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Stefanie Zweig

Am Sonntag kommt
das Enkelkind

und andere Einblicke
in meine Welt

LangenMüller

Meinem Großneffen Max Zweig, dem ich
den Blick in die Welt der Kinder verdanke.

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2011 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2011 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Der Abdruck des Umschlagmotivs erfolgt mit
freundlicher Genehmigung der Swarovski AG
Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8034-3

Inhalt

Kein Pudding für die Enkelkinder

Sonntags gibt es für die Enkelkinder Hühnchen und einen Berg von Schokoladenpudding mit butterblumengelber Vanillesauce im Glaskrug. Der Nachmittagskakao heißt Schokolade, und der Kuchen hat Streusel. In der Uhr wohnt ein Kuckuck. Oma sitzt im Schaukelstuhl, strickt Strümpfe und erzählt von Dornröschen und dem Prinzenkuss.

Das alles war einmal und kommt nicht wieder, wenn es auch noch Menschen gibt, die diese Bilderbuchzeiten erlebt haben. Urgroßmütter sind heute die Kinder von damals, oft fällt es ihnen schwer zu fassen, was mit der Welt geschehen ist, seitdem das Sauerkraut nicht mehr aus dem Fass verkauft wird und Heringe nicht mehr in Zeitungspapier.

Die Enkel dieser Urgroßmütter sind erwachsen. Sie mögen weder Pudding noch Kuckucksuhren, finden das Leben stressig und Arbeit eine Zumutung. Ihre Kinder nennen sie Kids, fordern für sie Ganztagsschulen und zweisprachige Kindergärten. Die Oma alter Schule ist derweil zur Powerfrau mutiert. Ihre Haare sind heute grau und morgen blau, sie sorgt sich um ihre Taille, hat einen Beruf, geht abends ins Fitnessstudio und samstags in den Literaturkurs.

Es sind die Urenkel, die alten Menschen helfen, die moderne Welt zu durchschauen. Mir hat die Glücksfee den Großneffen Max beschert – ein Technikfreak mit geschickten Händen ist er, der sich für Lampen, Schrauben und Türschlösser interessiert. Handys schätzt er hoch, Automarken kennt er wie ich in seinem Alter die Namen meiner Puppenkinder. Ich baue darauf, dass Max mir bald die Kindersicherungen an den Putzmittelbehältern aufschraubt. Verlangt es ihm nach Schneewittchen, holt er sich die Zwergenwelt von Papas iPad.

Wie schön, dass dieses Kind des 21. Jahrhunderts sich noch mit großem Vergnügen aus Büchern vorlesen lässt. Das spornt seine Großtante, die Bücher schreibt, dazu an, den Griffel nicht aus der Hand zu legen.

Obwohl sie keine Bilder haben, greift der Dreijährige immer wieder nach der japanischen Ausgabe von meinem Buch »Nirgendwo in Afrika«. Philosophenernst schaut er auf die schönen Schriftzeichen, oder er lächelt wie ein junger Mann, den zum ersten Mal Amors Pfeil getroffen hat. Und weil ich trotz meiner 78 Lebensjahre noch immer nicht gelernt habe, verzauberten Momenten zu widerstehen, bricht mir das Herz. So wie ein Kinderlächeln wärmt kein Sonnenstrahl. Gesegnet seien die Herzensbrecher, die noch nicht wissen, was sie tun.

Glück im Zopfmuster

Sie stricken in Lüneburg und in Liverpool, an der Loire, unter Südtiroler Apfelbäumen und auf der schwäbischen Eisenbahn. Eine Zeitlang wurde bei uns die Kunst der klappernden Nadeln als altmodisch und hausbacken diffamiert. Strickende Frauen sahen nach landläufigen Vorurteilen alle wie die Witwe Bolte aus, der Max und Moritz das Mittagessen klauen.

