Lew Tolstoi

Anna Karenina


Übersetzer: Hans Moser

e-artnow, 2013
ISBN 978-80-268-0049-1

Personenregister

Inhalt

Die wichtigsten Familien und Personen im Roman

Die Oblonskijs
Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonskij (genannt Stiwa), höherer Beamter
Fürstin Darja Alexandrowna Oblonskaja (geb. Schtscherbazkaja, genannt Dolly), seine Frau
Tanja Stepanowna Oblonskaja, seine Tochter
Grischa Stepanowitsch Oblonskij, sein Sohn
Lilli Stepanowna Oblonskaja, seine Tochter
Nikolaj Stepanowitsch Oblonskij, sein Sohn
Mascha Stepanowna Oblonskaja, seine Tochter

Die Karenins
Alexej Alexandrowitsch Karenin, hoher Beamter
Anna Arkadjewna Karenina, seine Frau (geb. Oblonskaja, Schwester des Stepan A. Oblonskij)
Sergej Alexejewitsch Karenin, (genannt Serjoscha) sein Sohn
Anna Alexejewna Karenina (genannt Anny), die illegitime Tochter der Anna A. Karenina und Alexej Wronskijs

Die Wronskijs
Graf Alexej Kirillowitsch Wronskij, (genannt Aljoscha), der Geliebte Anna A. Kareninas, Oberst a. D. und Großgrundbesitzer
Graf Alexander Kirillowitsch Wronskij, sein älterer Bruder
Gräfin Warja Wronskaja, seine Schwägerin
Gräfin Wronskaja, seine Mutter

Die Schtscherbazkijs
Fürst Alexander Schtscherbazkij
Fürstin Schtscherbazkaja, seine Frau
Darja Alexandrowna Schtscherbazkaja, seine Tochter (verh. Oblonskaja, gen. Dolly)
Natalia Alexandrowna Schtscherbazkaja, seine Tochter (verh. Ljwowa)
Jekatarina Alexandrowna Schtscherbazkaja, seine Tochter (verh. Ljewina, gen. Kitty)

Die Ljewins
Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, (genannt Kostja), Gutsbesitzer und Jugendfreund Stepan A. Oblonskijs
Jekatarina Alexandrowna Ljewina, (geb. Schtscherbazkaja, genannt Kitty), seine Frau
Dmitrij Konstantinowitsch Ljewin, (genannt Mitja), sein Sohn
Nikolaj Dmitrijewitsch Ljewin, sein Bruder
Wanja Nikolajewitsch Ljewin, sein Neffe
Sergej Iwanowitsch Kosnyschew, sein Stiefbruder, berühmter Schriftsteller

weitere Personen
Fürstin Betsy Twerskaja, eine Cousine von Wronskij
Gräfin Lydia Iwanowna, Dame der St. Petersburger Gesellschaft
Marja Nikolajewna (genannt Mascha), Lebensgefährtin des Nikolaj Dmitrijewitsch Ljewin

Inhalt

Personenregister
Erster Teil
      Zweiter Teil.
      Dritter Teil.
      Vierter Teil.
      Fünfter Teil.
      Sechster Teil.
      Siebenter Teil.
      Achter Teil.

9.

Zurück

Um vier Uhr verließ Lewin, das Pochen seines Herzens fühlend, den Wagen vor dem Zoologischen Garten und begab sich auf einem Nebensteig zum Berg, und der Schlittenbahn hinauf, in der sicheren Erwartung, K:ty dort zu finden, da er den Wagen der Schtscherbazkiy schon vor der Auffahrt bemerkt hatte.

Es war ein klarer, frostiger Tag. Vor der Auffahrt standen reihenweise die Equipagen, Schlitten und Landauer. Geputztes Volk, schimmernd im Glänze der Sonne in seinen Hüten, drängte sich vor dem Eingang und in den sauber gepflegten Wegen zwischen den kleinen russischen Häusern mit den geschnitzten Architraven; die alten, knorrigen Birken des Gartens, deren Geäst mit Schnee belastet war, schienen gleichsam in neue Feiertagskleider gehüllt zu stehen.

Lewin begab sich auf dem Wege hin nach der Schlittenbahn; er sprach dabei sich selbst zu, er dürfe nicht in Aufregung geraten und müsse Ruhe bewahren. Was sollte diese Aufregung? Um was handelte es sich doch? Thorheit, die Unruhe mußte verstummen! So wandte er sich an sein Herz. Aber je mehr er sich bemühte sich zu beherrschen, desto mehr Schwierigkeit verursachte es ihm, zu atmen.

Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an, aber Lewin erkannte gar nicht, wer es sei. Er ging zu den Bergen hin, auf welchen die Ketten der losgelassenen und heraufgezogenen kleinen Schlitten kreischten; Lachen und heitere Stimmen ertönten auf den hinabgleitenden kleinen Schlitten. Er trat noch näher hinzu, vor ihm lag die Eisbahn und inmitten der Masse der auf ihr sich Tummelnden erkannte er sogleich – sie.

Er erkannte, daß sie da war, an der Freude und dem Schrecken der sein Herz ergriff. Sie stand im Gespräch mit einer Dame am entgegensetzten Ende der Eisbahn. Ihr Äußeres in der Garderobe zeigte nichts besonderes, auch ihre Haltung nicht, aber Lewin war es so leicht gewesen, sie allein inmitten dieses Haufens zu entdecken, als wäre sie eine Rose unter Nesseln. Alles wurde von ihr erhellt, sie war nur ein Lächeln, das seine gesamte Umgebung bestrahlte.

