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Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

Epilog

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2132

 

Der Saltansprecher

 

Der Messias der Pfauchonen – er folgt dem Weg des Schicksals

 

von Claudia Kern

 

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Nach einem langen Flug über fast 700 Millionen Lichtjahre hat die SOL im Dezember 1311 Neuer Galaktischer Zeitrechnung endlich die Galaxis Wassermal erreicht. Hier hoffen die Besatzungsmitglieder unter dem Kommando des Arkoniden Atlan, endlich weitere Informationen über Thoregon und die Helioten zu erhalten. Immerhin gibt es in der Galaxis Wassermal die Pangalaktischen Statistiker, legendäre Wesen, die unglaubliches Wissen über die Geschichte des Universums angehäuft haben.

Doch kaum sind Atlan und sechs seiner Begleiter auf der Welt Vision gelandet, dem geistigen Zentrum der Galaxis, werden sie bereits in einen Konflikt verwickelt, der ganz Wassermal betrifft. Ein Prinzenkrieger, einer der Herrscher der Pfauchonen, stellt sich gegen sein Volk, um gegen sein Schicksal zu kämpfen. Während sich dieser Konflikt immer mehr zuspitzt, erwacht gewissermaßen eine mythische Gestalt der Pfauchonen. Es ist DER SALTANSPRECHER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Tieger – Ein Pfauchonischer Prophet leidet an »mikhate«.

Lemna – Tiegers Mutter setzt sich für ihren Sohn ein.

Olibec – Der Vorsteher eines Klosters beharrt auf den Regeln.

Lo – Eine junge Frau verstößt gegen uralte Gesetze.

Sihame – Die Prinzessin blickt ihrem Schicksal entgegen.

Prolog

 

... und so wird eines Tages der Saltansprecher geboren werden. Man wird ihn leicht erkennen, denn seine Klugheit und sein Geschick sind allen anderen weit überlegen. Selbst aus großer Ferne werden die Propheten anreisen, um ihn in der Sprache der Saltans reden zu hören. Man wird vor ihm knien und ihn, den Messias, der aus dem Nichts kommt, zum Obersten der Propheten ernennen.

Ihm allein gebührt diese Ehre, vor ihm allein neigen wir unser Haupt. Wir werden ihm einen Thron erbauen, höher und schöner als alles, was unsere Augen bisher erblicken durften. Von diesem heiligen Ort aus wird er den Lebenden den Tod und den Todgeweihten das Leben bringen.

Und doch muss auch er dem Weg des Schicksals folgen, so, wie wir es alle tun. Nur eines unterscheidet uns von ihm: Wenn der Saltansprecher seine Stimme erhebt, wird die Welt nie wieder sein wie zuvor ...

1.

Loan

 

Die Stille hing schwer im Raum, wurde nur von dem Glucksen eines Kleinkinds unterbrochen, das am Fenster saß und mit der flachen Hand nach Regentropfen schlug. Obwohl es so groß und kräftig wie ein Fünfjähriger war, hatte es gerade einmal das dritte Lebensjahr vollendet.

Rufas Lemyr verspürte das nervöse Bedürfnis, sich zu kratzen, zwang seine Hände jedoch, ruhig in seinem Schoß liegen zu bleiben. Ihm gegenüber auf hohen hölzernen Stühlen saßen die Eltern des Kleinkinds, Lemna und Ters. Ters starrte auf einen Punkt vor seinen Füßen, Lemna blinzelte Tränen zurück.

»Und es gibt wirklich nichts, was wir hätten tun können?«, fragte sie.

Rufas schüttelte den Kopf. Stets die gleichen Fragen, stets die gleichen Antworten.

»Nein, und ihr müsst euch keinen Vorwurf machen. Die Krankheit tritt so kurz nach der Geburt auf, dass es fast unmöglich ist, sie zu erkennen. Das ungewöhnlich starke Wachstum ist nur ein Symptom, das lange danach einsetzt.«

Er wusste, dass seine Worte nicht ausreichten, um den Eltern die Selbstvorwürfe zu nehmen. In ihren Köpfen durchlebten sie die Tage nach der Geburt, suchten nach Hinweisen und Symptomen, taten etwas, um ihrem Sohn zu helfen und das längst geschriebene Schicksal abzuwenden. Rufas hatte das Gleiche getan, als die Krankheit seines eigenen Sohns von einer vagen Vermutung zur Realität wurde.

