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Über dieses Buch:

„Sein Kuss war zart, wie ein Hauch nur. Doch Sabines Herz wurde weit vor Glück und Sehnsucht.“

Schon Casanova sagte, die Liebe sei göttlich … und beschwerlich. Dass der Weg zum großen Glück manchmal über Umwege führt, zeigt auch Nora Darius in ihren zauberhaften Erzählungen – mal traurig, mal witzig, immer bewegend.

Über die Autorin:

Nora Darius hat lange als Lektorin in verschiedenen Verlagen gearbeitet. Heute lebt sie als freie Autorin im Rheinland und geht mit Begeisterung ihrem Hobby nach, dem Reisen. Bisher schrieb sie über 700 Kurzgeschichten, zahlreiche Drehbücher,  Taschenbücher und Kurzromane und erreichte eine Gesamtauflage von über einer Million.

Bei dotbooks erscheinen auch:
Das Glück kommt manchmal unverhofft
Die Sprache der Liebe
Weil du mich verzaubert hast
Himbeerküsse mit Minze


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Originalausgabe Februar 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Agentur Mitte, Berlin

Titelbildabbildung: Svetl – Thinkstock

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-541-9

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Nora Darius

Schmetterlingsküsse

Romantische Kurzgeschichten

dotbooks.

Abenteuer in Andalusien

Dies war der dritte Film, den Dennis Piper und Esther Herbst gemeinsam drehten – er als Regisseur, sie als Hauptdarstellerin. Soweit herrschte Klarheit. Ansonsten war ihre Beziehung schwer zu definieren.

In der Regel wurden sie gemeinsam eingeladen, und da keiner von ihnen verheiratet war, galten sie als Paar im gesellschaftlichen Sinne.

Was sie tatsächlich miteinander verband, war eine gewisse gemeinsame Wellenlänge, nicht mehr, nicht weniger. Für eine Affäre zu wenig, für eine reine Freundschaft zu viel.

Im frühen Sommer drehten sie in einer besonders öden und trostlosen Gegend Andalusiens. Endlos dehnten sich die Tage unter dem hitzeflirrenden Himmel, während die Nächte in Sevilla zu kurz waren. Man kam, wie Dennis missgestimmt feststellte, so gut wie nie zur Ruhe. Vor neun Uhr abends setzte sich kein Mensch zum Essen, vor Mitternacht stand keiner von der Tafel auf, und danach ging es überhaupt erst los, mit Musik und Tanz und Fässern voll dunkelrotem Wein und einem bitteren, schwarzen Kaffee irgendwo im Morgengrauen.

»Ich frage mich, wer das aushält«, stöhnte Dennis, dem der Lebensrhythmus der Südländer spürbar auf die Nerven fiel.

»Sieh mich an«, entgegnete Esther heiter. »Ich halte es sehr gut aus. Mir gefällt’s!«

In der Tat, sie lebte förmlich auf. Sie hatte sich ein echtes Flamenco-Kostüm gekauft, das ihr zauberhaft stand. Allnächtlich schlug sie das Tamburin, klapperte mit Kastagnetten und tanzte auf den Tischen. Der Beifall prasselte nur so. Sevilla lag ihr zu Füßen. Sie war die ungekrönte Königin der Nacht.

Morgens aber, und das erbitterte Dennis ganz besonders, stieg sie wie Phönix aus der Asche und schwebte ins Taxi, das sie zum Drehort brachte, frisch wie eine sommerliche Brise, das blonde Haar straff zurückgekämmt, das schöne, schmale, junge Gesicht faltenlos, sonnenbraun und ohne jedes Zeichen von Müdigkeit.

Er dagegen saß unausgeschlafen mit revoltierendem Magen neben ihr und kam sich eine Nummer zu klein vor.

Das lag nicht nur an der spanischen Küche, die er nicht sonderlich schätzte, es lag in der Hauptsache an der spanischen Gesellschaft, die mit Esther den reinsten Kult trieb.

Ihr spezieller Verehrer war Marques von Monteverde, kurz Joaquin genannt, der hochgewachsen war, ein kühnes Profil hatte und einen beneidenswerten Teint. Als sei dies alles noch nicht genug, verfügte er zudem über einen geradezu legendären Reichtum und Einfluss. Er gehörte zu den ältesten Adelsfamilien des Landes, und man hatte den Eindruck, dass südlich von Sevilla ohne seine Zustimmung überhaupt nichts geschah.

»So was sollte verboten sein«, giftete Dennis.

»Was meinst du?«, fragte Esther.

»Dieser ganze feudale Klüngel! Er passt nicht mehr in unsere Zeit!«

»Statt dich so aufzuregen«, versetzte Esther aufreizend vernünftig, »solltest du dich lieber freuen, dass wir in diesen gehobenen spanischen Kreisen so gut ankommen.«

»Wir?«, fragte der Regisseur.

»Jawohl, wir. Oder sind wir nicht alle beide fürs Wochenende aufs Landgut der Monteverdes eingeladen?«

Das stimmte leider.

»Uns zu Ehren«, fuhr Esther in ihrer nicht zu bremsenden Begeisterung fort, »wird extra eine Tienta veranstaltet, falls du weißt, was das ist.«

Dennis, 35 Jahre alt, hatte bereits etliche Filme in diesen Breiten gedreht und sich für seinen Geschmack viel zu oft und viel zu lange in Andalusien aufgehalten. Er beherrschte die Sprache, er kannte Sitten und Gebräuche, und folglich wusste er auch, was eine Tienta war. Im Geiste setzte er sie als ersten Punkt auf die Liste all dessen, was er verabscheute.

Hätte sich nicht sein ganzes Inneres dagegen gesträubt, Esther diesem andalusischen Edel-Hallodri schutzlos preiszugeben, er hätte das Wochenende liebend gern in seinem Hotelzimmer verbracht, einen Krimi gelesen, ein kühles Bier getrunken, die Jalousien heruntergelassen und sich ausgeruht.