»Kann ich denn hinübergehen über das Eis, zu ihr hintreten?« überlegte er. Der Platz, auf dem sie stand, erschien ihm als ein unzugängliches Heiligtum und eine Minute lang blieb er wie eingewurzelt stehen; so beängstigend überkam es ihn. Es kostete ihn alle Anstrengung, sich klar zu machen, daß rings um sie herum Menschen aller Art sich bewegten, und daß er recht gut auch hingehen könne, um mit denselben zu rollen.

Er ging hinab, es lange vermeidend, einen Blick nach ihr zu richten, – wie man die Sonne meidet – aber er schaute sie doch gleich der Sonne, wollte er sie auch nicht sehen.

Auf dem Eise hatten sich an diesem Tage der Woche und um die gegenwärtige Zeit nur Leute aus einem bestimmten Kreise, die sich sämtlich kannten, versammelt.

Da waren Meister des Schlittschuhlaufes, die mit ihrer Kunst kokettierten, Lernende, die hinter Stuhlschlitten schüchtern und ungeschickt sich bewegten, Knaben, und Greise die aus Gesundheitsrücksichten sich Bewegung machen wollten.

Sie alle erschienen Lewin als auserwählt Glückliche, weil sie dort waren, in ihrer Nähe. Alle die Fahrenden aber schienen mit völligem Gleichmut sie zu überflügeln oder einzuholen, sie sprachen selbst mit ihr, und ergötzten sich, völlig unabhängig von ihr, allein dahingegeben dem Genuß der vortrefflichen Eisbahn und des herrlichen Wetters.

Nikolay Schtscherbazkiy, der Vetter Kitys, in einem kurzen Jaquet und engsitzenden Beinkleidern, saß mit seinen Schlittschuhen an den Füßen auf einer Bank und rief beim Erblicken Lewins:

»Oho, da kommt ja der erste Schlittschuhläufer von Rußland! Bleibt Ihr lange hier? Das Eis ist ausgezeichnet, legt Schlittschuhe an!«

»Ich habe gar keine,« antwortete Lewin, verwundert über diese Kühnheit und Ungezwungenheit in ihrer Gegenwart, und ohne die Angebetete eine Sekunde aus den Augen zu verlieren, obwohl er gar nicht nach ihr hinzuschauen schien.

Da empfand er, daß die Sonne sich ihm näherte; sie war in der Ecke, aber kurz die kleinen Füßchen setzend in den hohen Stiefelchen, augenscheinlich verlegen werdend, kam sie auf ihn zu. Ein wie besessen mit den Armen in der Luft herumfuchtelnder, sich tief zur Erde beugender Junge in russischem Anzug überholte sie; sie fuhr nicht ganz sicher. Kity nahm die Hände aus dem kleinen Muff der an einer Schnur hing, hielt sie empor und lächelte Lewin in seinem Schrecken, den sie jetzt erkannte, zu.

Als sie die Umfahrt beendet hatte, gab sie sich mit eigensinnigem Ausstrich einen Ruck und fuhr gerade auf Schtscherbazkiy zu, dessen Arm sie ergriff, während sie Lewin dabei zulächelte. Sie war schöner, als er vermutet hatte. Wenn er ihrer dachte, konnte er sie sich in ihrer ganzen Erscheinung vorstellen, besonders den ganzen Reiz dieses mit dem Ausdruck kindlicher Offenheit und Herzensgüte begabten, Blondköpfchens, das so keck auf den schönen jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdrucks im Vereine mit der zarten Schönheit ihrer Taille, bildeten insbesondere einen Reiz bei ihr, den er recht wohl zu würdigen verstand.

Was ihn aber immer an ihr zu verwirren pflegte, das war der Ausdruck ihrer Augen, die sanft, ruhig und ehrlich schauten und namentlich ihr Lächeln, das Lewin stets in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich beseligt, weich gestimmt fühlte, bei dem er sich der halbvergessenen Tage seiner frühesten Kindheit entsann.

»Seid Ihr schon lange hier?« frug sie, ihm die Hand hinreichend. »Danke bestens,« fügte sie hinzu, als er ihr das Taschentuch aufhob, welches ihrem Muff entfallen war.

»Ich? Nein, noch nicht lange – seit gestern – oder vielmehr heute – bin ich angekommen,« versetzte Lewin, der ihre Frage vor Erregung nicht so schnell verstanden hatte. »Ich wollte zu Euch fahren,« fuhr er sogleich fort, indem er sich erinnerte, mit welcher Absicht er sie aufgesucht hatte, aber er geriet in Verwirrung und errötete. »Ich wußte nicht, daß Ihr Schlittschuh laufen könnt – und Ihr lauft gut!«

Sie blickte ihn aufmerksam an, als wünsche sie, die Ursache seiner Verwirrung zu erfahren.

»Ich muß Euer Lob hochschätzen. Es hat sich hier die Tradition erhalten, daß Ihr der beste Schlittschuhläufer wäret, den es gäbe,« antwortete sie, mit der kleinen Hand in dem schwarzen Handschuh, die Reifnadeln abschüttelnd, welche auf den Muff gefallen waren.