Lemna fing sich, bevor ihre Tränen über die Wangen laufen konnten. Es hätte sich nicht gehört, vor einem Besucher zu weinen und ihn damit in eine unangenehme persönliche Situation zu bringen. Wie es die Höflichkeit verlangte, tat Rufas so, als bemerke er davon nichts.

»Hat er eine Seele?« Ters' Stimme klang rau. Sein Kopf blieb gesenkt.

»Natürlich hat er eine Seele. Euer Sohn Tieger ist ein Pfauchonischer Prophet, daran wird sich nie etwas ändern.«

»Aber er hat mikhate?«

Rufas war froh, dass Ters das Wort endlich ausgesprochen hatte. Es musste wie eine Geschwulst auf seiner Zunge gesessen haben, übel riechend und im Dunkel verborgen. Jetzt war es heraus, und Ters musste es nicht mehr allein ertragen.

»Ja«, sagte er. »Es ist Mikhate, der leere Geist, auch wenn ich wünschte, du würdest es anders bezeichnen. Tiegers Geist ist nicht leer, er ist nur sehr, sehr langsam.«

Zum ersten Mal, seit Rufas den Raum betreten hatte, sah Ters zu seinem Sohn. Tieger versuchte immer noch nach den Regentropfen auf der anderen Seite der Scheibe zu greifen.

»Ein normales Kind«, fuhr Rufas fort, »würde nach wenigen Minuten bemerken, dass es die Tropfen nicht erreichen kann. Tieger wird das erst in einigen Stunden erkennen, vielleicht sogar erst morgen. Sein Geist bearbeitet eine Aufgabe nach der anderen, wie verschiedene Punkte auf einer Liste. Wenn er den ersten verstanden hat, kann er sich dem zweiten zuwenden und so weiter.«

»Kann er so alles verstehen?«

Rufas hörte die Hoffnung in Lemnas Stimme und schämte sich für seine unglückliche Ausdrucksweise. Er hätte den Vortrag an einer anderen Stelle beginnen müssen, um ihr die Grenzen ihres Sohnes deutlicher aufzuzeigen.

»Nein«, sagte er und senkte den Blick vor den Tränen in ihren Augen. »Eine Regel besagt: Wenn ein Mikhate-Kind etwas nach einem Tag nicht verstanden hat, wird es das auch nach einem Leben nicht verstehen. In eurer Erziehung müsst ihr dafür sorgen, dass Tieger lernt, in einem solchen Fall diesen Punkt zu überspringen und zum nächsten in der Liste auszuweichen. Wenn er das konsequent beherrscht, wird er alles lernen können, was er zum Leben benötigt.«

Lemna stand auf und ging zum Fenster. Ihr Sohn sah noch nicht einmal auf, als sie ihn hochhob und sanft zu wiegen begann. Seine Hand streckte sich weiter nach den unerreichbaren Regentropfen, obwohl sie hinter dem Körper seiner Mutter nur noch zu erahnen waren. Es überraschte Rufas, dass Tieger weder Trotz noch Ungeduld zeigte, denn die Wutausbrüche von Mikhate-Kindern, die man bei ihrer gewünschten Tätigkeit störte, galten als berüchtigt. Er wusste nicht, ob ihr Ausbleiben ein gutes oder schlechtes Zeichen war.

Als Lemna sich wieder zu ihm umdrehte, waren ihre Wangen feucht, aber in ihren Augen las Rufas eine stumme Entschlossenheit.

»Ich danke dir für deine Offenheit«, sagte sie. »Wir werden alles tun, um Tieger das Zuhause zu geben, das er benötigt.«

Ters' Blick wirkte ebenso zweifelnd wie seine zögerliche Zustimmung.

Rufas stand auf und verneigte sich. »Eure Hingabe ist beispielhaft. Ich hoffe, ich werde noch oft Gelegenheit bekommen, sie zu erleben.«

Lemna errötete unter dem Kompliment. Ters erwiderte die Verbeugung und öffnete die Tür.