Zwei rechts, zwei links, Maschen zählen, Muster stricken, das alles passte nicht ins Bild unserer Zeit. Lorbeeren bekommen heute die coolen Typen, die auf Erfolg getrimmten Powerfrauen und die Businessladys, die nicht vergessen, regelmäßig ihr Innenleben zu entkernen und ihr Herz auszukehren. Solche Erfolgsamazonen geben sich nicht damit ab, dem Teddy der Tochter ein Mützchen zu stricken oder dem Gatten einen Pulli im Zopfmuster. Es war nie anders. Cleopatra hat sich einen Dreck darum geschert, ob Cäsar wollene Socken für kalte Nächte hatte, Katharina die Große hat nicht gestrickt, obgleich man in Russland wahrlich warme Sachen braucht, und Englands Suffragetten, die ja mit als erste auf die Idee kamen, Frauen und Männer wären gleich gestrickt, haben sich an Zäune gekettet. Das ist beim Stricken hinderlich.

Heute darf jede Frau mit Wolle werkeln, ohne in den Verdacht der Spießigkeit zu geraten. Bankerinnen und Politikerinnen stricken, Elektronikspezialistinnen ebenso und auch die Psychiaterin mit zwei Doktortiteln. Wetten, dass Angela Merkel stricken kann? Sie entstammt ja der Generation, die zu Muttis Geburtstag selbst gemachte Topflappen abzuliefern hatte. So weit, dass Frau M. im Bundestag einen gestreiften Schal strickt, um ihre Hosenanzüge aufzupeppen, sind wir zwar noch nicht, aber Stricken ist total in. Es gilt als kreativ und nervenberuhigend.

Die Stricknadeln sind schöner und flexibler als früher; wer sich aufmacht, um Wolle zu kaufen, vermag kaum zu fassen, was aus einem Schaf alles werden kann. Geschäfte für die handarbeitende Zunft sind Wärmestuben für die Seele. Hier treffen sich Alt und Jung, Anspruchsvolle und Bescheidene, Sparsame und Verschwenderinnen. Die Beraterinnen (sie Verkäuferinnen zu nennen, wäre unfein) sind geduldig, liebenswürdig, interessiert und sachkundig.

Nach langen Jahren der Abstinenz stricke ich auch wieder. Neulich machte mir ein Teenager mit lila Haaren ein Kompliment für meine selbst gestrickte Mütze. Seitdem trage ich den Kopf in den Wolken. Im Himmel stricken sie nämlich ihre Schals aus Sonnenstrahlen.

Wer singt denn noch die alten Lieder?

Schrill zwitschert die Amsel vom Mutterglück. Sie ist berauscht vom Krokuswein und verwechselt den März mit dem Mai, aber die Dame täuscht sich. Die Sonne schluckt nämlich Grippepillen und schlürft Kamillentee. Das Frühjahr ist heute laut Kalender einen Tag alt, doch absolut noch nicht da. Die Magnolienblüten haben die Premiere verschoben, Schmetterlinge studieren die Angebote für Heizkissen. Die Gänseblümchen hocken auf dem Rasen, der noch nicht sprießt, und meditieren über den Sinn des Lebens.

Kein Kind erfährt mehr, dass im März der Bauer die Rösslein anspannt, denn die jungen Mütter singen nicht mehr die alten Lieder. Nur grauhaarige Weltflüchtlinge lesen noch Gedichte. Im Fernsehen führen Models mit starrem Blick schon die Mode für den nächsten Winter vor. Viel Schwarz ist angesagt und noch mehr Traurigkeit.

Wir reden immerzu von Krisen und nie von Frühlingsbrisen. Wer weiß, ob die Störche noch Babys mit sich führen, die in roten Tragetüchern liegen und vom Leben schwärmen? Fingen nicht in früheren Jahren um diese Jahreszeit die ersten Hasen mit dem Eierlegen an? Das Gerücht will aber wissen, dass sie noch über das Recht der deutschen Löffelträger zur eigenständigen Herstellung von Nougat und Marzipan debattieren. Ein jeder, so stand jüngst in einem gut informierten Hasenblatt zu lesen, neide dem anderen entweder die Mandeln oder die Eierfarben.

Hausfrauen turnen nur noch selten auf dem Fenstersims. Die Teppichklopfer aus Rohr wanderten auf den Speicher. Teppiche werden nicht mehr verprügelt. Wen verlangt es noch nach der Aprilfrische alter Art, wer schrubbt noch Bellos Körbchen mit Seifenlauge aus? Wenn es kein Frühjahr gibt, wozu den Staub durchs Zimmer jagen, weshalb den Seidenkissen den Hintern versohlen?