»Ja, einst bin ich leidenschaftlich gern gefahren; ich hatte es bis zur Vollkommenheit bringen wollen.«

»Ihr treibt Wohl alles leidenschaftlich, wie mir scheint,« sagte sie lächelnd. »Ich möchte in der That gern einmal sehen, wie Ihr rollt. Legt Schlittschuhe an und laßt uns zusammen fahren!«

»Zusammen fahren! Ist es denn möglich?« dachte Lewin, sie anschauend. »Sogleich,« antwortete er laut, »lege ich Schlittschuhe an.«

»Ihr waret lange nicht bei uns, Herr,« sagte der Bahninhaber, Lewins Fuß haltend und den Absatz desselben anschraubend. »Nach Euch hat es hier keinen^ Meister wieder gegeben unter den Herren. Ist es so gut?« frug er, den Riemen anziehend.

»Gut, gut, nur schnell wenn ich bitten darf,« antwortete Lewin, mit Mühe ein Lächeln der Glückseligkeit unterdrückend, das ihm wider Willen aufstieg. »Ja,« dachte er, »das ist Leben, das ist Glück! Zusammen! hat sie gesagt, laßt uns vereint fahren. Soll ich jetzt mit ihr reden? Aber ich fürchte mich ja fast, ihr zu gestehen, daß ich glücklich bin, glücklich schon in der Hoffnung. Was dann? Doch, es muß sein, es muß sein! Weg mit der Schwäche!«

Lewin trat auf seine Füße, legte den Überrock ab und auf dem holperigen Eise bei dem Häuschen ansetzend, lief er hinaus auf die spiegelnde Fläche und fuhr ohne Hast, ganz wie seinem eigenen Willen gehorchend und seinen Lauf mäßigend dahin. Dann näherte er sich voll Befangenheit; ihr Lächeln aber machte ihn wieder sicher.

Sie gab ihm die Hand und beide fuhren nun miteinander, ihren Lauf allmählich beschleunigend; und je schneller sie fuhren, desto stärker drückte sie seine Hand.

»Unter Euch würde ich bald ausgelernt haben, ich habe solch ein Vertrauen zu Euch,« sagte sie.

»Auch ich fühle mich sicher, wenn Ihr Euch auf mich stützet,« antwortete er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte und errötete. Und in der That, sowie er nur diese Worte herausgebracht hatte, verlor ihr Gesicht, wie die Sonne die hinter die Wolken geht, all seine Freundlichkeit, und Lewin erkannte auf ihrem Gesicht jenes bekannte Spiel, welches das Arbeiten der Gedanken andeutet; auf ihrem glatten Antlitz erschien eine Falte.

»Haben Sie etwas übel aufgenommen? Doch – eigentlich habe ich gar nicht das Recht so zu fragen,« wandte er sich schnell an sie.

»Warum hätte ich etwas übel aufzunehmen? O nein, dem ist durchaus nicht so,« versetzte sie kühl, fügte aber dann sogleich hinzu, »habt Ihr Mademoiselle Linon gesehen?«

»Noch nicht.«

»Geht doch zu ihr; sie liebt Euch so sehr.«

»Was soll das heißen?« dachte Lewin, »ich habe sie gekränkt, Herr, steh mir bei!« Er lief zu der alten Französin hin mit den weißen Locken, die drüben auf der Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn als alten Freund.

»Ja, ja, wir sind gewachsen,« sagte sie, mit den Augen auf Kity weisend, »und wir werden alter. Tiny bear ist groß geworden!« fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an seinen Scherz über die jungen Herrinnen, die er einst die drei Bären aus dem englischen Märchen genannt hatte. »Wißt Ihr noch, wie Ihr zu sagen pflegtet.«

Er konnte sich durchaus nicht mehr hierauf besinnen, aber sie lachte nunmehr schon ins zehnte Jahr über jenen Scherz und sie liebte denselben.

»Nun, fahrt nur immer zu, fahrt. Unsere Kity hat gut Schlittschuhlaufen gelernt, nicht wahr?«

Als Lewin wieder zu Kity zurückkehrte, war ihr Gesicht nicht mehr so ernst, ihre Augen blickten wieder so ehrlich und freundlich, aber ihm schien es, als läge in ihrer Freundlichkeit ein seltsamer, nachdenklich ruhiger Ton. Auch er wurde nachdenklich. Er begann von der alten Gouvernante und von ihren Eigenheiten zu sprechen; sie aber frug ihn nach seinem Leben.

»Ist es Euch nicht zu langweilig auf dem Dorfe?« sagte sie.

»O nein; langweilig ist es da nicht; ich habe sehr viel zu thun,« antwortete er ihr, empfindend, daß sie ihn ihrem ruhigen Tone unterordnete, dem zu entweichen er sich nie imstande fühlen würde, obwohl es im Beginn des Winters war.

»Seid Ihr für längere Zeit hierher gekommen?« frug Kity.

»Ich weiß noch nicht,« antwortete er, ohne zu überlegen, was er sprach.

Der Gedanke, daß er wiederum unverrichteter Sache von dannen gehen werde, falls er sich dem nämlichen ruhigen Freundschaftston hingeben würde, wie sie, kam ihm in den Kopf und er entschloß sich, Mut Zu fassen.

»Inwiefern wißt Ihr das nicht?«

»Ich weiß nicht. Es hängt dies ganz von Euch ab,« sagte er, erschrak aber sofort über seine eigenen Worte.