Wie die Dinge lagen, schien ihm dies jedoch nicht geraten. Esthers Ahnungslosigkeit, die sie auch noch für Vorurteilslosigkeit hielt, war fatal. Ihre Lebensfreude wurde mit Sicherheit missverstanden, wenn nicht gar schamlos ausgenutzt. Also brauchte sie einen männlichen Begleiter. Und das konnte nur Dennis sein!

»Nun, was ist denn eine Tienta?«, hörte er Esther aufmerksam fragen.

»Hat’s dir Don Joaquin nicht erklärt?«

»Nein, hat er nicht. Ich glaube, es soll eine Überraschung werden.«

»Na, dann lass dich doch überraschen!«

»Mir wäre es lieber, ich wüsste vorher Bescheid, schon damit ich mich richtig anziehe.«

»Das ist natürlich wahnsinnig wichtig!«, höhnte Dennis, um dann ernsthaft fortzufahren: »Eine Tienta ist ein äußerst zweifelhaftes Vergnügen.«

»Wieso?«

»Man testet die weiblichen Kälber auf ihren Mut und auf ihre Eignung, später tüchtige, forsche Kampftiere zur Welt zu bringen. Aber keine Sorge, du brauchst die angehenden Kühe nicht abzustechen. Die armen Dinger werden nur ein bisschen gepiekst.«

»Na, so was«, stieß Esther verblüfft hervor. »Und wie kommst du darauf, dass ich das tun könnte?«

»Weil es von dir und allen anderen privilegierten Gästen erwartet wird.«

»Woher weißt du das?«

»Weil dies nicht meine erste Tienta ist, Schätzchen«, versetzte Dennis grimmiger als beabsichtigt, »aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit meine Letzte.«

»Und was«, erkundigte sich Esther nach einer kleinen nachdenklichen Pause nochmals, »zieht man zu dieser außergewöhnlichen Gelegenheit an?«

»Frag nicht mich, Esther, frag seine Frau. Die dürfte in Garderobefragen kompetent sein.«

»Wessen Frau?«

»Don Joaquins Frau. Die Marquesa von Monteverde«, erwiderte er mit bitterer Ironie.

»Du meinst, es gibt eine? Ist er verheiratet?«

»Aber ja! Wusstest du das nicht?«

»Nein«, murmelte Esther mit einer Stimme, die flach war vor Verwunderung, »ich kann mich nicht daran erinnern, dass er diese Tatsache auch nur angedeutet hätte.«

»In diesem Land erkennst du einen Mann von wahrem Adel daran, dass er viel zu höflich ist, in Gegenwart einer schönen Frau von einer anderen zu sprechen – und sei es auch nur seiner eigenen«, meditierte Dennis.

Zum ersten Mal, seit sie im spanischen Hochadel verkehrte, warf ihm Esther einen zutiefst unsicheren Blick zu. Sie wusste offenbar nicht genau, woran sie war – weder mit ihm noch mit Don Joaquin.

Du wirst schon noch dahinterkommen, dachte Dennis, aber er sprach es nicht aus.

***

Das Landgut war ein weiträumiger Bau mit tiefen Fensternischen, lauschigen Patios und künstlich bewässerten Blumenkulturen.

In notwendiger Distanz zum Herrenhaus lagen Gesindehäuser, Pferdeställe, eine kleine Trabrennbahn und die dem großen klassischen Rund nachempfundene Mini-Arena für die heimischen Tientas.

Es war eine sehr harmonische Umgebung, in der eins zum anderen passte. Sie schien eigens gemacht für die strenge, fragile Erscheinung der Marquesa von Monteverde mit ihren fein ziselierten Zügen, den hoch gewölbten, kohlschwarzen Brauen über nachtdunklen Augen, die sie in kaum merklicher Herablassung zu senken pflegte.

Die Marquesa Mafalda von Monteverde war berühmt für das, was sie nicht sagte – und für die Freiheiten, die sie sich nicht nahm.

Geboren als Tochter eines andalusischen Großgrundbesitzers, erzogen in demselben engen, strengen Sittenkodex wie dereinst ihre Mutter, war sie mit 17 Jahren dem Sohn eines Freundes ihres Vaters vermählt worden, dem damals 25-jährigen Don Joaquin.

Niemand hatte Mafalda, die einen beträchtlichen Teil ihrer frühen Jugendjahre in der Stille eines weißen Klosters auf den Höhen der Sierra verbracht hatte, auf das eheliche Leben vorbereitet.

Und niemand fragte sie heute, da sie ihm bereits zwei Kinder geboren hatte, ob sie ihn liebe und ob er ihre Erwartungen – falls sie jemals welche gehegt hatte – erfüllt habe.

Auch er selbst wünschte dergleichen nie von ihr zu wissen. Fragen, die nie gestellt wurden, brauchten auch nicht beantwortet zu werden.

Mafaldas Worte hatten Seltenheitswert und waren daher von besonders großer Bedeutung.

Ob ihr Mann sich dessen bewusst war, stand dahin.

Er, der sich stets mit internationalem Publikum umgab, mit Politikern, Diplomaten, Künstlern, Forschern aus aller Welt – und ihren Frauen.

All diese Männer, ob sie jung waren oder alt, gut aussehend oder nichtssagend, interessant oder langweilig – alle hatten Frauen bei sich, Frauen, die mit zu Tisch saßen, mit zu Pferd ritten, mit zur Jagd gingen. Frauen, die sich kleideten wie Männer, sprachen wie Männer, rauchten wie Männer, tranken wie Männer.

Oder aber es waren Frauen, die herumtollten wie Kinder, alberten wie Kinder, neckischen Tand und kurze Röckchen trugen wie Kinder, sich närrisch aufführten wie Kinder und kicherten wie Kinder.