Wer die Flinte ins Korn wirft, tut nicht gut. Ist auch nicht auf den Frühling Verlass und schon gar nicht auf den Kalender, der ihn meldet, so sollten wir doch unseren Kopf hoch und die Augen offen halten. Der Lenz war doch immer ein launischer Kerl. Er führt seit jeher Mensch und Tier an der Nase herum, versteckt sich hinter Bäumen und dreht Däumchen im Gebüsch. Ein Unmensch ist er aber nicht. Letzten Endes kommt er nämlich doch mit blauem Stirnband und mit Glück in Tüten. In der Hand hält er einen blühenden Mandelzweig, morgens duftet er schon nach Vanille und pfeift frohe Lieder. So ist es jedes Jahr gewesen, so wird es auch diesmal sein. Dann wird der Himmel veilchenblau, die Vögel proben große Oper. Selbst von Straßenlaternen regnet es Blütenstaub. Und der Mensch lernt wieder zu glauben. Eines Tages weiß er ganz genau, dass Träume keine Schäume sind und Liebesschwüre grundsätzlich von Dauer.

Was schief gehen kann, geht schief

Hatte einstens ein Zug nur drei Minuten Verspätung, dann war es bestimmt einer aus dem Ausland. Oder der Lokomotivführer war kein Deutscher. Und die Uhr, auf die man geschaut hatte, war auch nicht von hier. Weil mein Gedächtnis so gut ist, wie die Reichsbahn einst war, kann ich mich leider an die Zeiten erinnern, als bei uns die Dinge noch funktionierten. Wie am Schnürchen, pflegte man damals mit geziemendem Stolz zu sagen. Das hat sich mächtig geändert. Was heute schiefgehen kann, geht auch schief.

Ein Zug der Bundesbahn verspätet sich nicht mehr um läppische drei Minuten. Vierzig sind keine Ausnahme. Die werten Reisenden werden um Verständnis gebeten. Leider funktionieren die Lautsprecher gerade nicht. Oder der Verkünder des Ungemachs hat Schnupfen und nuschelt. Allerorten gibt es zur täglichen Portion Leben die kleinen Fehler als Gratiszugabe. Des Öfteren auch die großen Pannen. Der Klempner kommt zwei Stunden später als angesagt. Er ist schuldlos, sein Auto hat gebockt. In der Pfanne schmilzt das Schnitzel. Frau Metzgermeisterin bedauert. Die Bauern seien schuld. Sie ernährten ihre Kälber falsch. Der Pullover, obgleich nach Anweisung behandelt, passt nach der Wäsche allenfalls Schneewittchens Zwergen. Das liegt bestimmt an einem pflichtvergessenen Schaf. Das Buch konnte nicht rechtzeitig ausgeliefert werden. Den Druckmaschinen war übel. Wen immer wir am Telefon suchen, ist laut Kollegenauskunft gerade nicht am Platz. Die Zusage, er ruft zurück, oder das Versprechen, ich werde mich darum kümmern, bedeuten: Das können Sie vergessen. Verduften Sie, aber dalli.

Im Restaurant sind die Kartoffeln halb gar und die Scholle in Panade erstickt, aber der Koch kann nichts dafür. Fahrkartenautomaten futtern auch an Streiktagen Groschen. Kranke werden zum Arzt bestellt und müssen dort so lange warten, als wären sie Bittsteller. Bürgertelefone schweigen, die elektronische Anzeige gibt falsche Abfahrtzeiten für die Züge an. Der Briefträger hat die Post verwechselt, die Hebamme zwei Babys. Der Chef hält sich für Superman. Auch Neurosen wachsen Dornen. Und geht eines Tages die Welt unter, will es keiner gewesen sein.