Hörte sie diese nicht, oder wollte sie sie nicht hören, aber sie schien zu straucheln, stieß zweimal mit dem Füßchen auf das Eis und fuhr dann hinweg von ihm. Sie schwebte zu Mademoiselle Linon, sagte ihr einige Worte und begab sich dann nach dem Häuschen, wo die Damen ihre Schlittschuhe ablegten.

»Mein’ Gott, was habe ich angerichtet, mein Gott! Hilf mir und rate mir,« sagte Lewin zu sich, gleichsam betend, und dabei zugleich in der Empfindung des Bedürfnisses nach einer heftigen Bewegung, ausstreichend und nach auswärts und innen Kreise ziehend.

In diesem Augenblicke kam ein junger Mann, der beste der jüngeren Schlittschuhläufer, die Cigarette im Munde, auf seinen Schlittschuhen aus dem Café heraus; er lief, eilte auf den Schlittschuhen die Stufen herab, lachend und springend und flog dann auf dem Eise davon, ohne die freie Haltung seiner Arme zu verändern.

»Aha, ein neues Kunststückchen,« sagte Lewin, und lief sofort nach oben um das neue Kunststückchen zu versuchen.

»Fallt nicht, das will geübt sein!« rief ihm Nikolay Schtscherbazkiy zu.

Lewin trat auf einen Vortritt, und sprang herab, bei der ungewohnten Übung das Gleichgewicht mit den Armen haltend. Auf der letzten Stufe blieb er hängen und berührte leicht das Eis mit der Hand, machte aber eine heftige Bewegung, schnellte auf und flog lachend hinaus auf die Fläche.

»Ein wackerer Bursch,« dachte Kity dabei, als sie aus dem Häuschen heraustrat in der Begleitung der Mademoiselle Linon. Sie blickte dabei mit stillem Lächeln nach ihm hinüber, wie nach einem lieben Bruder. »Bin ich denn schuld, habe ich etwas Übles gethan? Man sagt, das sei Koketterie. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe, und doch bin ich gern in seiner Gesellschaft, er ist so wacker. Warum sagte er das auch gerade?« dachte sie.

Als Lewin Kity mit ihrer Mutter, die ihr auf den Stufen entgegenkam, fortgehen sah, blieb er, errötet von der schnellen Bewegung, stehen und versank in Nachdenken. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte dann Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.

»Sehr erfreut, Euch wiederzusehen,« sagte die Fürstin, »Donnerstag, wie ja immer, empfangen wir.«

»Nicht heute vielleicht auch?«

»Wird uns sehr angenehm sein,« versetzte die Fürstin trocken.

Diese Trockenheit erbitterte Kity, und diese konnte sich nicht enthalten, die Kälte ihrer Mutter zu mildern. Sie wandte das Haupt nach ihm um und sprach lächelnd:

»Auf Wiedersehen.«

In diesem Augenblick erschien Stefan Arkadjewitsch, den Hut schief auf der Seite mit glänzenden Mienen und Augen, wie ein wohlgelaunter Sieger im Garten. Als er sich indessen der Tante genähert hatte, antwortete er mit schuldbewußtem Gesicht auf ihre Fragen betreffs des Befindens von Dolly. Nachdem er so halblaut und zerknirscht mit der Tante eine Weile gesprochen hatte, warf er sich wieder in die Brust, und nahm Lewin unter dem Arme.

»Nun, was thun wir, wollen wir fahren?« frug er, »ich habe immer an dich gedacht und bin sehr, sehr glücklich, daß du gekommen bist,« sprach er, Lewin bedeutungsvoll ins Auge blickend.

»Fahren wir, fahren wir,« antwortete dieser beglückt, ohne den Klang der Stimme aus dem Ohre zu verlieren, die da gesagt hatte, »auf Wiedersehen«. Er sah noch das Lächeln mit welchem die Worte gesprochen worden waren.

»Gehen wir nach England oder in die Eremitage?«

»Mir ganz gleichgültig.«

»Nun, also nach ›England‹«, fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »England« deshalb wählend, weil er daselbst mehr Schulden hatte, als in der Eremitage. Er hielt es daher nicht für geraten, dieses Hotel zu meiden. »Du hast wohl einen Kutscher? Gut, ich habe nämlich meinen Wagen entlassen.«

Die beiden Freunde legten schweigend den ganzen Weg zurück. Lewin dachte an das, was jene Veränderung im Gesichtsausdruck Kitys bedeutet haben mochte, und er überzeugte sich bald, es sei Hoffnung für ihn vorhanden, bald geriet er in Mutlosigkeit und erkannte klar, seine Hoffnung sei sinnlos. Nichtsdestoweniger fühlte er sich aber als einen ganz anderen Menschen, nicht mehr demjenigen ähnlich, der er gewesen war just bis zu jenem Lächeln hin, zu jenen Worten »auf Wiedersehen«!

Stefan Arkadjewitsch stellte während dessen das Menü des Diners zusammen. »Liebst du nicht turbot?« frug er Lewin während der Fahrt.

»Was sagtest du?« frug Lewin, » turbot? O ja, ich liebe den turbot außerordentlich.«

32.

Zurück

Lewin hatte schon seit langem die Beobachtung gemacht, daß, wenn Einem im Umgang mit den Menschen deren allzugroße Zuvorkommenheit und Ergebenheit peinlich wird, sehr schnell auch ein übermäßig anspruchsvolles Wesen und Streitsucht unerträglich wird. Er fühlte, daß dies auch mit seinem Bruder der Fall sein würde; und in der That, die Sanftmut desselben reichte nicht lange aus. Schon vom anderen Morgen an wurde er reizbar und stritt geflissentlich mit dem Bruder, indem er diesen an seinen empfindlichsten Stellen zu treffen versuchte.

