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Billy Ehn/Orvar Löfgren

Nichtstun

Eine Kulturanalyse des
Ereignislosen und Flüchtigen

Aus dem Englischen von
Michael Adrian

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.Hamburger-Edition.de

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1 Warten

Schauplätze des Wartens

Zähflüssige, verschwendete oder tote Zeit?

Vom Erlernen der Geduld – und der Ungeduld

Kulturen des Schlangestehens

Gefühlsklimata

Machtspiele

Paradoxien des Wartens

Kapitel 2 Routinen

Jonglieren wie ein Uhrwerk

Morgendliche Gewohnheiten und rituelle Speere

Kleine Routinen, große Konflikte

Multitasking

Krisen und Kontrolle

Die Macht der Gewohnheit

Kapitel 3 Tagträumen

Träumer in Aktion

Rühriger Leib, ausschweifender Geist

Einengung und Ausbruch

Abenddämmerung und Morgengrauen

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Die Politik des Tagträumens

Ein Joker

Kapitel 4 In den Hinterhöfen der Moderne

Gemeinsame Verständnisse

Emotionalität und Macht

Wie sich Schichtzugehörigkeit herstellt

Subversivität

Eine Brücke zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten

Postskriptum Wie betreibt man eine Ethnografie von »Nichtereignissen«?

Danksagung

Bibliografie

Zu den Autoren

Einleitung

Viertel vor fünf an einem gewöhnlichen Donnerstagnachmittag im Supermarkt. In den langen Schlangen an der Kasse stehen die Menschen geduldig an, starren in die Luft oder plaudern miteinander. Manche scheinen vor sich hin zu träumen, andere blicken neugierig umher. Eine alltägliche Szene, trivial und wenig aufregend. Es ist nicht leicht zu sagen, ob die Menschen anwesend sind oder nicht. Geistig könnten sie sich ganz woanders befinden. Sie haben schon so oft in diesem Supermarkt eingekauft, dass sie es beinahe im Schlaf tun könnten. Sie wissen, wie sie ihren Einkaufswagen durch die Gänge schieben, ohne mit anderen zusammenzustoßen, und sie wissen genau, wo sie die fettarme Milch, das Spülmittel und das Olivenöl Extra Vergine finden. Ihre Gewohnheiten bilden unsichtbare Landkarten und Bedienungsanleitungen, die dafür sorgen, dass der Alltag funktioniert.

Ein Mann kommt mit einem gut gefüllten Einkaufswagen und muss sich für eine Kasse entscheiden. An welcher wird es heute am schnellsten gehen? Mit geübtem Blick überfliegt er die Kunden in den verschiedenen Schlangen und den Inhalt ihrer Wagen. Ein älterer Herr, der womöglich einen oder zwei Artikel umtauschen möchte, mehrere Studenten, die es eilig haben, Eltern mit kleinen Kindern, die auf wackligen Beinen neue Waren anschleppen und sie in den Wagen legen wollen. Viele Faktoren sind zu berücksichtigen.

Unser Mann entscheidet sich für Kasse fünf und registriert, wer sich in diesem Moment links und rechts neben ihm anstellt. Der Wettkampf hat begonnen. Er ist ungehalten über einige Trödler, die er vor sich sieht, und hält unruhig die Leute in den Nebenreihen im Blick. Für einen Moment schiebt er sich vor seine ahnungslosen Rivalen, plötzlich aber stockt seine Schlange: Eine Frau moniert an der Kasse irgendwelche Preise, und er fällt zurück.

Seine Erregung wächst mit jedem Zentimeter, den er wiedergutmacht. Als er seine Einkäufe endlich aufs Band legen kann, wirft er dem jungen Paar vor ihm, das umständlich mit einer Kreditkarte hantiert, einen wütenden Blick zu. Diesmal, so sieht es aus, wird er sich mit einem zweiten Platz begnügen müssen. Er hat überschätzt, wie lange die Familie in der Schlange auf seiner Linken brauchen würde.