»Ich begleite dich nach draußen«, sagte er. Schweigend folgte Rufas ihm durch den halbdunklen Korridor bis hinaus auf die hölzerne Veranda, von der aus fünf Stufen zum Boden führten. Erst hier, wo zwei Türen zwischen ihm und Lemna lagen und der Regen seine Worte übertönte, fragte Ters: »Gibt es noch eine andere Möglichkeit?«

Es waren immer die Väter, die diese Frage stellten, nie die Mütter. Rufas lehnte sich gegen einen Balken und verschränkte die Arme vor der Brust. Tief atmete er die schwere, süßliche Luft ein, ließ seinen Blick über das Dorf mit seinen auf Stelzen gebauten Holzhäusern gleiten.

»Ich bin vor zwölf Jahren nach Loan gekommen«, sagte er dann, »und ich erinnere mich noch gut an den ersten Blick, den ich nach der Landung auf diesen Planeten warf. Noch nie hatte ich so viel Grün gesehen. Alles wirkte schwer und nass und grün. Sogar in den Augen der Pfauchonen spiegelte sich dieses Grün wider. Und der Regen ... auf welcher Welt gibt es schon zweiundzwanzig verschiedene Worte für den Begriff Regen?«

Er sah Ters kurz an und fuhr fort, ohne sich um dessen offensichtliche Verwunderung zu scheren: »Von slik, dem sanften, warmen Regen, der wie Sirup über die Haut läuft, über ge, dessen Tropfen fein wie Nebel sind, bis hin zu tokh, der donnernden Flut, die Dächer zerschlägt und Knochen brechen kann. Ich brauchte lange, um sie unterscheiden zu lernen, so, wie du lange brauchen wirst, um Ehre von Schmach zu unterscheiden.«

»Es gibt nichts Ehrenvolles an diesem Kind«, sagte Ters. »Sein Leben liegt wie ein Schatten über meiner Familie, und wenn du uns wirklich helfen wolltest, dann ...« Er brach ab, als Rufas nach seinem Arm griff.

»Sprich nicht aus, was nicht ausgesprochen werden darf, Ters. Tieger ist keine Schande, er ist deine Herausforderung, Ehre nicht in der Vollkommenheit, sondern in der Unvollkommenheit zu suchen und zu finden. Du kannst zweiundzwanzig Arten von Regen erkennen, also sollte es dir leicht fallen, mehr als eine Art von Ehre zu verstehen.«

Seine Stimme war lauter geworden, als er beabsichtigt hatte. Rufas ließ Ters' Arm los und ging ohne ein weiteres Wort die Stufen hinab. Es fiel meka, der aber schon bald in slik umschlagen würde. Er war froh darüber, denn die Tropfen, die langsam und schwer über sein Gesicht liefen, vermischten sich mit den Tränen und machten sie unsichtbar.

Tränen der Schande, dachte Rufas, nicht der Trauer.

Sie überkamen ihn jedes Mal, wenn er die Eltern mit seinen sorgsam auswendig gelernten Worten davon überzeugen wollte, dass ihr Mikhate-Kind das Leben verdient hatte – und das war häufiger, als die meisten Pfauchonen ahnten. Auf Loan war die Bevölkerungszahl so niedrig, dass bereits ein Mikhate-Fall eine Sensation darstellte, aber in den großen Städten auf anderen Planeten war die Krankheit längst nicht mehr ungewöhnlich. Nur bemerkte das außer den Ärzten kaum jemand, denn die Eltern verheimlichten diese große Schande, so gut es ging, und nahmen sogar den Tod ihres Kindes in Kauf, um ihre Ehre zu behalten.

Rufas konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Schließlich hatte er ebenso gehandelt. Seine Ehre war danach jedoch nicht zurückgekehrt, war im Gegenteil durch den Selbstmord seiner Frau so stark besudelt worden, dass die Nachbarn die Straßenseite gewechselt hatten, wenn sie ihn bemerkten.

Nur zwei Alternativen hatte er damals gesehen: den Tod oder die Flucht. So war er schließlich in der Speiche Maér gelandet, auf einem abgelegenen kleinen Planeten, dessen einziger Beitrag zur galaktischen Zivilisation aus dem Export geringer Mengen Dufthölzer bestand.

Doch Mikhate hatte ihn in Form des kleinen Tieger auch hier eingeholt. Vielleicht, so glaubte Rufas in diesem Moment, war es der Versuch des Schicksals, ihm eine zweite Chance zu geben.

