Frank Gerbert

Wandern

Kleine Philosophie der Passionen

 

 

 

 

Originalausgabe 2007
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40454 - 9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 34411 - 1

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www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Gehen wir’s an!

Der Schrei der Eule

Warnhinweise und Nebenwirkungen

Aus dem geheimen Leben der Wanderschuhe

Warum nur, warum? Mutmaßungen über ein Hobby

Im Albtal: Der Trott der frühen Jahre

»Willst du mich umbringen?« Ehewandern und seine Abgründe

Dein Weg ist nicht unbedingt mein Weg

Marsch, marsch nach Venedig!

Versuch, Heino lustig zu finden (Expedition zum »Deutschen Wandertag«)

Kein stabiles Hoch in Sicht – solo durch die Dolomiten

Jetzt kenn auch ich meinen Pappenheimer: Notizen über die Provinz

»Wunderbar wandern durchs Reich der Mitte« – Exotik pauschal

Stiftung Föhrentest: Die deutschen Mittelgebirge im Leistungsvergleich

Still und starr ruht der See – unterwegs in Nebel und Schnee

Bock sucht Gämse – Wandern und Sex

Wenn die Deutschen wandern, wundern sich die andern

Es geht auch ohne Natur – Streifzüge im Virtuellen

Vier Geschichten vom Gipfelglück

Fast das Ende

Von Aufbruch bis Zielkonflikt: Das ehrliche Grundwörterbuch des Wanderns

Gehen wir’s an!

Wandern sei »in«, »angesagt« oder gar »cool«, wird Ihnen heute in Reisebeilagen, Zeitschriftenartikeln und TV-Sendungen eingeimpft, und fast wöchentlich purzeln aus Ihrer Tageszeitung Werbeprospekte für Outdoorartikel heraus. Ich glaube, es gibt tatsächlich einen Trend zum Wandern, aber es ist nicht meine Absicht, ihn durch schlichte Affirmation zu befördern. Bei mir werden Sie auch etwas lesen vom Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit. Aber keine Angst, es erwartet Sie auch keine Anklageschrift, sondern eine Schilderung der nicht unkomischen Versuche eines saturierten deutschen Mittelstandsbürgers, ein wenig Wildnis und Abenteuer in sein Leben hineinzubekommen.

Dass Wandern bisweilen großartig ist, schreibe ich übrigens auch.

Rechnen Sie mit leichter Lektüre! Wiegt bloß 120 Gramm – ideal für jeden Rucksack.

Ich widme das Buch meiner Gattin und Muse Annie, die mir dankenswerterweise gestattete, sie als handelnde Figur zu zeichnen (zu überzeichnen, wie sie behauptet), und die meine Passion mit unnachahmlichem Gleichmut erträgt (es sei sogar Sympathie, sagt sie).

Der Schrei der Eule

Es ist nass, kalt, finster. Die Last auf meinem Rücken drückt. Weglos dem Vordermann folgend, stolpere ich durchs Unterholz. Meine Füße schmerzen, die Stiefel sind zu eng; an den Fersen brennt es wie Feuer.

Immer schneller, scheint mir, spuren die vor mir durchs Laub, kaum noch kann ich Anschluss halten, hinter mir schnaufen die Nachfolgenden. Ein Käuzchen, ein Uhu oder welche Nachteule auch immer – etwas schreit durch den Forst, für mich ist’s ein Signal. Ich beschließe, die Tour abzubrechen. Das Programm in diesem Adventure-Camp ist sowieso eine Zumutung; frühes Aufstehen, schlechtes Essen, viel Stress und ein unmöglicher Umgangston. Jetzt reicht’s.

Der Vordermann, schon 20 Meter entfernt und in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen, biegt nach links ab, in den Hochwald hinein. Ich hinke einfach geradeaus, mitten ins Gebüsch. Ätsch, denke ich, murmele es auch leise vor mich hin.

Erst leicht, dann steiler abwärts windet sich der Untergrund, irgendwo weiter unten rauscht ein Wildbach. Mit letzter Kraft schleppe ich mich vorwärts, um bei den Nachfolgenden keinen Argwohn zu wecken. Ich kann es kaum glauben: Es funktioniert, die anderen folgen mir wie Lemminge. Erst nach wohl zehn Minuten hat der Unteroffizier Verdacht geschöpft und ist zu mir nach vorne geeilt.