Da bietet sich unerwartet eine neue Chance. Der junge Assistent, der die Einkäufe der siegreichen Familie in Tüten verstaut, wird durch deren dreijährigen Sprössling behindert, der ihm helfen will. Mit etwas Glück kann unser Mann den Kassenbereich immer noch als Erster hinter sich lassen. Gewonnen, frohlockt er im Stillen, und wirft der Familie einen triumphierenden Blick zu. Die Mutter, die seinen Gesichtsausdruck mitbekommt, wirkt überrascht.

Eine Szene wie diese an einem gewöhnlichen Tag in einem gewöhnlichen Supermarkt brachte uns ins Grübeln darüber, was eigentlich geschieht, wenn sich nichts Besonderes zu ereignen scheint. Welche verborgenen Bedeutungen verbinden sich mit den Routinen des alltäglichen Lebens der Menschen? Unser Supermarktkunde verwandelte das Schlangestehen in ein kleines Abenteuer, wenn auch nur in seiner Fantasie.1 Ist er eine Ausnahme, oder ist sein Verhalten allgemein üblich?2

Als wir begannen, Menschen nach ihren Erfahrungen mit banalen alltäglichen Aufgaben zu befragen, sammelten sich schnell Berge von Material an. Viele Männer und Frauen erzählten uns, dass sie sich alle möglichen geheimen Wettbewerbe ausdachten. Aufgrund unserer formlosen Anfrage bei fünfhundert Studenten und Studentinnen schickte uns einer von ihnen eine detaillierte Beschreibung just eines solchen Wettbewerbs:

Ich bin mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs. Irgendwo hinter mir höre ich ein Auto und sehe gleichzeitig eine Straßenlaterne vielleicht fünfzig Meter vor mir, und Peng!, das Wettrennen beginnt. Natürlich muss es einigermaßen lächerlich aussehen, wenn ich auf meinem Eingangrad wie ein Verrückter in die Pedale trete. Aber wenn ich als Erster bei dem Laternenpfahl bin, bin ich überglücklich. […] Nach einem solchen Sieg schwebe ich für den Rest des Tages wie auf Wolken.

In dieser Gruppe von Studierenden, alle in ihren Zwanzigern und Dreißigern, erwiesen sich geheime Wettkämpfe als ein wichtiger Zeitvertreib. Viele von ihnen genierten sich ein wenig über das Eingeständnis ihres Konkurrenzdenkens im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die man für albern halten könnte. Wie einer von ihnen schrieb, ist es eher kindisch, immer gewinnen zu wollen. Als ihnen aber klar wurde, dass ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen ähnliche Dinge taten, öffneten sie sich, und nicht wenige gaben zu: »Ich messe mich in allem, was ich tue!«

In ihrer Vorstellung kann sich jede Alltagssituation in ein Spiel verwandeln; jeder öffentliche Raum – eine Straße, ein Bürgersteig, ein Fahrstuhl – kann zur Arena eines verbissenen Wettstreits werden. So verwandeln sich gewöhnliche Stadtlandschaften in Rennstrecken. Jede grüne Ampel kann als Startsignal dienen, jeder Laternenpfahl als Ziel. Jeden Tag überbieten Menschen ganz für sich allein auf dem Weg zur Arbeit ihre persönlichen Bestmarken.

Der Einfallsreichtum in dieser geheimen Welt ist beeindruckend. Schaffe ich es, nach oben und in die Wohnung zu kommen, bevor die Eingangstür zugefallen ist? Kann ich den kompletten Weg zur Schule radeln, bevor das Stück auf meinem iPod zu Ende ist – und je kürzer das Lied, desto spannender der Wettkampf? Wie weit komme ich mit einer einzigen Tankfüllung; wie viele Schritte brauche ich maximal, um die Treppe hochzukommen; wie lange kann ich gehen, ohne auf einen Sprung im Belag des Bürgersteigs zu treten? Für manche Menschen scheint das Leben von Wettkämpfen durchdrungen zu sein, in denen sie entweder gegen sich selbst oder gegen ahnungslose Konkurrenten antreten.