Lewin fühlte sich betreten, vermochte aber die Sache nicht zu ändern. Er empfand, daß sie beide nur, wenn sie sich nicht mehr verstellten, sondern aussprächen, was man »vom Herzen herunter« sprechen nennt, das heißt, nur was sie wirklich dachten und fühlten, sich gegenseitig offen einander ins Auge blicken könnten, und Konstantin nur zu sagen hätte »du mußt sterben, sterben!« während Nikolay ihm antworten müßte »ich weiß es, daß ich sterben werde, aber ich fürchte den Tod, ich fürchte, fürchte ihn.« – Mehr würden sie nicht sprechen, wenn sie so nur vom Herzen herunter gesprochen haben würden. Aber so war nicht zu leben, und deshalb versuchte es Konstantin, zu thun, was er für sein ganzes Leben hindurch versucht hatte, ohne es zu können, das, was nach seinen Beobachtungen viele so vortrefflich zu thun verstanden, und ohne das man nicht leben kann: Er versuchte es, nicht das zu sprechen, was er dachte, fühlte aber beständig, daß dies falsch sei, daß der Bruder ihn hierbei ertappe und davon gereizt werde.

Nach Verlauf von drei Tagen forderte Nikolay seinen Bruder auf, ihm seinen Plan nochmals zu entwickeln. Er begann darauf denselben nicht nur zu verwerfen, sondern ihn sogar absichtlich mit dem Socialismus zusammenzubringen.

»Da hast du lediglich einen fremden Gedanken aufgefaßt, ihn aber verballhornistert und willst ihn dem Unmöglichen anpassen.«

»Aber ich sage dir ja, daß er durchaus nichts Allgemeines in sich trägt. Die Socialisten verwerfen das Recht des Privateigentums, des Kapitals, der Erbfolge – ich aber, ohne diese wichtigste Stimula zu verwerfen,« – Lewin selbst war es widerlich, daß er sich derartiger fremder Worte bedienen mußte, aber seit er sich mehr mit seiner Arbeit beschäftigte, begann er unwillkürlich häufig und häufiger nichtrussische Worte zu brauchen – »will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben, daß du einen fremden Gedanken aufgefaßt und von ihm alles abgetrennt hast, was seine Bedeutung ausmacht, nun aber versichern willst, es sei dies etwas Neues,« antwortete Nikolay, heftig an seiner Halsbinde zerrend.

»Aber mein Gedanke hat nichts Allgemeines« –

»Denn,« erwiderte Nikolay Lewin mit gehässigem Glanz in den Augen und ironischem Lächeln: »dort liegt doch zum wenigsten ein Reiz darin, ein, wie soll ich sagen, mathematischer – nach seiner Klarheit und unzweifelhaften Richtigkeit. Möglicherweise ist er eine Utopie. Aber zugegeben, daß man aus der ganzen Vergangenheit eine tabula rasa machen könnte, daß es kein Privateigentum mehr gäbe, keine Familie, so wird doch immerhin die Arbeit bestehen, bleiben. »Bei dir aber ist nichts« –

»Weshalb vermischst du die Dinge? Ich bin nie ein Socialist gewesen.«

»Ich aber war es, und finde, daß die Idee verfrüht ist, obwohl sie klug ist, daß sie ihre Zukunft hat, wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich glaube, daß man die Arbeitskraft nur von dem Gesichtspunkt des Naturforschers aus beurteilen darf, das heißt, daß man sie studieren und ihre Eigenschaften erkennen muß.«

»Das ist aber ganz unnütz. Diese Kraft findet von selbst je nach dem Grade ihrer Entwickelung eine bekannte Form für ihre Bethätigung. Es hat überall Knechte gegeben und dann Vögte; auch bei uns giebt es die Gesellschaftsarbeit, die Pacht, die Arbeit auf Tagelohn – was willst du noch?«

Lewin geriet bei diesen Worten plötzlich in Zorn, da er auf dem Grunde seiner Seele die Befürchtung empfand, der Bruder könne recht haben – recht darin, daß er selbst zwischen dem Socialismus und den Ordnungsformen schwanke – was doch schwerlich möglich sein konnte.

»Ich suche Mittel dafür, mit Gewinn zu arbeiten, sowohl für mich selbst, wie für den Arbeiter. Ich will organisieren,« antwortete er heftig.

»Nichts willst du organisieren; du willst einfach originell sein, wie du es Zeit deines Lebens gewesen bist; du willst zeigen, daß du nicht mit den Bauern experimentierst, sondern vielmehr mit der Idee.«

»Nun– denkst du so – lassen wir das! versetzte Lewin, welcher fühlte, daß ihm der Muskel seiner linken Wange bebte, ohne daß er dies unterdrücken konnte.

»Du hattest nie Überzeugungen, und hast auch jetzt keine; nur deine Eigenliebe willst du befriedigen.«

»Schön so; aber verlaß dieses Thema!«

»Ich werde es lassen! Es ist schon längst Zeit dazu! Zum Teufel auch mit dir, ich wünschte, ich wäre gar nicht hergekommen!«

So sehr sich Lewin nun bemühte, den Bruder zu beruhigen, Nikolay wollte nichts hören und sagte, daß er am liebsten gleich wieder fortfahren möchte; Lewin sah, daß dem Bruder das Leben unerträglich geworden war.