Mafalda, Marquesa von Monteverde, wusste nicht, wen sie mehr verachtete: die männlichen Frauen oder die kindischen Frauen. Keiner von ihnen war sie jemals in die Nähe gekommen. Mit keiner hatte sie je zu Tisch gesessen, Worte gewechselt, Erfahrungen ausgetauscht.

Gemäß der Tradition der Familie lebte Mafalda ungeachtet moderner Verkehrsmittel und Fernsehapparate abgesondert von der Welt und den Kontakten ihres Mannes. Sie hielt sich meistens im prächtigen Stadthaus am Rande von Sevilla auf, dessen herrlicher Garten mit Marmorstatuen und Springbrunnen geschmückt und mit einer mannshohen, dicken Mauer umgeben war.

Nur selten kam sie hinaus aufs Landgut, das ihr laut Ehevertrag immer noch gehörte, während alle anderen in die Ehe eingebrachten Güter in den gemeinsamen Familienbesitz der Monteverdes übergegangen waren.

Der Hausbesorgerin Elena und ihrem erwachsenen Sohn Jorge erschien die Marquesa Mafalda wie ein höheres Wesen, das gleich nach dem lieben Gott kam. Hier noch mehr als im Stadthaus wurde sie verehrt wie eine Heilige.

Zwei Tage vor dem Tienta-Wochenende traf Mafalda auf dem Landgut ein.

Joaquin hatte angedeutet, dass er ein glanzvolles Fest wünsche, großzügig und ungezwungen nach außen hin, von innen her straff organisiert und ohne Pannen.

Gemeinsam mit Elena und Jorge besprach Mafalda das Programm.

»Wie viele Gäste werden erwartet?«, erkundigte sie sich.

»Man hat uns gesagt, zwölf«, erwiderte Elena.

»Zwölf Hausgäste«, wiederholte Mafalda, »das deckt sich mit meinen Informationen. Was ist an Vergnügungen vorgesehen?«

»Reiten im Gelände, Gitarrenmusik am Abend und Tientas an beiden Nachmittagen, sobald die Sonne sinkt.«

Mafalda nickte nur. Dann wandte sie sich an Jorge, der bis jetzt in stummer Ergebenheit neben seinem Stuhl gestanden hatte.

»Wie sind unsere jungen Stiere in diesem Jahr?«, fragte Mafalda. Ihre Stimme war eher spröde, aber in seinen Ohren klang sie melodisch wie Engelsmusik.

»Besonders kräftig«, brachte er heiser vor Stolz und Erregung hervor, »wir hatten eine gute Regenzeit, die Weiden sind fett wie selten.«

Seit seiner frühen Jugend züchtete Jorge für die Monteverdes ihre berühmten Kampfstiere, die später in den großen Arenen auftraten, um von ebenso berühmten Matadoren getötet zu werden.

»Das höre ich gern«, sagte Mafalda, schenkte ihm ein Lächeln und bedeutete mit einer sparsamen Handbewegung, dass die Audienz beendet war, was Jorge betraf.

Er ging, und Mafalda trat ans Fenster, um den bereits eingetroffenen Gästen ihre verachtungsvolle Aufmerksamkeit zu widmen.

Eine blonde Schönheit in komplettem Torero-Look – grau-schwarz gestreifte, taillierte Hose, gefaltetes weißes Hemd mit Bolerojacke darüber, grauer, flacher Sombrero auf dem Kopf, rohlederne Stiefelchen an den Füßen – missfiel der Marquesa von Monteverde auf den ersten Blick.

»Wer ist das?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

»Es wird die deutsche Schauspielerin sein«, erwiderte Elena.

»Der Mann mit dem viel zu langen Haar und dem starken Sonnenbrand – wer ist das?«

Elena blickte nur kurz durchs Gitterwerk des Fensters. »Es heißt, er ist der Regisseur.«

»Was du nicht sagst«, murmelte die Marquesa. »Ich hätte gedacht, er sei ihr Chauffeur.«

Draußen sank die Sonne. Der Gastgeber und seine Gäste versammelten sich unter lautem Lachen und Olé-Rufen an der Freiluft-Bar, die im Hof aufgebaut war.

»Bring mir einen Kaffee, Elena.«

»Sofort, Señora.«

Die Frage, ob die Marquesa Mafalda de Monteverde an der Tienta teilzunehmen gedenke und später mit den Gästen zu Tisch ginge, erübrigte sich. Dergleichen war nie vorgekommen, und es war absolut unvorstellbar, dass es jemals vorkommen würde.

***

Die Stimmung an diesem Spätnachmittag war bombig.

Unbestrittener Star der Darbietung war Esther Herbst, die als Erste in den Ring stieg und schon dafür heftig beklatscht wurde.

Langsam, aus dem Handgelenk heraus, schwang sie das rote Tuch, während das Kalb mit seinen nadelspitzen Hörnern brüllend herangaloppierte. Aber schon trat der Gastgeber auf, sehr attraktiv wirkend in seiner schwarz-weißen Kleidung mit einer breiten Schärpe um die Taille.

Sein Cape schwenkend, lenkte er das Kalb hinreichend ab, sodass die schöne Torera noch Zeit hatte, anmutig über die hölzerne Barrikade zu klettern. Der Beifall wollte gar nicht enden, denn immerhin wog das Kalb vier Zentner und sah nicht gerade harmlos aus.

Angeregt durch den großartigen Anfang, den Esther Herbst gemacht hatte, folgten die anderen Gäste teils zögernd, teils übermütig ihrem Beispiel.

Nur Dennis Piper blieb seelenruhig auf seinem Klappstuhl sitzen, schlürfte einen Drink und machte nicht die geringsten Anstalten, sich an dieser Volksbelustigung zu beteiligen.