Ich vergebe für fast alles, was ich tue, Punkte – ob ich aufräume, koche, arbeite, Geld verdiene, eine Wohnung nach der besten Aussicht auswähle, Ordnung in meinen Fotoalben halte, andere Länder aufsuche oder Sport treibe.

Diese Art fantasievoller Findigkeit ritualisiert und dramatisiert den Alltag. Inoffizielle Wettkämpfe, an denen für gewöhnlich nur eine Person teilnimmt, die sie selbst vielleicht sogar für eine etwas peinliche Marotte hält, sind in Wirklichkeit Teil einer breiten Bewegung. Ereignisse, die wir erfunden, Regeln, die wir geschaffen zu haben glauben, und die imaginären Podeste, die wir triumphal emporsteigen, erweisen sich als Allgemeingut – jedoch im Geheimen.3

Als wir die Antworten der von uns befragten Personen durchgingen, tauchten mehrere Themen immer wieder auf. Menschen nach geheimen Wettbewerben zu fragen, wurde zu einem guten Ausgangspunkt, um weitere Aktivitäten zu untersuchen, die normalerweise als unwichtig betrachtet oder noch nicht einmal als solche wahrgenommen werden. Diese Themen hatten unsere Aufmerksamkeit vermutlich deshalb nicht schon früher geweckt, weil wir sie für »Nichtereignisse« und insofern eher langweilige Momente hielten. Wie viele andere Kulturwissenschaftler auch hatten wir uns auf das Explizite, Ereignisreiche und Dramatische konzentriert. Nun beschlossen wir, uns den vielen Momenten des alltäglichen Lebens zu widmen, in denen nichts zu passieren scheint – der Welt der Übergangszonen, Zwischenzeiten, Pausen, den Momenten des Wartens und der Unentschiedenheit. Wenn nichts zu geschehen scheint, ist trotzdem eine Menge los – aber was?

Eines der Themen, die wir auswählten, war die Tätigkeit des Wartens auf etwas oder jemanden. Ein weiteres Thema bildeten alltägliche Routinen, die Erledigung banaler oder sich wiederholender Aufgaben, an die man kaum einen Gedanken verschwendet. Sowohl das Warten als auch die Routinen verleiten zu einer dritten Tätigkeit, dem Tagträumen, dem Fantasieren, während man körperlich mit anderen Dingen beschäftigt ist.

Es gibt viele andere Arten von Tätigkeiten, die wir hätten aufnehmen können, doch beließen wir es bei diesen dreien, weil sie uns als vielversprechendste Wege erschienen, um zu erforschen, was Menschen eigentlich tun, wenn sie »nichts tun«. Um das Infra-Gewöhnliche (l’infra-ordinaire) zu untersuchen, wie es der französische Schriftsteller Georges Perec genannt hat4 – das an unserem Leben, was uns so vertraut ist, dass es nahezu unsichtbar geworden ist –, mussten wir spezielle Techniken entwickeln; wir mussten das Offensichtliche verlernen und erneut betrachten, was wir bereits zur Kenntnis genommen zu haben glaubten oder bislang für selbstverständlich hielten. Joe Moran hat dies mit der Tätigkeit eines »Detektivs im Alltag« verglichen, der den Krempel des Banalen durchsiebt.5

Unser Interesse an der geheimen Welt des Infra-Gewöhnlichen wurzelt in einem Zweig der Anthropologie, der als europäische Ethnologie bezeichnet wird, einer Disziplin, die sich auf das alltägliche Leben in westlichen Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart konzentriert. Im Unterschied zu Gelehrten, die zu exotischen kulturellen Milieus aufbrechen, führt uns unsere Arbeit in der Regel in das Reich des vertrauten Alltäglichen, das uns alle umgibt. Wir verrichten unsere Feldforschung sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gegenden, sowohl an häuslich-privaten als auch an öffentlichen Schauplätzen.6