»Gerbert, Sie schon wieder! Wo laufen Sie denn hin?«

»Meine Füße sind kaputt. Die vor mir waren zu schnell. Ich bin halt immer geradeaus gegangen.«

Bei militärischen Nachtwanderungen gilt die Regel: Als Erster geht jemand, der den Weg kennt. Die anderen folgen im Gänsemarsch. Problem: Verliert einer den Anschluss und geht dann in die Irre, ist der Trupp gesprengt. Und das hier, ein paar Kilometer von der Zonengrenze entfernt, hinter der der Warschauer Pakt (wie man uns in den vergangenen Tagen instruiert hat) nur auf eine günstige Gelegenheit zur Invasion lauert! Heute Nacht hätten Breschnew, Honecker und Konsorten leichtes Spiel gehabt.

Glücklicherweise werde ich nur beschimpft und nicht hingerichtet. Nachdem man mir Rucksack, Gewehr und Stiefel abgenommen hat, wobei meine bluttriefenden Fersen zum Vorschein kommen und Mitgefühl auslösen, packen mich die vier stärksten der Kompanie an je einem Arm respektive Bein und tragen mich, Vorderseite nach oben, zurück in die Kaserne. Der Nieselregen nässt mein Gesicht, doch noch nie während der vergangenen drei Wochen meines Grundwehrdienstes in Wildflecken/Rhön habe ich mich so glücklich gefühlt. Ich ahne: Die Tortur ist bald vorbei.

Meine militärische Laufbahn endet schon tags darauf in einer Wehrarztpraxis in Bad Brückenau. Gegen meine Tauglichkeit spricht nicht nur der verpatzte Nachtmarsch, sondern auch das Versagen ein paar Tage zuvor bei einem 2000-Meter-Lauf, den ich trotz wütender Durchhaltebefehle schon nach der halben Distanz beendet hatte. Erleichtert wird dem Herrn Doktor der Entscheid zusätzlich durch die Diagnose eines Herz-Kreislauf-Problems, das er mittels EKG entdeckt zu haben glaubt, wozu ich sagen muss, dass ich während der Zeit im Warteraum die Füße immer ein paar Zentimeter über dem Boden gehalten hatte, wodurch ich beim Eintritt ins Sprechzimmer völlig fertig war. Am Nachmittag darf ich die Heimreise antreten.

Mag sein, dass meine Abneigung gegen nächtliche Touren und meine Skepsis gegenüber dem Wandern in großen Gruppen von dem erlittenen Trauma herrührt. Sollte ich im Nachhinein die Bundesrepublik Deutschland verklagen? Ich glaube, die gewonnenen anderthalb Jahre Lebenszeit sind Entschädigung genug.

Seither habe ich beim Wandern aber immer eine Taschenlampe dabei.

Warnhinweise und Nebenwirkungen

Wandern hat auch Nachteile. Es ist eines der beliebtesten Hobbys der Deutschen.

Es bringt Ihnen zunächst mal, anders als Windsurfen, Eisfallklettern oder Weltumsegeln, keinen besonderen Distinktionsgewinn, wie die Soziologen sagen. Soll heißen: Weil so viele es tun, können Sie sich nur wenig darauf einbilden. Und zwar von Jahr zu Jahr weniger, denn eine repräsentative Marktstudie des Allensbach-Instituts verzeichnete zuletzt eine enorme Zunahme der wandernden Bevölkerung – von 54 auf 62 Prozent (oder, in absoluten Zahlen, von 34,7 auf 40,4 Millionen Einwohner ab 14 Jahren).

Ein bisschen stolzer dürfen Sie sein, wenn Sie »häufig« wandern (und nicht bloß »ab und zu«): Dann sind Sie einer von nur 8,7 Millionen (13 Prozent).

Wanderer suchen Stille und Einsamkeit, finden sie aber nur manchmal. Auf beliebten Wegen herrscht, vor allem sonntags, übles Gedränge. Auf schmalen Pfaden müssen Sie umständlich den Entgegenkommenden ausweichen oder langsamere Zeitgenossen überholen und diese wandelnden Hindernisse auch noch grüßen! An manchen Stellen können gar Staus entstehen wie auf den Bundesautobahnen freitagnachmittags.

