klärte sich das Milchglas. Er bemerkte eine Fensterscheibe voller Eisblumen, wie er sie oft in längst vergangenen Wintern in Görzen erlebt hatte. Sein Atem taute das Eis auf. Durch ein kreisrundes Guckloch konnte er jetzt das Gesicht eines Mädchens erkennen. Er sah dunkel glühende Augen, eine sehr weiße Haut, rote Lippen und eine kastanienbraune Locke, die unter einem Häubchen hervor in die klare Stirn fiel.

»Senta«, sagte er tonlos.

Aus den Augen des Mädchens sprangen große, glänzende Tropfen. »Ja, Vater«, sagte sie, »ja!«

Und jetzt wusste er, dass er nicht träumte. Entspannt schloss er die Augen und ließ sich sinken, tief in den weichen Schoß der Unendlichkeit.

Aber dieser glückhafte Zustand hielt nicht an. Es drangen Geräusche zu ihm, Stöhnen, Schreie, Wortfetzen. Ein Druck an den Schläfen ließ ihn aufwachen.

Er sah um sich, und die Scheibe von Eiskristall war fort. Erst noch verschwommen, dann immer deutlicher erkannte er, was um ihn herum vorging, sah die Betten, die Patienten und die Diakonissen, die mit ihren steif gestärkten Kleidern hin und her rauschten, und der grässlich vertraute Geruch von Blut, Eiter und Fäulnis stieg ihm in die Nase.

»Schwester, mein Skalpell«, murmelte er und versuchte sich aufzurichten.

Eine blonde Diakonisse, groß und grobknochig, die nicht die leiseste Ähnlichkeit mit Senta hatte, drückte ihn in die Kissen zurück. »Ruhen Sie sich aus, Herr Doktor, Sie sind nicht mehr im Dienst.«

»Ist der Krieg … zu Ende?«

»Für Sie ja. Sie haben eine Kopfverletzung erwischt. Keine Kugel. Der Druck einer Explosion hat Sie durch die Luft geschleudert. Sie sind hart aufgeprallt. Aber wenn Sie jetzt ganz ruhig und vernünftig bleiben, wird nichts davon zurückbleiben.«

Justus Weigand bewegte vorsichtig Arme und Beine. Er tastete zu seinem Kopf und stieß auf einen dicken Verband.

»Sie waren fast skalpiert«, sagte die Diakonisse, »aber Sie haben Glück gehabt. Wenn wir Sie entlassen, werden Sie so schön sein wie nie zuvor. Die Narbe verläuft unter dem Haaransatz.«

»Beruhigend«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.

Die Diakonisse wurde ernst. »Ja, andere hat es schlimmer getroffen.«

»Meine Leute?«

»Darüber kann ich Ihnen nichts sagen. Sie sind als Einziger vom Feldlazarett 317 hier eingeliefert worden. Vielleicht hat es Ihre Kameraden nicht erwischt. Vielleicht sind sie tot. Wer kann das in diesen Zeiten sagen.« Die Diakonisse strich seine Decke glatt. »So, und jetzt werde ich Ihnen ein Süppchen bringen, Herr Stabsarzt.«

»Wo ist Senta?«, fragte er, darauf gefasst, dass sie ihn für verrückt halten würde; inzwischen war er überzeugt, jenes Wiedersehen mit Senta nur geträumt zu haben.

»Senta?«, wiederholte die Krankenschwester durchaus nicht so erstaunt, wie er erwartet hatte. »Sie erinnern sich? Dann hat das Mädchen also doch recht gehabt. Sie waren schon einmal bei Bewusstsein.«

Justus Weigand fuhr hoch, aber ein stechender Schmerz, der ihm durch die Stirn fuhr, riss ihn zurück. »Sie ist also wirklich hier?«, rief er. »Und ich habe nicht geträumt?«

»Kennen Sie denn die Janowitz?«, fragte die Diakonisse.

»Bitte, lassen Sie sie kommen … holen Sie sie her! Ich muss sie unbedingt sehen, sprechen … sofort!«

Die Schwester nahm sein Handgelenk und prüfte den Pulsschlag. »Wie Sie wünschen, Herr Doktor«, sagte sie dann, und es war ihr anzumerken, dass sie nun gar nichts mehr verstand.

Er fühlte sich erschöpft von diesem kurzen Gespräch. Es war das erste seit acht Tagen, wie er später erfahren sollte. Aber er wagte jetzt nicht mehr, die Augen zu schließen. Er wollte, er musste wach bleiben, um festzustellen, ob er nicht doch einer Selbsttäuschung erlegen war.