»Nun, Señor Piper«, meinte der Marques und lächelte, »was ist mit Ihnen? Sie sind an der Reihe.«

»Nein, danke«, entgegnete Dennis bescheiden, »kein Bedarf.«

»Aber Sie wollen doch nicht – wie sagt man in Ihrer Sprache? – kneifen?“

»Doch, genau das will ich.«

»Ich hoffe, dass Ihnen wenigstens mein Whisky schmeckt, wenn ich Ihnen schon kein sportliches Vergnügen bieten kann«, erwiderte der Marques nicht ohne Schärfe.

Dennis lächelte unbekümmert weiter. „Na ja, es geht“, seufzte er.

Später, als die Bar um ein riesiges Büfett erweitert worden war, machte Esther ihrem Unmut halblaut Luft.

»Du benimmst dich einfach unmöglich«, raunte sie, ihren und Dennis’ Teller mit Schinken und Melonenscheiben füllend. »Man hat den Eindruck, als sei dir nichts gut genug! Wir sind hier zu Gast!«

»Leider! Ich weißt gar nicht, wie es dazu kommen konnte, dass ich diesem arroganten Kerl die Ehre meiner Anwesenheit zukommen lasse. Ich finde ihn unerträglich.«

»Dennis!«

»Außerdem ist er lästig wie eine Schmeißfliege!«

»Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Man könnte denken, du seiest eifersüchtig.«

»Unsinn.«

»Stimmt. Das wäre wirklich unsinnig. Sei also nicht kindisch, Dennis! Joaquin tut doch nichts, das irgendjemanden erbittern könnte. Nichts!«

»Nichts nennst du das? Er tänzelt um dich herum wie ein Gigolo, und jedes Gespräch, das er beginnt, endet unweigerlich bei dir!«

»Das stimmt. Aber … ich kann’s doch nicht ändern.«

»Da hast du ausnahmsweise ein wahres Wort gesprochen. Spanien hängt mir zum Halse raus. Da, dein Marques ist schon wieder im Anmarsch. Wetten, dass er dein Schlafzimmer im anderen Flügel vorgesehen hat als meines?«

»Jetzt wirst du geschmacklos«, zischte Esther und schaltete bereits um aufs strahlende Gute-Laune-Lächeln, weil Don Joaquin ihr ein Glas mit Oliven reichte.

»Danke! Lieb von Ihnen!«

Er neigte leicht den Kopf und wandte sich an Dennis. »Bitte – nehmen Sie auch!“

»Aber nein, nein, niemals«, gab Dennis in komischer Verzweiflung zurück, »sie sind mir zu schwarz und zu fett!«

Ein Blick aus Esthers Augen sagte ihm, wofür sie ihn hielt.

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte er und hob beide Hände, als müsse er einen bösen Geist abwehren, »ich bin unerzogen, rüpelhaft, rüde und deiner nicht wert!«

Im Übrigen behielt er recht: Bei der Zimmerverteilung, die kurz danach stattfand, erhielt er eines im linken und Esther eines im rechten Flügel des Hauses.

»Und wenn schon!«, ereiferte sich die junge Frau bei einem letzten gemeinsamen Glas, das sie sich an der Bar einschenken ließen. »Wir sind ja schließlich nicht miteinander verheiratet, du und ich.«

»Wir nicht, du und ich«, erwiderte Dennis düster, »aber er und die Marquesa sind es. Daran dürfte wohl kein Zweifel bestehen. Hast du sie gesehen?«

»Seine Frau?« Esthers blaue Augen weiteten sich.

»Ja. So viel ich weiß, hat er nur eine.«

»Ist sie etwa hier?«

»Und ob!«

»Aber warum kommt sie dann nicht heraus zu uns?«

»Weil sie nicht darf, Schätzchen. Dies ist nicht Berlin oder New York, und sie ist nicht die Frau eines Domestiken. Sie ist die Marquesa, und die hält der liebe Marques in weiser Voraussicht schön unter Verschluss.«

Esther leerte schweigend ihr Glas und stellt es auf die Bar. »Egal«, gähnte sie, »es war ein langer, aufregender Tag, und ich bin hundemüde. Außerdem kann ich mich nicht mit den Emanzipationsproblemen der spanischen Adelsdamen herumschlagen. Mir reichen schon meine eigenen. Schlaf gut, Dennis.«

»Und träume süß«, murmelte er, »mir ist’s noch zu früh. Ich nehme noch einen zur Brust.«

***

Der Sonntagmorgen zog strahlend herauf. Die Gäste tummelten sich am Frühstücksbüfett, das unter einer Markise angerichtet war.

In der Ausfahrt stand ein Wagen voll schwarz gekleideter Gestalten. Langsam rollte er davon.

»Wer war das?«, fragte Esther, die mit Dennis einen kleinen Spaziergang durch den zauberhaften Garten machte.

»Es wird die Marquesa gewesen sein mit ihrem Gefolge auf dem Weg zur Sonntagsmesse.«

Wie zur Bestätigung begannen in der Ferne Glocken zuläuten.

»Wieso weißt du immer alles?«, fragte Esther voll widerstrebender Bewunderung.

»Ich bin eben viel herumgekommen«, erwiderte Dennis beiläufig. »Wie hast du übrigens geschlafen?«

»Ausgezeichnet.«

»Störungsfrei?«

»Vollkommen. Was willst du damit andeuten?«

»Nichts. Vergiss es.«

»Wenn du etwa glauben solltest«, ereiferte sich Esther, die ein sonnengelbes Trägerkleid und schweren Goldschmuck trug, »dass der Marques mir während der Nacht irgendwelche plumpen Avancen gemacht hat, so irrst du dich gründlich. Und außerdem unterschätzt du ihn.«

»Inwiefern?«

»Weil er, falls er wirklich solche Absichten hätte, viel subtiler und sensibler vorgehen würde.«

»Ach so! Und woher kommt dir solches Wissen?«

Esther strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Nicht nur du bist viel herumgekommen, mein Lieber«, sagte sie milde, »auch ich habe nicht unterm Glassturz gelebt bisher.«

»Da haben wir ja nach langer Zeit mal wieder etwas Gemeinsames entdeckt«, konterte Dennis frostig. »Findest du nicht, dass die Klunker etwas zu pompös sind für ein Frühstück auf dem Lande?«

Esther fuhr sich unwillkürlich an den Hals.