Im Lauf der Jahre hat uns zunehmend das Gefühl beschlichen, dass es eine Vielzahl von Phänomenen und Aktivitäten gibt, die wir zuvor nicht bemerkt oder nicht richtig verstanden hatten, weil sie entweder zu gewöhnlich oder zu unbedeutend waren. Stattdessen hielten wir danach Ausschau, »wo etwas los ist«, und verwechselten somit oft das Sichtbare mit dem Wichtigen.

Im vorliegenden Buch möchten wir diese Einseitigkeit wiedergutmachen, indem wir uns an einer Kulturanalyse des Ereignislosen, Flüchtigen und schwer Fassbaren versuchen.7 In unseren ethnografischen Beschreibungen von Nichtereignissen werden wir weniger über feste Identitäten und Strukturen sprechen als über das subtile Wissen, das in alltäglichen Fertigkeiten sowie geteilten Kompetenzen und Verständnissen liegt. Wir fragen, inwiefern triviale, alltägliche Beschäftigungen Überlegungen dazu herausfordern, was Menschen als selbstverständlich voraussetzen und für normal und natürlich halten.

Der Begriff des Nichtereignisses steht üblicherweise für ein erwartetes Ereignis, das sich entweder nicht einstellt oder als Tiefpunkt erweist, sich also in ein Pseudoereignis verwandelt, das den Erwartungen nicht gerecht wird. In diesem Buch jedoch verwenden wir den Ausdruck Nichtereignis in einem etwas engeren Sinn. Er soll uns dazu dienen, banale Tätigkeiten, die allgemein als unscheinbar und unwichtig, als der Aufmerksamkeit nicht wert gelten, sowie Beschäftigungen, die niemand sonst mitbekommt, zu erfassen.8 Von einem ethnografischen Ansatz ausgehend, machten wir einen Anfang, indem wir solche Nichtereignisse – mit Hilfe detaillierter Beschreibungen und verschiedener Arten von empirischem Material – zu erfassen versuchten.9

Um die oft verborgene Welt des Wartens, der Routinen und des Tagträumens in den Griff zu bekommen, mussten wir eher unkonventionelle Methoden anwenden. Das unsichtbare Abenteuer im Supermarkt öffnete uns die Augen und warf zwei Fragen auf, auf die wir immer wieder zurückkamen: Wie können wir verstehen, was sich wirklich abspielt, wenn nichts Wichtiges zu passieren scheint? Und wo sind die Menschen geistig, wenn sie körperlich anwesend sind?

Nichts zu tun ist ein Konzept, das Wissenschaftler ebenso interessiert hat wie Debattenführer. Diskussionen über das Nichtstun sind immer wieder in ideologische Auseinandersetzungen darüber umgeschlagen, wohin die Gesellschaft treibt. Kontrovers, weil moralisch aufgeladen, tendiert das Konzept des Nichtstuns dazu, hitzige Reaktionen hervorzurufen. Nichts zu tun kann mit Faulheit gleichgesetzt werden oder mit einem Protest gegen die Betriebsamkeit der zeitgenössischen Gesellschaft – mit einem, wie es heißt, politischen und philosophischen Projekt, einer »hohen Kunst«.10 Für Tao- und Zen-Anhänger kann das Nichtstun ein Zeichen von Weisheit sein, des höchsten Guts, dessen Ziel darin besteht, im Hier und Jetzt zu sein, im vollkommenen Bewusstsein der Gegenwart, statt die Zukunft zu planen oder für sie zu kämpfen.