So sah er sie schon von Weitem auf sich zukommen, sehr schlank, fast mager, größer, als er sie in Erinnerung gehabt hatte, nichts Kindhaftes mehr in dem beherrschten Gesicht – aber sie war es, Senta, seine Senta.

Sie beugte sich zu ihm herab und legte ihre kühle, raue Hand auf seine Stirn. »Ich bin sehr froh, dass es dir besser geht«, sagte sie.

»Senta! Ich kann es einfach nicht fassen! Du bist hier!?«

»Ja. Als Schwesternhelferin. Seit damals … seit ich Tante Clementine verlassen habe.«

Ihm fiel etwas an ihrer Sprechweise auf. »Warum sagst du nicht mehr Vater zu mir!?«

»Weil ich jetzt weiß, dass du …«

»Nein, Senta, das ist nicht wahr! Als ich das erste Mal erwachte, hast du mich Vater genannt …«

»Ich erinnere mich nicht mehr …«

»Doch. Du erinnerst dich sehr gut. Ich bin dein Vater. Ich bin dein Vater geworden, als du auf die Welt kamst. Ich war dir mehr Vater als den Kindern, die von mir sind.«

Senta schwieg, ihre Lippen bebten, und es war ihr anzumerken, wie sehr sie mit sich kämpfte.

»Wo sind wir hier?«, fragte Justus Weigand.

»In Berlin. In der Charité.«

»Und da hast du Tante Tina nicht aufgesucht?«

»Sie hat mich nie gemocht.«

»Doch, Senta. Sie war eifersüchtig auf dich, das ist etwas ganz anderes, eifersüchtig, weil sie wusste, wie sehr ich dich liebe.«

»Vater«, Senta senkte die dichten Wimpern, »ich weiß, dass ich sehr dumm war. Aber ich habe den Weg nicht zurückgefunden. Und dann … all dies Entsetzliche hier …«

»Ich verstehe dich sehr gut, Liebling«, sagte er weich, »aber du musst nun begreifen, dass ich wirklich dein Vater bin. Ich liebe dich. Wie auch Stefanie dich geliebt hat.« Er streichelte ihre Hand. »Im Übrigen ist Otto Thielemann tot. Du hast also keinen anderen Vater mehr.«

»Er hat behauptet, dass er es nicht wäre.«

»Das sieht ihm ähnlich. Aber es stimmt trotzdem. Tante Tina weiß es ganz genau. Deine Geburt war nicht der Grund – aber der Anlass zu Thielemanns Scheidung. Wir müssen einmal in Ruhe über alles sprechen.«

»Das ist nicht mehr nötig, Vater«, sagte Senta und ihre Augen glänzten vor Tränen, »ich bin so froh, dass es uns wieder zusammengebracht hat.«

»Janowitz«, rief eine Diakonisse, »der Herr Leutnant braucht eine Bettschüssel …«

Senta wollte aufspringen, aber Justus Weigand hielt sie fest. »Hör nicht hin«, sagte er, »du heißt nicht Janowitz, sondern Weigand. Du trägst den Namen mit Recht. Stefanie und ich haben dich adoptiert.«

»Aber ich muss trotzdem, Vater …«

»Gleich, Liebling, gleich! Eines muss ich dir sagen … noch jemand lebt nicht mehr, der dir wohl nahegestanden hat. Wolfgang Kändler.«

»Wolfgang?«

»Ja. Ich glaube, er hat dich sehr geliebt. Sein letztes Wort war … Senta.«

»Sonderbar«, sagte sie, »ich kann mich kaum noch an ihn erinnern, und doch dachte ich einmal, dass er meine große Liebe wäre.«

Jedes Mal, wenn an der Wohnungstür geklingelt wurde – was selten genug vorkam, denn niemandem stand mehr der Sinn danach, Besuche zu machen, und niemand mehr hatte noch etwas zu verkaufen –, schrak Clementine Weigand zusammen. Sie hatte seit Wochen keine Nachricht mehr von ihrem Mann bekommen und wagte schon nicht mehr auf ein Lebenszeichen zu hoffen. Während die Schlacht an der Somme tobte, hatten allzu viele Frauen, die sie kannte, die kurze Mitteilung erhalten, dass ihr Mann, Bruder oder Sohn auf dem Felde der Ehre, wie es hieß, gefallen sei.