Wenn Sie wandern, betreiben Sie kein Hobby mit jugendlichem Image. Zwar hat die Zahl der 14- bis 29-Jährigen, die durch Wald und Flur ziehen, ausweislich der besagten Umfrage zugenommen (in zwei Jahren von 4,8 auf 5,6 Millionen), doch relativ zu allen Wanderern blieb ihr Anteil mit 14 Prozent gleich. Genau 50 Prozent der Fußmarsch-Liebhaber sind unter 50, die anderen 50 über 50. (Ich bin 50 plus eins, bringe also nahezu ideale Voraussetzungen dafür mit, dieses Buch zu schreiben.)

Wandern kann ziemlich langweilig sein. Routen verlaufen oft auf breiten Forstwegen, gar an Straßenrändern, führen durch monotonen Nadelwald, bieten wenig Aussicht. Auf Tagestouren muss man häufig denselben Weg hin und zurück nehmen, was nicht gerade umwerfend spannend ist.

Wandern ist nicht einmal umweltfreundlich. Die allermeisten fahren mit dem Auto in die Natur. Beim Gehen stören sie zwangsläufig die Wildtiere, oft legen sie Trampelpfade an, um Wegbiegungen abzuschneiden. Sie zwingen durch ihre Nachfrage Hütten und Ausflugsgaststätten, den Nachschub per Auto, Jeep oder Hubschrauber heranzukarren. Schwacher bis mittelstarker Trost: Fast alle anderen naturnutzenden Freizeitbeschäftigungen sind noch umweltschädlicher.

Wandern ist nicht billig. Gegen die manipulativen Einflüsterungen der Sportartikelindustrie haben Sie letztlich keine Chance. Eigentlich brauchen Sie für das Hobby ja nur feste Schuhe (und nicht mal die, wie die Sekte der Barfußwanderer behauptet), doch bald werden Sie glauben, auch Dinge wie Aircomfortrucksack, Doppelzipphose, Kapuzensweater, Fleecehemd, Funktionsunterwäsche, Karbonteleskopstöcke, Mikrofaseroutdoorjacke oder Ähnliches zu brauchen. Und das kostet Sie mindestens einen Tausender. Nebenbei gesagt: Vieles davon ist wirklich nützlich.

Wenn Sie vor allem Gewicht verlieren wollen: Suchen Sie sich was Anstrengenderes. Falls Wandern so ideal fürs Abnehmen wäre, wie manche behaupten, wäre Deutschland das Land der Ranken und Schlanken. Schon der Augenschein belegt das Gegenteil. Auch ich war enttäuscht, als sich in meiner ersten Intensivwandersaison ein deutlicher Gewichtsverlust zunächst nicht einstellen wollte.

Prinzipiell verbraucht man beim Wandern zwar nicht unerheblich Energie. Aber eben nicht so viel wie bei echten Kalorienfressern wie Laufen, schnellem Radfahren oder dem Work-out im Fitnessstudio. Und vor allem: Es kommt auf das Wie an. Laut Statistiken verbrennt man in einer Stunde gemächlichen Wanderns im Flachland etwa 200 Kalorien. Davon muss man freilich noch 80 oder 90 abziehen, die man auch beim bloßen Rumsitzen verbrauchen würde. Wer also fünf Stunden im normalen Tempo von etwa vier Stundenkilometern ohne große Steigungen wandert (also immerhin 20 Kilometer weit), verbrennt nur 500 bis 600 Kalorien mehr als normal. Wenn die betreffende Person während der Tour eine Tafel Schokolade verzehrt oder sich später im Gasthaus zwei Halbe Bier oder eine Sahnetorte genehmigt (was sie ohne die Wanderung nicht getan hätte), ist das schöne Kalorienminus schon wieder weitgehend aufgefüllt, und die Wampe bleibt gerundet.

Erst beim zügigen Gehen (mindestens fünf km/h im Flachen) oder beim Bergaufwandern, am besten mit Gepäck, steigt der Kalorienverbrauch auf recht sportliche 300 bis 450 pro Stunde. Daraus folgt: Wenn Sie abnehmen wollen, dann müssen Sie so voranschreiten, dass es Sie merklich anstrengt, dass Ihr Puls in Fahrt kommt, dass Sie hörbar atmen, dass der Schweiß ein bisschen fließt. Wenn Sie dazu keine Lust haben, dann nehmen Sie wenigstens keine Schokolade, Nüsse oder Energieriegel mit (so was brauchen Sie dann eh nicht), und mäßigen Sie sich beim Gasthausbesuch.