 

*

 

Zehn Jahre später ...

Tieger besaß viele Freunde. Sie hießen Mege, Vap, Tami, Fogas, Dajo und Zek. Er war froh, dass es nicht mehr waren, denn so konnte er sie gerade noch an den sechs Fingern seiner Hand abzählen. Seine Mutter hatte ihm zwar erklärt, dass es gut sei, viele Freunde zu besitzen, aber sicher hatte sie damit nicht gemeint, er solle sich unzählige Freunde anschaffen. Und alles, was über die Finger einer Hand hinausging, war für Tieger unzählbar.

Er schüttelte sich das Wasser aus den kurzen blonden Haaren und betrachtete seine rechte Hand, die Zahlenhand, wie er sie nannte. Jedem Finger hatte er eine Zahl zugeordnet, von eins bis sechs – wobei Tieger die Sechs meistens ignorierte, weil er wusste, dass sie Unglück brachte. Seine linke Hand war die Tu-Hand, mit der er Dinge erledigte, wenn die rechte mit Zählen beschäftigt war.

Mege hatte behauptet, er könne auch mit der linken Hand zählen, aber nach langem Nachdenken hatte Tieger entschieden, das für Blödsinn zu halten. Und so war die Idee, mit links zu zählen, in seine geistige Schublade verbannt worden, dorthin, wo all die Ideen lagen, die er nicht verstand oder für falsch hielt.

Seine Mutter hatte ihm die Schublade vor langer Zeit gezeigt. Anfangs war es Tieger schwer gefallen, sie zu benutzen, doch mittlerweile öffnete und schloss er sie mit Leichtigkeit. Nur nachts, wenn er allein in seinem Zimmer lag, gab er der Versuchung nach. Dann nahm er die Ideen aus der Schublade, rang mit ihnen und ließ seinen Geist gegen sie anrennen, bis der Schlaf ihn irgendwann einholte. Tieger wusste nicht, wie viele Ideen in der Schublade lagen, aber es waren sicherlich mehr als sechs.

Er atmete tief durch und lachte, als ge seinen Rachen kitzelte. Seit drei Tagen regnete es ununterbrochen, aber das hatte Tieger und seine Freunde nicht davon abgehalten, die Sümpfe weiter zu erkunden. Die grüne Wand, in die sie eingetaucht waren, lockte mit Abenteuern und Gefahren.

»Wir müssen gut aufpassen«, hatte Mege gesagt. »Dann sehen wir vielleicht einen Gagawuz.«

Ein Gagawuz, so hatte Tieger wenig später von ihr erfahren, war ein überaus scheues Tier, das sich als Ast tarnte und seine wahre Gestalt erst offenbarte, wenn man es lange genug anstarrte. Dann konnte es sogar Wünsche erfüllen.

Was soll ich mir wünschen?, dachte Tieger, während er sich bemühte, den Gagawuz in der einsetzenden Dämmerung nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht ein Geschenk für seine Freunde, die ihm den Gagawuz gezeigt hatten und ihn sogar mit dem Tier allein ließen, da es sich nur einem Unbekannten offenbarte. Oder etwas für ihn selbst ... ein Geschenk, das ihn normal machte ...

Wenn er zumindest gewusst hätte, was dieses Wort bedeutete, dann wäre es ihm vielleicht leichter gefallen, so wie die anderen zu sein. Er hatte seine Mutter gefragt und Rufas, aber beide hatten es ihm nicht richtig erklären können. Mittlerweile lag normal in seiner Schublade.

Tieger gähnte und begann ein paar Pilze von einem Baum zu kratzen. Seit dem Morgen stand er bereits hier und wartete auf die Verwandlung des Gagawuz. Mittlerweile steckten seine nackten Füße bis zu den Knöcheln im Schlamm. Zirr-Stiche bedeckten seine ungeschützten Arme, und seine Augen brannten von den Sporen der Tazapflanze, die der Regen in sein Gesicht trieb. Der Gagawuz rührte sich jedoch immer noch nicht, ließ es sogar zu, dass Vögel auf ihm landeten, als wolle er beweisen, wie perfekt seine Tarnung war.