Auch jetzt wartete sie bis zum dritten Läuten, ehe sie sich entschloss, an die Tür zu gehen. Es war ein regnerischer Nachmittag, und sie war nahe daran, Nils oder Karl-Friedrich öffnen zu lassen. Wenn aber eine schlimme Nachricht kommen würde, müsste doch sie sie in Empfang nehmen. Frau Schirke war, krank durch die schlechte Ernährung und nicht mehr arbeitsfähig, längst entlassen worden, und Clementine versorgte den Haushalt allein. Was war auch schon noch zu tun – es gab kaum etwas zu essen, keine Seife zum Waschen und keinen Zwirn, um zerrissene Kleidungsstücke zu flicken!

Es klingelte ein viertes Mal, diesmal noch lauter und noch energischer.

Clementine riss mit einem Ruck die Tür auf. Vor ihr stand Senta in einem einfachen Sommerkleid aus blauem Kattun – sie hatte es sich aus einem Schwesternstoff geschneidert –, ein Tuch um die Schultern, die kastanienbraunen Locken kurz geschnitten.

Sie grüßte mit beherrschter Stimme.

»Was hast du mit deinem Haar gemacht?«, entfuhr es Clementine.

Im gleichen Augenblick empfand sie, dass dies nach Jahren der Trennung ein reichlich seltsamer Empfang war. »Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht kränken, aber es ist das erste Mal, dass ich ein Mädchen mit kurzen Haaren sehe.«

Clementine reichte ihr die Hand. »Bitte, komm herein. Ich bin sehr froh, dich wiederzusehen. Anbieten kann ich dir leider nichts, denn wir haben nichts. Doch wenn du wieder hier wohnen willst …«

»Nein, danke.« Jetzt musterte Senta die andere.

»Ja«, sagte Clementine, »ich erwarte ein Kind.«

»Nicht gerade der günstigste Zeitpunkt dafür.« Senta blieb gleichmütig.

»So etwas sucht man sich nicht aus, Senta. Es geschieht. Oder nicht. Aber ich bin trotz allem froh. Ich bin jetzt Anfang Vierzig. Es ist wohl meine letzte Chance.«

»Es wird bestimmt alles gut gehen«, erklärte Senta mit einem berufsmäßigen Optimismus, den sie von den Diakonissen für die Kranken und Schwerverwundeten gelernt hatte.

»Die Jungen werden sich freuen, dich zu sehen«, sagte Clementine, »von meinem Mann kann ich dir leider nichts berichten. Die letzte Nachricht …«

Senta fiel ihr ins Wort. »Ich weiß, wo Vater ist«, sagte sie, »deshalb bin ich ja gekommen.«

Unwillkürlich presste Clementine beide Hände gegen das Herz. »Ist er …«

»Er ist verwundet, aber …«

»Du brauchst mich nicht schonend vorzubereiten, Senta, ich bin auf das Schlimmste gefasst!«, erklärte Clementine. Tatsächlich hatte sie die Minute, in der sie von dem Tod ihres Mannes erfahren würde, in ihrer Phantasie schon mehr als tausendmal durchlebt.

»Nein, nein, es ist ganz anders, Tante Tina«, sagte Senta rasch, »es geht ihm schon wieder besser. Wirklich, du darfst es mir glauben! Er muss zwar noch einige Wochen liegen, aber …«

Clementine packte das junge Mädchen bei den Schultern. »Woher weißt du das so genau?«

»Ich arbeite in der Charité als Schwesternhelferin«, sagte Senta knapp. »Vater ist dort eingeliefert worden.« Sie sah Clementines erstaunten Blick. »Du hast dir mein Leben anders vorgestellt.«

»Ja«, gab Clementine zu, »ich habe dir unrecht getan.«

»Vergiss es. Ich habe mich damals verrückt genug benommen.«

»Kommst du wieder zurück?«

»Wenn der Krieg aus ist, vielleicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Jedenfalls weiß ich jetzt, wer ich bin.«

»Ich hätte es dir nicht sagen sollen.«

Senta lächelte. »Einmal musste ich es ja erfahren, nicht wahr? Aber du solltest aufhören, mich als … als Rivalin zu betrachten. Vater sieht in mir seine Tochter. Du bist seine Frau.«

»Wenn er nur wieder ganz gesund würde!«

»Das wird er!«

Die beiden Frauen waren in den Salon getreten, und ehe Clementine die Jungen noch auf den Besuch aufmerksam machen konnte, hatten sie Senta schon erkannt. Sie sprangen auf.