Diese Herangehensweise an das Thema ist oft mit einer Kritik an der vermeintlichen zeitgenössischen Obsession des Westens mit der Produktivität, dem Kult der Geschwindigkeit und der Angst vor Zeitverlust verbunden.11 In den Vereinigten Staaten, so heißt es, ist Multitasking keine Option; wo Hyperaktivität die Norm ist, ist Multitasking ein Lebensstil. Menschen, die Zeitverlust mit Ineffizienz gleichsetzen, fühlen sich angesichts der Vorstellung von Freizeit oder der Vorstellung, die Tage einfach verstreichen zu lassen, unbehaglich. Solche Menschen betrachten ein aktives Leben als moralisch überlegen und traditionellen Fleiß als notwendigen Bestandteil des moralischen Gefüges.

Die Debatte über den Fleiß hat eine lange Geschichte. Es gibt auch die entgegengesetzte Auffassung, der zufolge der Kult der Geschwindigkeit insgeheim Fantasien über das Nichtarbeiten heraufbeschwört: Träume vom Müßiggang, Vorstellungen von einem unproduktiven, angenehmen Leben, die die Sehnsucht danach aufgreifen, bewusst untätig zu sein. Es gibt mehrere Bücher auf dem Markt, die diese Kunst zu lehren versuchen, und wie viele der Beiträge zu diesem Feld – einschließlich der akademischen – gleiten sie oft ins Moralisieren ab.12 Wir haben diese Debatte zum Ausgangspunkt genommen, wollen aber vermeiden, uns in Wertfragen zu verstricken – gut oder schlecht, zu wenig oder zu viel; das ist uns ein zu schlüpfriger moralischer Boden.13

Wir wollen vielmehr verstehen, was sich abspielt, wenn Menschen sich von der Aussicht, »nichts zu tun«, angezogen oder abgestoßen fühlen, wenn sie geduldig oder wütend warten, wenn sie alltägliche Routinen geistesabwesend erledigen und in mehr oder weniger abstrusen Tagträumen »die Realität fliehen«. Uns interessiert ebenfalls, wie diese Tätigkeiten miteinander zusammenhängen könnten und wie sie sich in verschiedenen kulturellen Kontexten entwickelt und verändert haben.

Indem wir uns an einer Kulturanalyse dieser drei Themen versuchen, können wir uns vielleicht der Frage nähern, die Georg Simmel vor einem Jahrhundert stellte: Wie ist Gesellschaft möglich?14 Auf welche Weise organisieren und tragen so banale Tätigkeiten wie die des Wartens, der Erledigung von Routineaufgaben und des Tagträumens – die ja oft einsame Beschäftigungen sind – das alltägliche Leben? Können sie uns vielleicht etwas über größere gesellschaftliche und existenzielle Themen sagen?

Um Fragen wie diese in Angriff nehmen zu können, haben wir verschiedene Forschungsstrategien miteinander kombiniert und uns von einer buntscheckigen Reihe von Gelehrten inspirieren lassen, zu der etwa Walter Benjamin, Christena Nippert-Eng, Gaston Bachelard und Elisabeth Shove gehören, um nur einige zu nennen.15

Unsere drei Themen spiegeln verschiedene Zugänge zur Welt des Ereignislosen wider. Indem wir das Warten studieren, konzentrieren wir uns darauf, wie die Menschen ihre Zeit verbringen: Vertreiben sie sich die Zeit, indem sie sich mit etwas anderem beschäftigen, oder sind sie völlig von der langsam voranschreitenden Uhr in Beschlag genommen? Alltagsroutinen illustrieren, wie man den Körper dazu bringen kann, Dinge zu tun, ohne dass man bewusst an sie denken müsste, was Zeit spart oder Freiraum für Wichtigeres schafft. Während man das Warten und die alltäglichen Routinen gegebenenfalls beobachten kann, ist das Tagträumen eine verborgenere Aktivität, während der die Menschen geistig abwesend sind, fern vom Hier und Jetzt, und doch in ihren Fantasien mit ihrer Umgebung interagieren.