»Ich hätte es nicht erwähnt«, fuhr Dennis maliziös fort, »aber in Anbetracht eines so sensiblen Menschen solltest vielleicht auch du zu subtileren Methoden übergehen. Da kommt er ja auch schon, eine voll erblühte Rose in der Hand! Herrje, und auch noch gelb, passend zu deinem Kleid! Schon ein Glück, dass die Marquesa in der Kirche ist!«

»Du bist ein Scheusal«, raunte Esther, während sich Don Joaquin mit schlendernden Schritten entlang einer Reihe üppig blühender Bougainvillea näherte, sein übliches gewinnendes Lächeln um die Lippen.

***

Die vorherrschende Farbe des späten Nachmittags war Gold. Golden schimmerte der Sand in der Arena. Golden strahlte die Sonne aus westlichem Winkel. Golden erglänzte das Haar der Señorita Esther Herbst, als sie sich von ihrem Zuschauerstuhl erhob und unter prasselndem Beifall ins Rund der Arena hinabstieg.

Der Gastgeber, mit routinierter Grandezza, schulterte das Cape und ließ sich noch einmal nieder. Sein Einsatz kam erst später.

Hinter den kunstvoll verzierten Fenstergittern stand unbeweglich die Marquesa Mafalda. Über ihrem Gesicht lag ein Hauch von Spannung. Ihre Finger spielten mit den Fransen der Spitzenmantilla.

Auf seinem Klappstuhl schaukelte Dennis Piper gelangweilt hin und her, während ein Stückchen Eis auf dem Grund seines Glases sich langsam auflöste.

Noch ein solches Wochenende in diesem Zirkus, dachte er, und ich werde zum Säufer.

In diesem Augenblick öffnete sich polternd die Tür des Kälberverschlages. Aber was da mit geballter Kraft herausgestürmt kam, war kein Kalb. Es war ein ausgewachsener, starker Stier mit ungefeilten Hörnern, schnaubend, buckelnd, gereizt.

Ein Schrei, schrill und hysterisch, stieg aus dem Publikum auf. Das Glas mit dem zerronnenen Eis knallte neben dem Klappstuhl auf einen Stein und zerbarst in tausend Scherben.

Gebannt, wie unter schrecklichem Zwang, verharrte der Marques Joaquin de Monteverde in Reglosigkeit.

Die Hand, mit der Esther Herbst das rote Tuch hielt, schwebte in der Luft. Aus der anmutigen Bewegung wurde eine verzweifelt groteske Gebärde.

Der Stier senkte die Hörner und kam auf sie zu. Bis an den Rand wich Esther aus. Die Augen voller Entsetzen aufgerissen, klammerte sie sich an die hölzerne Barriere, unfähig, die Hände zu ergreifen, die jemand von oben nach ihr ausstreckte.

Der Stier brüllte.

»Gib mir das verdammte Tuch!«, rief Dennis, als er mit einem kühnen Sprung neben Esther zu Boden ging.

Sie ließ es fallen.

Der Stier hielt inne, machte eine ungelenkte Drehung und widmete seine Aufmerksamkeit dem neuen Eindringling.

»Hau ab, Esther!«, keuchte Dennis.

Blind vor Tränen tastete sie nach den Händen, die sich ihr entgegenstreckten. Mit letzter Kraft kletterte sie die steile Wand empor.

Ihr Kostüm war seitlich aufgeschlitzt. Aus einer Schulterwunde blutete sie. Die Augen blickten starr und ausdruckslos.

»Sie hat einen Schock!«, sagte jemand neben ihr – Esther hörte es nicht.

»Dennis!«, rief sie mit fremder hoher Stimme. »Dennis, wo bist du?« Und immer wieder, noch im Krankenwagen flüsterte sie: »Dennis, Dennis! …«

***

An den schweren Tisch mit den Löwentatzen-Füßen gelehnt stand Joaquin von Monteverde und sah seiner Frau ins verschlossene Gesicht.

»Es war Mord«, sagte er. »Ich werde Jorge verhaften lassen.«

»Das wirst du nicht tun«, erwiderte Mafalda ruhig.

»Oh doch! Es sei denn, jemand hat ihm diese Tat befohlen.«

»An wen denkst du dabei, Joaquin?«

»An dich, Mafalda. Hast du es ihm befohlen?«

Sie schüttelte langsam und mit Nachdruck den Kopf.

»Dann ist er schuldig.«

Die filigranzarten Finger der Marquesa lösten sich aus dem Spitzenstoff der Mantilla. »Nein, das ist er nicht. Er gehört zu denen, die mir meine Wünsche von den Augen ablesen. Die alle Worte verstehen, auch die unausgesprochenen.«

Der Marques schloss wie betäubt die Augen. »So ist das also«, sagte er tonlos. »Du hast der Señorita Esther den Tod gewünscht?«

»Ja, mit aller Kraft.«

»Dann bete, Mafalda, bete mit derselben Kraft, dass der Deutsche überlebt.«

»Er wird überleben.«

»Wie kannst du das sagen?«, stieß der Marques hervor.

»Weil ich es weiß.«

»Und woher kommt dir dieses Wissen?«

»Ihm habe ich den Tod nicht gewünscht«, sagte sie mit klarer, unpersönlicher Stimme, »deshalb wird er überleben.«

Don Joaquin starrte seine Frau an, als habe er sie noch nie gesehen.

»Das alles wird sich herumsprechen«, murmelte er matt.