»Senta! Wo hast du denn gesteckt, Mädchen?«, rief Karl-Friedrich. »Ich wette, du warst ’ne Art Marketenderin bei der Truppe!«, krähte Nils. »Ein Glück, dass du wieder da bist, du warst immer so ein guter Blitzableiter!«

»Stimmt«, sagte Karl-Friedrich, »jetzt hat Mutter endlich wieder jemand anderes, mit dem sie zanken kann.«

Senta küsste die beiden Jungen. Sie merkte aber, dass sie es nicht allzu gerne hatten. »Ganz schön frech seid ihr«, sagte sie und gab jedem einen freundschaftlichen Klaps. »Ihr seid groß geworden! Richtige Männer!«

Nils, blass und dünn wie ein Spargel, reckte sich. »Sobald ich sechzehn bin«, erklärte er, »werde ich mich als Freiwilliger melden!«

«Dich nehmen sie ja nicht. Du bist viel zu dürre.« Karl-Friedrich grinste.

»Er hat eine schwere Lungenentzündung durchgemacht«, erklärte Clementine, »ich habe es Justus gar nicht geschrieben. Ich wollte ihn nicht beunruhigen.«

»Wie lange wird es noch dauern, Senta«, fragte Nils, »bis wir es unseren Feinden richtig gegeben haben? Ich sitze in einer Zwickmühle, weißt du. Einesteils möchte ich, dass sie bald die Nase voll haben, und andererseits wäre ich beim Sieg zu gerne noch dabei.«

Senta sah über die Köpfe der Jungen in Clementines blasses, gequältes Gesicht. »Das verstehe ich«, sagte sie ruhig, »trotzdem solltest du solche Reden nicht vor deinem Vater führen, denn …«

»Kommt Vater auf Urlaub? Kommt er zurück?«, riefen beide Jungen.

»Er liegt verwundet in der Charité, und ihr könntet ihn dort mit eurer Mutter besuchen. Aber ihr dürft ihn auf keinen Fall mit eurem Gerede aufregen. Er hat übrigens das Eiserne Kreuz erster Klasse.«

»Wann kann ich ihn besuchen?«, fragte Clementine.

»Frühestens nächste Woche. Ich bin nur heute schon gekommen, damit du weißt, wie es um ihn steht. Und am besten kommst du dann erst einmal allein. Er ist noch ziemlich schwach.«

»Wenn er nur wieder da ist«, sagte Clementine inbrünstig.

»Ja, das ist wunderbar«, bestätigte Senta.

Die beiden Frauen sahen sich an und wussten, dass es zwischen ihnen ein unzerreißbares Band gab: ihre Liebe zu Justus Weigand.

Justus Weigand blieb bis zum Herbst 1918 in der Charité. Es hatte sich herausgestellt, dass sein rechtes Bein, das er, als er vom Explosionsdruck zu Boden geschleudert worden war, gebrochen hatte, schlecht eingeschient worden war – man hatte im Feldlazarett auf den scheinbar schon zum Tode Verurteilten nicht allzu viel Sorgfalt verwandt.

Professor Gerstner, der Orthopäde der Charité, bestand darauf, es noch einmal zu brechen und neu einzuschienen.

»Sie versäumen ja nichts, Herr Kollege«, tröstete er Justus. »Im Gegenteil. Je länger Sie ihren Kopf waagerecht halten, desto besser wird das auch für Ihr durcheinandergeschütteltes Hirn sein.«

Justus Weigand hatte durchaus keine Lust, ein Krüppel zu bleiben. So ließ er die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Sentas Nähe war ihm dabei ein Trost.

Das Mädchen verbrachte jede freie Minute an seiner Seite. Selten genug. Noch tobte die Schlacht im Westen, immer neue Verwundete wurden eingeliefert, und selbst auf den Gängen standen die Betten so dicht, dass man sich kaum hindurchwinden konnte. Senta tat ihr Bestes. Wie alle anderen Ärzte, Schwestern und Helferinnen. Die Damen der Gesellschaft schauten sporadisch herein, manche voll besten Willens, aber meist bald doch tief verstört von den Schreien und dem Stöhnen der Schwerverletzten und durch den ekelhaften, durchdringenden Geruch nach Blut, Eiter, faulendem Fleisch und Lysol abgeschreckt.

Clementine, die sich vorgestellt hatte, dass sich Senta ausschließlich um Justus Weigand kümmern würde, war erschüttert, als sie beobachtete, wie das Mädchen unermüdlich hierhin und dahin lief, Nachtschüsseln ausleerte, Verbände wechselte und den nach Schweiß und Verwesung stinkenden Männern die Temperatur maß.