Nikolay hatte bereits alle Anstalten zur Abreise getroffen, als Lewin wieder zu ihm kam und ihn bat, zu verzeihen, wenn er ihn gekränkt haben sollte.

»O, diese Großmut!« antwortete Nikolay lächelnd. »Wenn du denn einmal recht behalten willst, so will ich dir dieses Vergnügen gewähren. Du hast recht. Aber ich will dennoch fahren!«

Bei der Abreise selbst küßte ihn Nikolay und sprach, plötzlich seltsam und ernst auf den Bruder blickend:

»Bei alledem; gedenke meiner nicht im Bösen, mein Konstantin!« und seine Stimme schwankte.

Dies waren die einzigen Worte, die aufrichtig gesprochen worden waren. Lewin begriff, daß in diesen Worten der Sinn lag: »Du siehst es und weißt, daß ich sehr krank bin, und wir uns vielleicht niemals wieder sehen.«

Lewin verstand dies und die Thränen strömten ihm aus den Augen. Noch einmal küßte er seinen Bruder, konnte ihm aber nichts mehr antworten, – wußte ihm auch nichts mehr zu sagen. –

Am dritten Tage nach der Abreise des Bruders reiste Lewin nach dem Auslande ab. Als er auf der Eisenbahn mit Schtscherbazkiy, einem Vetter Kitys, zusammentraf, setzte er diesen durch seine Niedergeschlagenheit sehr in Erstaunen.

»Was hast du denn?« frug ihn Schtscherbazkiy.

»Nichts weiter: es giebt ja so wenig Angenehmes auf der Welt.«

»Inwiefern denn wenig? Komm, fahre mit mir nach Paris, in Gesellschaft eines gewissen Mylus. Da sollst du sehen, wie lustig es auf der Welt ist!«

»Nein. Ich bin schon fertig und möchte bald sterben.«

»Das ist doch dein Spaß!« lachte Schtscherbazkiy, »ich bin ja erst im Begriff anzufangen!«

»So meinte ich auch noch vor kurzem, jetzt aber weiß ich, daß ich bald sterbe.«

Lewin sprach damit nur aus, was er wahrhaft gedacht hatte in diesen letzten Tagen. In allem sah er nur den Tod oder die Annäherung an denselben. Aber das von ihm unternommene Werk beschäftigte ihn nur um so mehr. Es galt ihm jetzt, sein Leben irgendwie fertig zu leben, bevor noch der Tod kam. Dunkelheit verschleierte für ihn alles, aber gerade mit dieser Dunkelheit fühlte er, daß der einzige leitende Faden in ihr nur noch sein Werk war, und mit den letzten Kräften widmete er sich diesem, klammerte er sich an ihm an.

Vierter Teil.

Inhalt

1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
13.
19.
20.
21.
22.
23.

1.

Zurück

Die Karenin, Gatte und Gattin, fuhren fort in einem Hause zusammen zu leben: sie sahen sich wohl alltäglich, waren aber einander vollständig entfremdet.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte es sich zum Gesetz gemacht, sein Weib alltäglich nur deshalb zu sehen, daß die Dienerschaft kein Recht haben möchte, Vermutungen zu hegen. Die Mittagstafel daheim mied er jedoch. Wronskiy war nie im Hause Aleksey Aleksandrowitschs erschienen, Anna sah ihn aber außerhalb desselben und ihr Gatte wußte dies.

Die Lage war für alle drei peinvoll; und niemand von ihnen würde die Kraft besessen haben, auch nur einen einzigen Tag in derselben auszuhalten, wäre nicht die Erwartung dagewesen, daß sie sich ändern werde, daß alles dies nur eine zeitweilige, bittere und schwere Lage sei, welche vorübergehen würde. Aleksey Aleksandrowitsch wartete, daß diese Leidenschaft vergehen sollte, wie ja alles vergeht, daß alle die Sache vergessen möchten und sein Name nicht geschändet würde. Anna, von welcher diese ganze Situation abhing, und für die dieselbe peinlicher war, als für, alle sonst, ertrug sie, weil sie nicht nur wartete, sondern fest überzeugt war, daß alles dies sehr bald zur Entwickelung und Klärung gelangen müsse. Sie wußte freilich nicht im geringsten, was denn eigentlich die Schwierigkeit lösen solle, aber sie besaß die Überzeugung, daß etwas jetzt und sehr schnell eintreten müsse.

Auch Wronskiy, der sich ihr unwillkürlich fügte, erwartete etwas, das von ihm unabhängig, alle Schwierigkeiten klären müsse.

Inmitten des Winters hatte Wronskiy eine sehr langweilige Woche durchlebt. Er war einem ausländischen, in Petersburg zugereisten Prinzen zubeordert worden, und hatte die Aufgabe, diesem die Sehenswürdigkeiten Petersburgs zu zeigen. Gerade Wronskiy war es, welcher vorgestellt wurde, denn abgesehen davon, daß dieser die Kunst, sich mit Würde und zugleich Ehrerbietung zu benehmen, besaß, war er es auch gewohnt, mit Männern ähnlichen Ranges umzugehen; allein diese Pflicht wurde ihm zu einer sehr schweren. Der Prinz wünschte nichts zu übergehen, bezüglich dessen er in der Heimat gefragt werden konnte, ob er es in Rußland gesehen, ja, er wünschte auch selbst, soviel es möglich war, russischen Vergnügungen beizuwohnen. Wronskiy war nun verpflichtet, ihn hier und dorthin zu führen, und des Vormittags fuhren sie nun, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, des Abends, um an nationalen Vergnügungen teilzunehmen. Der Prinz erfreute sich einer selbst unter Prinzen ungewöhnlichen Gesundheit; sowohl durch leibliche Übungen wie durch gute Pflege seines Körpers hatte er eine solche Kraft erworben, daß er trotz des Übermaßes, mit welchem er sich den Zerstreuungen hingab, frisch aussah wie eine mächtige, grüne holländische Gurke. Der Prinz war viel gereist und hatte gefunden, daß einer der vorzüglichsten Vorteile der modernen Verkehrsbequemlichkeiten die Möglichkeit, nationalen Vergnügungen beiwohnen zu können, bilde.