Das Kind beim Namen nennen

Bei der Namenswahl für Tochter und Sohn haben Eltern heute viel mehr Phantasie als frühere Generationen, die ihre Söhne Hans und Dieter nannten und dann Hans-Dieter für so avantgardistisch hielten wie ein Bild von Picasso und eine Frau am Steuer. Geblieben ist seit Adam und Eva das Bemühen, per Vorname kenntlich zu machen, dass das eigene Kind ein ganz besonderes ist. Amadeus heißt der Sohn von Boris und Lilly Becker – nicht zu verwechseln mit dem noch berühmteren Mozart, der auch Amadeus hieß, aber mit einem gutbürgerlichen Wolfgang davor.

Gutbürgerliches wird heute vor allem von der Rampenlicht-Elite gescheut. Wer vom Auffallen lebt, will auch, dass der Nachwuchs schon im Windelalter beweist, dass er kein beliebiger Hans oder Gretchen ist.

Oliver Pocher, als Komödiant in Diensten des deutschen Humors tätig, und Frau Sandy haben ihre Tochter Nayla Alessandra genannt. Die Fußball-Beckhams ihre Söhne Brooklyn Joseph, Romeo und Cruz. Die Idee, sein Fleisch und Blut nach dem Ort der Entstehung zu nennen, ist nicht neu. Paris Hilton tut seit Äonen kund, dass ihre Wiege nicht in Posemuckel stand. Der Sohn von Verona Pooth heißt nicht etwa Spinat wie das Gemüse, das seine Mami berühmt gemacht hat, sondern Diego. Sollte er Stierkämpfer werden wollen, ist so ein Name besser als Otto. Heikler finde ich es, wenn ein Mädchen Kingston heißt, was wohl nicht nur für die Beziehung der Mutter (Sängerin Gwen Stefani) zu Jamaika spricht, sondern darauf hindeuten könnte, dass Mummy leicht gaga sein dürfte.

Dankbar bin ich meinen Eltern, dass sie mich nicht Leobschütz genannt haben. Ich stelle es mir schrecklich vor, für den Rest des Lebens erklären zu müssen, dass es sich bei Leobschütz um eine oberschlesische Kreisstadt handelt, die heute polnisch ist und Glubczyce heißt. Stefanie war selbst für meine Mitschülerinnen und Lehrer in Kenia leidlich gut aussprechbar – eine kleine Entschädigung, dass mein Nachname für anhaltenden Argwohn in Bezug auf meine politische Zuverlässigkeit sorgte.

Sind Vornamen auch Sache der Eltern, so müssen ausschließlich die Kinder auslöffeln, was Mami und Papi ihnen einbrocken. Wie gut, dass in Deutschland per Gesetz nicht alles geht, was Kleinhirnen einfällt. Sind zwar auch hier schon Namen wie Che, Cheyenne und Emma Tiger ein alter Hut, darf niemand sein Kind Eisenbahn, Telefon, Laptop oder Joystick nennen. Noch nicht.

Hilfe, Rucksäcke!

Unsere Ahnen, die Affen, trugen keine Rucksäcke. Der Affenmann hält sich aus Prinzip den Buckel frei, die Damen benutzen vorwiegend den Bauch, um ihre Babys von A nach B zu transportieren. Uns ging es hingegen schon immer um praktisches Reisegepäck. Schon Ötzi, der Steinzeitmann, wurde mit einem Gerät aufgefunden, an das sich Gegenstände binden ließen. Die findige Konstruktion war zweifellos der Vorläufer des Rucksacks. Als der Mensch dann Stoff und Leder zu nutzen begann, begriff er vollends, wie nützlich so ein Tragegerät ist.

Der globale Siegeszug des Rucksacks setzte natürlich erst ein, als sowohl Sklaven als auch Packesel nicht mehr zur Verfügung standen. Fortan mussten alle außer Kaiser, König und Hochadel ihre Lasten selber tragen. Bei Naturvölkern wird traditionsgemäß noch der Frauenrücken beladen.

Ursprünglich saßen die Rucksäcke stramm auf dem Rücken von Globetrottern (ein hübsches Wort für Nichtstuer und Erlebnishungrige, das nicht mehr in Mode ist). Heute kommt praktisch auf jeden Rücken ein Rucksack, wobei das Känguru ihn vorne trägt und Babytragetasche nennt. Der altmodische Kinderranzen wurde durch einen schicken Rucksack ersetzt.