Achtung, Wandern ist gefährlich! Jedenfalls dann, wenn Sie es im Hochgebirge tun. Vermutlich mehrere hundert Alpenwanderer (eine Gesamtstatistik gibt es nicht) kommen jährlich zu Tode. Im Jahr 2003 starben allein 65 Mitglieder des Deutschen Alpenvereins in den Bergen – und diese Leute sind wohl im Durchschnitt fitter und erfahrener als sonstige Bergsportler. Zwar befanden sich unter diesen Unglücklichen auch Kletterer und »richtige« Bergsteiger, aber auch nicht weniger als 23 »Nur-Wanderer«. Todesursachen der Letzteren: vor allem Herz-Kreislauf-Versagen, Stolpern und Ausrutschen. Einige wurden auch durch Lawinen oder Steinschlag dahingerafft.

Der deutsche Wanderexperte Rainer Brämer hat sich ob solcher Zahlen mit den Autoren einer österreichischen Studie angelegt, die nachweisen wollten, dass Wandern in einer Höhe zwischen 1500 und 2500 Metern der Gesundheit besonders zuträglich sei. Unter Berufung auf dieses Werk vermarkten Tourismusorte der Alpenrepublik, welche sich ja bekanntlich in diese Höhen reckt, angeblich segensreiche »Welltain«- Wanderwochen. Brämer wiederum stellt den Wohltaten des Höhenwanderns dessen Gefahren entgegen und kommt zu dem Schluss, dass das Herumlaufen im Hochgebirge, nach »Bewegungsstunden« gerechnet, gefährlicher als Autofahren sei. Dem Körper wesentlich zuträglicher, meint er, sei die Betätigung unter der Höhengrenze von 1400 Metern, vor allem für Männer über 50.

Dazu sollte man allerdings wissen, dass Brämer sein Geld unter anderem damit verdient, für deutsche Mittelgebirge (die die letztgenannte Höhe kaum überschreiten) Wanderwege zu begutachten und Marketingmaßnahmen zu entwickeln.

Neuerdings kommt das Unheil – ob im Mittel- oder Hochgebirge – von einer Seite, von der man es am wenigsten erwarten würde. Das musste (ein Beispiel unter leider vielen) eine zehnköpfige deutsche Großfamilie erleben, die bei Saalbach in Österreich eine Kuhweide durchqueren wollte. Plötzlich ging ein Rind auf die siebenjährige Tochter Nina los. Als ihr der Vater zu Hilfe eilte, starteten die Wiederkäuer einen Großangriff. Vier Familienmitglieder erlitten Brüche oder Prellungen, Oma sogar einen Herzanfall.

Kuhangriffe gab es schon immer, auch in Deutschland, in den letzten Jahren häufen sich aber die Meldungen. Hintergrund ist – kaum bekannt – eine Innovation in der Viehhaltung: Statt Milchkühe werden immer mehr Fleischrinder gehalten. In solchen Herden darf Kälbchen bei Mutti bleiben. Auch ein Stier ist dabei, der sich der Damen reihum annimmt. Die naturnahe Haltung lässt animalische Mutter- und Beschützerinstinkte wieder aufleben – Wanderer können das zu spüren kriegen.

Experten raten: solche Weiden umgehen; falls unmöglich, maximalen Abstand zu den Tieren halten. Einen Stock mitführen und ihn notfalls der angreifenden Bestie auf die Nase hauen. Bei einem Stier kann man als nervenstarker Zeitgenosse auch versuchen, den Nasenring zu packen und umzudrehen, das soll seinem Träger so weh tun, dass er Ruhe gibt.

Hoffentlich haben Sie jetzt noch nicht die Trekkinghosen voll. Denn es gibt auch ein paar nennenswerte Gründe für das Wandern. Die erfahren Sie, wenn Sie dieses Buch weiterlesen.

Nachtrag: Mir kam gerade ein Artikel unter die Augen, der die Gesamtzahl der im vorletzten Jahr beim Schwimmen in Freibädern, Seen oder Flüssen ertrunkenen Deutschen enthält: 324. Man sollte alles in der Relation betrachten.