»Ich hoffe es.«

»Warum, um Gottes willen?«

»Mir kann es nur recht sein, wenn die Leute munkeln, dass man nicht ungestraft mit dem Marques von Monteverde flirtet.«

Joaquin sank auf seinen Stuhl. »Ich wusste nicht, dass es dir etwas ausmacht.«

»Es hat mir sehr viel ausgemacht. Es hat mich entwürdigt und gedemütigt.«

»Aber es hat kein Gewicht! Es hat nichts mit dir zu tun, nichts mit der Familie!«

»Das ist ein Irrtum, Joaquin. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du ihn erkennen.«

»Das Leben eines Mannes ist vielschichtiger als das der Frau, Mafalda.« Seine Stimme hatte jetzt wieder einen belehrenden Tonfall angenommen.

»Daran glaube ich nicht mehr, seitdem ich diese fremden Frauen beobachten konnte.« Die schöne Frau behielt die Ruhe, sie sah ihn allerdings nicht an, als sie mit ihm sprach.

»Mit denen hast du nichts gemeinsam, Mafalda«, stieß er hastig hervor.

Sie nickte vor sich hin. »Nicht mehr«, murmelte sie versonnen, »nicht einmal dich.« Und mit einem Lächeln, das ihm das Herz zerriss, fügte sie aufatmend hinzu: »Ich teile dich nicht, Joaquin. Du bist alles, was ich habe, und etwas anderes habe ich nie gewollt.«

***

Sie lagen im gleichen Hospital in Sevilla, Esther Herbst und Dennis Piper. Sie auf der chirurgischen Abteilung, er auf der Intensivstation.

Zwischen ihnen hin und her eilte der Kameramann Robby, der sich gleichzeitig als Dolmetscher betätigte.

»Wie geht es Dennis?«, fragte Esther. »Sag mir die Wahrheit, Robby! Lebt er überhaupt noch?«

»Er vegetiert in einem Labyrinth von Schläuchen und Drähten. Aber immerhin, er lebt …«

»Was ist mit Esther?«, waren Dennis’ erste Worte, die er an seinen Kameramann richtete, als er wieder denken und sprechen konnte.

»Abgesehen davon, dass sie sich nach dir verzehrt, Chef, kuriert sie ganz erfolgreich einen Schlüsselbeinbruch aus. Dich hat der Stier auf die Hörner genommen. Wie fühlst du dich?«

»Mein Kopf scheint gelitten zu haben. Ich kann mich an fast gar nichts mehr erinnern.«

»Sei froh«, murmelte Robby.

14 Tage nach dem folgenschweren Wochenende auf dem Landgut der Monteverdes schleppte sich Esther, auf eine Krücke gestützt, durch den langen, weißen Korridor bis zum Zimmer Nummer 35.

Dort lag seit gestern Mittag Dennis, der endlich die Intensivstation verlassen hatte. Sie sank auf seine Bettkante und brach in Tränen aus.

»Du hast mir das Leben gerettet«, schluchzte sie.

»Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen. Das ist doch eher ein Grund zum Feiern«, kam es vorwurfsvoll aus den Tiefen der Bandagen, die sein Gesicht umrahmten.

»Die ganze Zeit habe ich mich gegrämt, weil ich nicht wusste, ob ich dich wiedersehe!«

»Ich glaub’s dir, Schätzchen. Du siehst richtig vergrämt aus. Zeit, dass du hier rauskommst und dich wieder über die Schminktöpfe hermachst. Wir haben einen Film zu drehen, weißt du. Und keine Tientas mehr!« Er drohte ihr mit dem Finger.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, keine mehr, ich schwör’s dir! Und keine spanischen Granden noch sonstige.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass wir zusammenbleiben sollen, du und ich.«

»Bring mir kein Opfer.«

»Aber es ist kein Opfer!«, rief sie laut und heftig. »Ich liebe dich!«

Er seufzte leise, bewegte vorsichtig den Kopf und murmelte: »Kannst ja mal versuchen, mich zu küssen. Das gehört zu einem stilvollen Heiratsantrag, den du mir doch gerade gemacht hast, unbedingt dazu.«

Sie beugte sich über ihn und berührte mit den Lippen zart seinen Mund. Seine Augen lächelten weise und wehmütig.

»Für den Anfang ganz gut, Schätzchen. Wir werden uns ranhalten und die Übung fortsetzen.«

»Ach, Dennis«, flüsterte sie, »auf was für schrecklichen Umwegen sich die Menschen finden!«

Weil Hoffnung einen Namen hat

»Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit, Kollegin?« Oberarzt Dr. Assmann hielt Katrin mit einer knappen Handbewegung zurück. »Ich wollte die Therapie des kleinen Patrick noch einmal mit Ihnen durchsprechen.«

»Natürlich. Gern. Obwohl ich sicher bin, dass nur eine Operation dem Jungen wirkungsvoll helfen kann …«

»Ich weiß, wir sind in dem Punkt zwar einer Meinung, aber ich hab doch noch Bedenken. Das Risiko ist einfach riesengroß. Und das wissen Sie so gut wie ich.« Er lächelte ihr zu, und wieder einmal wurde Katrin bewusst, dass Dr. Bernd Assmann nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern auch ein besonders gut aussehender Mann war. Ein Mann, der sie mochte, der ihr auf sehr zurückhaltende, diskrete, doch unübersehbare Weise immer wieder zu verstehen gab, dass er mehr in ihr sah als eine kompetente Kollegin.

Sie gingen hinüber in das Büro des Oberarztes, diskutierten den Fall des kleinen Jungen, der sich durch einen Sportunfall zwei Rückenwirbel angebrochen hatte, noch einmal intensiv durch.