Er war in Spanien gewesen und hatte dort Serenaden veranstaltet und sich einer Spanierin genähert, welche Mandoline spielte. In der Schweiz hatte er Gemsen gejagt. In England im roten Frack unter Wetten zweihundert Fasanen erlegt. In der Türkei war er in einem Harem gewesen, in Indien hatte er auf Elefanten geritten und in Rußland jetzt wollte er alle echtrussischen Vergnügungen kennen lernen.

Wronskiy, der bei ihm eine Art erster Ceremonienmeister war, kostete es große Mühe, alle die Zerstreuungen, die dem Prinzen von verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurden, zu sichten. Da waren die russischen Trabrennen, und die Bärenjagden, die Troiken und die Zigeuner, wie das Topfschlagen. Der Prinz accomodierte sich dem russischen Geiste mit außerordentlicher Leichtigkeit; er beteiligte sich am Topfschlagen, setzte sich eine Zigeunerin auf das Knie und frug, wie es schien, ob dies alles sei, ob nur darin der ganze russische Geist bestehe.

Am meisten von allen diesen russischen Vergnügungen gefielen allerdings dem Prinzen die französischen Schauspielerinnen, eine Balleteuse und der weißgesiegelte Champagner.

Wronskiy hatte Übung im Umgang mit Prinzen, aber – kam es davon, daß er selbst sich in letzter Zeit verändert hatte, oder von der allzu großen Nähe, in welcher er sich zu dem Prinzen befand – diese Woche erschien ihm als eine furchtbar schwere.

Die ganze Woche hindurch hatte er ohne Unterbrechung ein Gefühl empfunden, ähnlich dem eines Menschen, der zu einem gefährlichen Wahnsinnigen gesteckt wird, um zu erproben, ob er diesen wohl fürchtet und infolge der Nähe bei ihm, auch für seinen Verstand fürchten müsse.

Wronskiy empfand beständig den Zwang, nicht eine Sekunde den Ton strenger offizieller Ehrerbietung sinken lassen zu dürfen, damit er keine Schlappe erleide. Dre Umgangsweise des Prinzen gerade mit denjenigen, welche zur Verwunderung Wronskiys darüber aus der Haut fuhren, daß man ihm russische Vergnügungen biete, war eine souveräne. Sein Urteil über die russischen Frauen, die er kennen zu lernen gewünscht hatte, ließen Wronskiy mehr als einmal vor Unwillen erröten, aber der Hauptgrund, weshalb der Prinz für Wronskiy außerordentlich lästig war, war der, daß er in dem Prinzen unwillkürlich sich selbst wieder erkannte, und daß das, was er in diesem Spiegel erkannte, seiner Eigenliebe nicht eben schmeichelte. Der Prinz war ein sehr beschränkter, sehr eingebildeter, sehr gesunder und an sich sehr eigener Mensch, weiter aber nichts. Er war Gentleman, das war er in Wahrheit, und Wronskiy konnte das nicht in Abrede stellen. Er war gleichmütig und nicht kriechend vor Höheren, ungezwungen und einfach im Verkehr mit Gleichstehenden und gutmütig herablassend gegenüber den unter ihm Stehenden. Ganz genau so war aber auch Wronskiy, der das für einen großen Vorzug hielt; in der Umgebung des Prinzen war er doch der tiefer Stehende und die herablassend gutmütige Behandlungsweise ihm gegenüber regte ihn auf.

»Das ist ein dummer Stier; bin ich das auch?« dachte er bei sich.

Wie dem nun sein mochte, als er sich am siebenten Tage von ihm verabschiedete, vor der Abreise des Prinzen nach Moskau, und dessen Dank entgegennahm, war er glücklich, aus dieser peinlichen Lage und von diesem unangenehmen Spiegel erlöst zu sein.

Er verabschiedete sich von ihm auf der Station, bei der Rückkehr von der Bärenjagd, an welcher während einer ganzen Nacht russische Bravour eine Galavorstellung gegeben hatte.

2.

Zurück

Heimgekommen, fand Wronskiy ein Billet Annas vor.

Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich. Ich kann nicht ausfahren, kann aber auch nicht länger ohne Euren Anblick sein. Kommt am Abend zu mir. Um sieben Uhr wird Aleksey Aleksandrowitsch zum Rat fahren und bis zehn Uhr dort bleiben.«

Nachdem er eine Minute lang über den seltsamen Umstand, daß sie ihn so direkt zu sich berufe, ungeachtet der Forderung ihres Gatten, daß sie ihn nicht empfangen dürfe, nachgedacht hatte, entschloß er sich, der Einladung zu folgen.