»Da bist du ja, Tieger«, unterbrach eine Stimme seine Gedanken. »Hast du mich nicht rufen hören?«

Er drehte sich um, erschrocken und erfreut zugleich. »Du muss weggehen. Der Gagawuz kommt nich, wenn andere da sin.«

»Gagawuz?« Rufas trat auf die Lichtung und ergriff seine Hand. »Komm mit! Du wartest auf etwas, das nicht kommen wird.«

Tieger blieb trotzig stehen. »Er is schon hier, da, der Ast, das is er. Und wenn er sich zeigen tut, kann ich mir was wünschen. Hat Mege gesagt.«

»Mege hat gelogen.« Rufas klang auf einmal ungeduldig. Der Druck seiner Hand verstärkte sich. »Es tut mir Leid, aber ich muss dich jetzt wirklich nach Hause bringen. Deine Mutter macht sich große Sorgen, und das willst du doch nicht, oder?«

»Nein.« Tieger ließ sich von Rufas mitziehen. An den Satz Mege hat gelogen dachte er nicht mehr. Er lag bereits in einer zweiten Schublade, von der niemand außer Tieger wusste. In ihr befanden sich Dinge, die er am liebsten nicht begriffen hätte und die er so ins Vergessen verbannte. Es war eine Schublade, die Tieger stets verschlossen hielt.

Er drehte sich ein letztes Mal zu der Lichtung um, aber sie war längst hinter einem Vorhang aus Blättern verschwunden.

 

*

 

»Ich halte das für wenig sinnvoll.« Sebor, erster Sprecher des Komitees der Neun, sah Lemna aus trüben Augen an. Er war ein alter Mann mit gekrümmtem Rücken und faltigem Gesicht, aber seine Stimme wirkte fest und klar. Die anderen Komiteemitglieder, die rechts und links von Sebor in einer Reihe saßen, waren nicht wesentlich jünger. Sie alle behielten ihre Stellung bis zum Tod, und es kam öfter vor, dass nicht alle Mitglieder, die eine Sitzung lebend begannen, sie auch lebend beendeten.

Lemna hielt dem Blick stand. »Mein Sohn ist ein Prophet. Er hat die Lehre empfangen, so wie alle anderen Kinder. Wieso wollt ihr ihn jetzt von der Zeremonie ausschließen?«

»Weil er nichts davon verstanden hat.« Nicht Sebor antwortete auf ihre Frage, sondern Rega. Sie unterrichtete Tieger seit einigen Jahren. »Dein Sohn gibt sich große Mühe, allein deshalb habe ich ihn in der Klasse behalten. Ihm die erste Weihe zu geben wäre jedoch ein Hohn. Es ...«

Sie unterbrach sich, als die Tür geöffnet wurde. Lemna drehte den Kopf und sah, wie Rufas eintrat und sich kurz verneigte.

»Entschuldigt die Verspätung«, sagte er. Seine Robe war durchnässt, Schlamm bedeckte seine Stiefel. Er zog einen zweiten Stuhl heran und beugte sich zu Lemna hinüber. »Ich habe Tieger gefunden und nach Hause gebracht«, flüsterte er. »Es geht ihm gut.«

»Wir diskutierten«, sagte Sebor, bevor Lemna antworten konnte, »gerade über die Gründe, die gegen Tiegers Teilnahme an der Zeremonie sprechen. Wir glauben, dass er nicht verstehen wird, was um ihn herum geschieht und was er sieht.«

Rufas neigte den Kopf, eine Geste, die seinen Respekt für das Komitee bekunden sollte. »Ich stimme euch zu. Tieger wird die Zeremonie nicht verstehen.«

Lemna sah ihn überrascht an. Sie hatte Rufas zu der Anhörung gebeten, weil sie seine Hilfe benötigte. Wieso fiel er ihr jetzt in den Rücken? Das Komitee schien seine Zustimmung ebenfalls zu irritieren, denn Sebor warf Rega einen kurzen Blick zu, den sie mit einer ratlosen Geste beantwortete.

»Allerdings«, fuhr Rufas nach einer Pause fort, »bezweifle ich, dass irgendeines dieser Kinder verstehen wird, was passiert.«

Er stand auf und begann langsam im Raum auf und ab zu gehen. Lemna beobachtete ihn, hasste und liebte seinen Hang zur theatralischen Darstellung, der fast schon arrogant wirkte.

»Gabrauni-zisz ...«,