»Ich finde, Sie sollten es riskieren«, sagte Katrin und sah den dunkelhaarigen Mann eindringlich an. »Es ist kein geringes Wagnis, darüber bin ich mir im Klaren, aber ich weiß auch, dass Sie es schaffen werden. Und – was hat der Junge zu verlieren? Wenn der Eingriff misslingt, sitzt er ebenso im Rollstuhl wie jetzt. Wenn Sie es aber schaffen, ihm zu helfen …« Sie lächelte ihn an, und zum ersten Mal seit langer Zeit wirkte sie wirklich gelöst. »Wenn Sie den Eingriff wagen und er gelingt, machen Sie einem jungen Menschen das Leben lebenswert. Ist das nicht jedes Risiko wert?«

Dr. Assmann strich sich mit einer müden Handbewegung über die Augen. Er war sich über die Tragweite des Eingriffs voll im Klaren – mehr als Katrin, die noch lange nicht so viel Erfahrung auf diesem Gebiet besaß wie er.

»Ich will, ich kann die Verantwortung einfach nicht übernehmen. Wenn der Junge wenigstens Eltern hätte, mit denen man sich bereden kann …«

»Hat er aber nicht«, fiel ihm Katrin temperamentvoll ins Wort. »Er hat nur eine überforderte Heimleiterin, eine persönliche Betreuerin seiner Gruppe, einen Sozialarbeiter und das Jugendamt. Ist das wirklich genug für einen Achtjährigen, der vielleicht sein Leben im Rollstuhl beenden muss?«

Sekundenlang zögerte Bernd Assmann noch, dann nickte er zustimmend. »Also gut, wenn alle einverstanden sind, werde ich es wagen.«

»Wundervoll!« Spontan trat Katrin einen Schritt auf ihn zu, und es sah für einen Moment so aus, als wolle sie ihm um den Hals fallen. Doch gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt, war wieder die ernste, zurückhaltende, sachlich-kühle Kinderärztin Katrin Dressler, als die sie alle kannten.

Bernd Assmann jedoch ahnte, dass seine schöne Kollegin nicht so abweisend war, wie sie oft tat. Irgendetwas, irgendwer hatte sie einmal tief verletzt. Jetzt hatte sie einen Panzer um ihr Herz gelegt, der jeden daran hindern sollte, in ihr Innerstes zu sehen.

Aufgeschlossen, heiter und gelöst war sie eigentlich nur, wenn sie mit ihren kleinen Patienten zusammen war. Besonders der kleine Patrick mit den dunklen Wuschelhaaren und den großen braunen Augen hatte es ihr angetan.

Viel Freizeit verbrachte sie bei ihm, und auch an diesem Abend ging sie nach Dienstschluss noch einmal zu dem Jungen, setzte sich an sein Bett und erklärte:

»Dr. Assmann wird dich operieren, Patrick! Und dann wirst du hoffentlich schon bald wieder laufen können.«

»So wie vor dem Unfall?«

»Das denke ich doch.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu.

Aus seinen dunklen Augen sah der Junge sie an – und Katrin glaubte, in die Augen eines anderen zu sehen. Der Mann, der ebenso dunkle Samtaugen gehabt hatte wie Patrick, war Katrins erste Liebe gewesen.

Stefan Hollerer und sie kannten sich seit der gemeinsamen Schulzeit, waren mit den Freunden Franz, Charly und Conny eine verschworene Clique gewesen. Gemeinsam hatten Katrin und Stefan nach dem Abi ihr Studium begonnen – er Betriebswirtschaft, sie Medizin. Gemeinsam hatten sie die Zukunft geplant.

»Wir werden ein schönes Leben haben. Du als Ärztin, ich als – hoffentlich – erfolgreicher Werbemanager.« Er hatte sie zärtlich an sich gezogen. »Und auch unser Privatleben wird wunderbar und erfüllt sein, glaub mir, mein Liebling … Wir werden rasch heiraten, Kinder haben, eine große Familie gründen. Du, Sternchen, es wird wundervoll werden!«

Katrin glaubte noch heute, seine Stimme zu hören. Im Traum oder dann, wenn ihre sehnsüchtigen Gedanken ihn herbeizurufen versuchten.

Aber Stefan Hollerer war tot. An ihrem Verlobungstag hatte er sie für immer verlassen.

Beim Gedanken an das schreckliche Geschehen traten Katrin auch heute noch Tränen in die Augen. Sie sah Stefan, wie er ihr den Ring ansteckte, glaubte zu spüren, wie er sie küsste. Dann sah sie ihn übermütig vor Liebesglück auf dem Tisch tanzen, angefeuert von den Gästen, die den stets ruhigen und zurückhaltenden Stefan, der so grundsolide war, so ausgelassen gar nicht kannten.

Lange nach Mitternacht war das gewesen, und nur noch die engsten Freunde waren im Saal versammelt. Nie zuvor war Stefan so übermütig gewesen, nie zuvor in seinem Leben so taumelig vor Glück.

Und Katrin … sie hatte ihn immer nur angesehen und sich gefreut an seinem Glück, das ja auch das ihre war.

Dann kam der Heimweg. Das Auto, das in Schlangenlinien auf die heitere Schar zufuhr. Grelle Scheinwerfer, lautes Hupen.

Dann ein Schrei. Ihrer? Stefans? Sie wusste es bis heute nicht.

Das Einzige, was sie genau wusste, war, dass Stefan nicht mehr da war. In jener Nacht, die doch eigentlich die glücklichste ihres bisherigen Lebens gewesen war, hatte er sie verlassen.

»Warum bist du denn traurig, Frau Doktor?« Patricks Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen.

»Traurig?« Sie strich ihm zärtlich eine dunkle Locke aus der Stirn. »Bin ich doch gar nicht. Ganz im Gegenteil, ich freu mich jetzt schon darauf, eines Tages mit dir einen Waldlauf machen zu können.«

»Haste denn so viel Kondition?«

»Die verschaff ich mir bis dahin.«

»Wir können ja gemeinsam trainieren.« Der Junge tastete nach ihrer Hand. »Hinterher. Wenn alles überstanden ist.«

Katrin nickte nur, beugte sich über Patrick und küsste ihn kurz auf die Stirn. Er war ein so tapferer kleiner Kerl, nicht jedes Kind hätte in seiner Situation relativ ruhig und gelassen in dem großen Klinikbett gelegen.