Wronskiy war im Lauf dieses Winters Oberst geworden, aus dem Regiment ausgetreten und lebte jetzt frei. Nachdem er gefrühstückt hatte, warf er sich sogleich auf den Diwan und in fünf Minuten vermischten sich die Erinnerungen der unangenehmen Scenen, wie er sie in den letzten Tagen gesehen hatte, und verbanden sich mit dem Gedanken an Anna und an die Bärenjagd, und er schlief ein. Erst in der Dunkelheit erwachte er wieder, bebend vor Entsetzen. Sofort zündete er eine Kerze an. »Was war das? Wie? Was habe ich Furchtbares im Traume gesehen? Der eine Bauer auf der Bärenjagd, klein, schmutzig, mit wirrem Barte, hatte gearbeitet, indem er sich niederbeugte, und dann plötzlich einige seltsame Worte auf französisch gesprochen. Nun, weiter war es nichts mit dem Traume,« sprach er zu sich selbst. »Aber weshalb war dies nur so furchtbar gewesen?« Lebhaft stellte er sich wiederum den Bauern vor und jene seltsamen französischen Worte, die derselbe gesprochen hatte – und Entsetzen überlief kalt seinen Rücken.

»Welcher Unsinn!« dachte er und schaute nach der Uhr.

Es war bereits halb neun. Er schellte seinem Diener, kleidete sich hastig an und begab sich zur Treppe hinab, seinen Traum völlig vergessend und nur noch von der Besorgnis gequält, sich zu verspäten.

Als er vor der Freitreppe der Karenin anlangte, schaute er wieder nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Ein hoher, schmaler Wagen mit einem Paar grauer Pferde bespannt, stand unter der Einfahrt; er erkannte das Geschirr Annas. »Sie fährt zu mir,« dachte Wronskiy, »und das wäre auch besser gewesen; denn es ist mir unangenehm, dieses Haus zu betreten. Doch gleichviel, ich kann mich nicht verstecken,« und mit jenen ihm von Kindheit an eigenen Manieren eines Menschen, der sich vor nichts scheut, stieg Wronskiy aus dem Schlitten und schritt zur Thür hin.

Die Thür öffnete sich und der Portier, ein Plaid auf dem Arme, rief den Wagen heran. Wronskiy, nicht gewohnt, Kleinigkeiten zu bemerken, gewahrte gleichwohl jetzt den verwunderten Gesichtsausdruck, mit welchem ihn der Portier anblickte.

In der Thür selbst wäre Wronskiy fast mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammengestoßen. Die Gasflamme beleuchtete das blutlose, eingefallene Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Halsbinde, die aus dem Biberpelz des Überrocks herausschimmerte. Die unbeweglichen, dunklen Augen Karenins richteten sich auf das Gesicht Wronskiys. Dieser verneigte sich und Aleksey Aleksandrowitsch, den Mund ein wenig bewegend, hob die Hand an den Hut und ging vorüber. Wronskiy sah, wie er, ohne aufzublicken, sich in den Wagen setzte, das Plaid und Augenglas durch das Wagenfenster nahm, und sich zudeckte.

Wronskiy betrat das Vorzimmer; seine Brauen waren zusammengezogen und seine Augen erglänzten in bösem und stolzem Glänze.

»Ist das eine Situation!« dachte er, »wenn er kämpfte, seine Ehre wahrte, dann könnte ich handeln, meine Empfindungen äußern; aber diese Schwäche oder vielmehr Erbärmlichkeit – er versetzt mich in die Lage eines Betrügers, während ich dies doch nicht sein wollte und auch nicht sein will!«

Seit der Zeit seiner Aussprache mit Anna im Park der Wrede hatten sich die Ansichten Wronskiys geändert. Sich unwillkürlich den Schwächen Annas unterwerfend, die sich ihm ganz gegeben hatte und nur noch von ihm die Entscheidung über ihr Geschick erwartete, indem sie sich von vornherein allem unterwarf, hatte er längst aufgehört, zu glauben, daß dieses Verhältnis so enden könne, wie er damals dachte. Seine Träume voll Ehrgeiz waren wieder in den Hintergrund getreten, und er ergab sich, aus dem Kreise einer Wirksamkeit tretend, in welchem alles begrenzt war, ganz seiner Empfindung; diese Empfindung aber fesselte ihn fester und fester an sie.

Schon vom Vorzimmer aus vernahm er sich entfernende Schritte. Er erkannte, daß sie ihn erwartet hatte, gelauscht hatte und jetzt in den Salon zurückkehrte.

»Nein!« rief sie aus, als sie seiner ansichtig wurde, und beim ersten Tone ihrer Stimme traten ihr die Thränen in die Augen, »wenn das so fortgehen soll, so wird das Unglück noch viel, viel früher eintreten!«

»Was denn, mein Kind?«

»Was? Ich warte und martere mich, eine Stunde, zwei, – aber nein, ich will, ich kann nicht mit dir hadern. Du konntest wahrscheinlich nicht früher. Nein, ich will es nicht thun!«

Sie legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ihn lange mit tiefem, verzücktem und zugleich forschendem Blicke an. Sie prüfte sein Gesicht nach der Zeit, seit welcher sie ihn nicht gesehen hatte. Wie bei jedem Wiedersehen, so verglich sie wieder ihr innerliches Bild von ihm – das unvergleichlich besser, und in der Wirklichkeit unmöglich war – mit ihm, wie er wirklich aussah.