***

Die OP-Lampen erhellten den kleinen Kinderkörper, der bis auf das Operationsfeld mit grünen sterilen Tüchern abgedeckt war. Instrumente klapperten, kurze Befehle wurden erteilt, ein paar Erklärungen gegeben. Alles wurde untermalt vom Summen des Narkosegeräts.

Mehr als zwei Stunden dauerte der Eingriff. Zwei Stunden völliger Konzentration, zwei Stunden Angst, zwei Stunden Hoffen und Bangen …

Der Chirurg arbeitete mit größter Konzentration. Jeder Handgriff war wohlüberlegt und saß. Es gab kein Zögern, keine Unsicherheit.

Als die letzte Naht gesetzt und die Wunde verschlossen war, trat Dr. Assmann vom Tisch.

»Das war’s«, sagte er knapp. Dann ging er hinüber in den Waschraum und zog sich mit einer müden Bewegung die sterile Kappe vom Haar und den Mundschutz vom Gesicht. Eine Schwester stand bereit, um ihm auch den Kittel abzunehmen und alles in eine bereitstehende Tonne zu werfen.

Katrin folgte dem Oberarzt. »Das war’s!«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Wie können Sie für diese Glanzleistung so wenig Worte haben! Sie haben einem Kind das Leben wieder lebenswert gemacht! Danke, Bernd. Ich … ich bin so glücklich!«

Und dann tat sie etwas, was ihr niemand zugetraut hätte: Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Dr. Assmann zärtlich auf den Mund.

Doch als er nach ihr greifen wollte, als er sie festhalten wollte, da hatte sie sich schon rasch umgedreht und war in einer Umkleidekabine verschwunden.

Von diesem Augenblick an war alles anders. Sie waren nicht mehr Kollegen, die sich mochten. Sie waren durch ein Band, das niemand sah, dass sie selbst aber deutlich spüren konnten, miteinander verbunden.

Immer seltener kam es vor, dass Katrin von Stefan träumte. Und als sie für ein Wochenende heimfuhr in ihre kleine Heimatgemeinde, konnte sie sogar mit den alten Freunden unbeschwert von früher reden.

»Du hast dich verändert«, stellte Conny fest. »Hast du’s endlich überwunden?«

Katrin gab keine Antwort, doch als sie ein paar Stunden später an Stefans Grab stand, spürte sie, dass Conny recht hatte: Sie hatte es endlich überwunden. Der Schmerz war einer liebevollen Erinnerung gewichen. Sie würde Stefan Hollerer nie vergessen. Nie seine stille Freude, wenn er mit dem Fotoapparat auf Motivsuche ging und etwas besonders Schönes oder Seltenes fotografieren konnte. Nie sein Lachen, seine zärtliche Fürsorge.

Aber jetzt gab es Bernd in ihrem Leben. Bernd war die Wirklichkeit – und die Zukunft …

Immer wieder seit Patricks Operation geschah es, dass sie sich wie zufällig berührten, dass sie sich anschauten, lächelten.

Aber sie sprachen noch nicht über ihre Gefühle. Bernd Assmann schwieg, weil er Katrin Zeit lassen wollte. Er wusste, sie brauchte diese Zeit, um sich über ihre Gefühle wirklich klar zu werden.

Und Katrin – nun, Katrin wollte nur zu gern glauben, dass es für sie wieder einen Menschen gab, der ihr etwas bedeute, dem sie das Wichtigste auf der Welt war.

Immer häufiger sah man die schöne Ärztin lächeln. Es war ein Lächeln, das ihr Gesicht noch schöner machte, ihre Augen strahlen ließ.

Am unbeschwertesten war sie immer dann, wenn sie an Patricks Bett saß, wenn sie mit dem Jungen lachte, scherzte, ihm etwas vorlas oder sich mit ihm unterhielt.

Wie ernsthaft ein Kind mit acht Jahren schon sein konnte! Und wie dankbar für die Zuwendung, die es hier in der Klinik erhielt!

Katrin durfte gar nicht daran denken, was sein würde, wenn Patrick wieder ganz gesund war und ins Waisenhaus zurück musste.

Sie saß gerade wieder am Bett des Jungen und spielte mit ihm Karten, als der Piepser in ihrer Kitteltasche sich meldete.

»Da ist was passiert, ich muss anrufen.« Rasch legte sie die Karten zur Seite und ging hinüber ins Stationszimmer, wo das Telefon stand.

In der Ambulanz wurde sofort abgehoben. »Hier ist Schwester Hanna. Welch ein Glück, dass Sie noch da sind, Frau Doktor. Wir haben ein kleines Mädchen hier – schwere Verbrennungen. Der junge Dr. Klausen kommt allein damit nicht zurecht, fürchte ich. Und weil Sie doch noch im Haus sind …«

»Bin schon unterwegs!«

Wenig später versorgte sie das etwa fünf Jahre alte Kind, das in einem unbeobachteten Moment einen Suppentopf vom Herd gezogen hatte.

»Die Großmutter der Kleinen hat einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie fühlt sich schuldig und klagt sich immer wieder selbst an«, berichtete Schwester Hanna. »Die Mutter ist für ein paar Tage verreist. Aber ich denke, die alte Dame ist mit der Verantwortung überfordert.«

»Und der Vater?«

»Er sitzt draußen und wartet.« Mehr sagte Hanna nicht, und Katrin, die sich jetzt ganz auf ihre kleine Patientin konzentrierte, fiel nicht auf, dass die Stimme der Schwester auf einmal anders klang als sonst.