Die Wahl dieser Themen machte es erforderlich, mit neuen kulturanalytischen Ansätzen zu experimentieren.16 »Stellen Sie Ihrem Kaffeelöffel Fragen«, schlug Georges Perec vor, und von da aus kann man zu der banalen Welt der uns umgebenden Gegenstände und Routinen übergehen: »Das, was wirklich befragt werden muß, ist der Ziegelstein, der Beton, das Glas, unsere Tischmanieren, unsere Gerätschaften, unsere Zeiteinteilung, unsere Rhythmen.«17 Wir sind diesem Vorschlag gefolgt und haben uns um eine genaue Untersuchung alltäglicher Materialitäten und Bewegungen als einen möglichen Zugang zu unserem Feld bemüht. Ein weiteres unserer Anliegen bestand in der Frage, wie Körper und Geist interagieren, zum Beispiel wie Menschen sich geistig in eine Situation hineinbegeben und diese wieder verlassen.

Unsere Methoden stützten sich somit auf eine Bastelei, eine bricolage mit verschiedenen Materialien. Wir begannen mit formlosen Umfragen unter Studenten, gingen dann zu Interviews und Beobachtungen über und hielten auch nach Beispielen und Ideen in Romanen und Gedichten, Filmen und Kunstprojekten Ausschau. Wir surften im Netz, um aktuelle Erörterungen unserer Gegenstände zu verfolgen, und suchten andererseits nach historischen Perspektiven. Wir erläutern diese Weise, Ethnografie zu treiben, im Postskriptum zu dem vorliegenden Buch.

In den folgenden Kapiteln werden wir erkunden, wie scheinbar nebensächliche Tätigkeiten umso einflussreicher sein können, als sie üblicherweise vernachlässigt oder gar nicht wahrgenommen werden. Wir werden untersuchen, wie individuelle Gewohnheiten, Gedanken und Gefühle kulturell geformt werden, wie ereignislose Momente des Wartens lebhafte Parallelaktionen camouflieren und wie Tagträume körperliche Anwesenheit in geistige Abwesenheit verwandeln. Während Menschen mit etwas beschäftigt sind, das leicht zu beobachten und zu verstehen ist, können sie sehr wohl Dinge tun, die ihrer Umgebung verborgen bleiben – und manchmal sogar ihnen selbst. Was vermögen uns solche selbstvergessenen Tätigkeiten darüber zu verraten, wie Menschen ihr alltägliches Leben verstehen? Wir beschließen das Buch mit einer Diskussion der Frage, wie die Verortung dieser Phänomene in »den Hinterhöfen der Moderne« es ihnen erlaubt, das gesellschaftliche Leben auf überraschend nachdrückliche Weise zu beeinflussen.

1 Der englische Ausdruck »imagination« wird im Folgenden ohne inhaltliche Unterscheidung mit Fantasie, Imagination, Einbildung, Einbildungskraft oder Vorstellung, Vorstellungskraft wiedergegeben [A.d.Ü.].

2 Vgl. die Beschreibung eines ähnlichen Spiels um das Aussuchen der schnellsten Schlange an der Kasse bei Kathleen Stewart, Ordinary Affects, S. 41ff.

3 In Ehn/Löfgren, »Hemlig tävlan«, erörtern wir die Bedeutung der geheimen Wettbewerbe im Alltag.

4 Perec, Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 8.

5 In seinem Buch Queuing for Beginners schreibt Joe Moran voller Begeisterung über das Schlangestehen, die Symbolik der Mittagspause, die Geschichte des Überquerens einer Straße und die Politik des Auf-dem-Sofa-Sitzens. Er will zeigen, dass derartige Mikrodramen viel aufregender sind, als man erwarten würde. Vgl. auch Homi K. Bhabha, der feststellt, dass »Wert in petits récits, unmerklichen Ereignissen, gesucht werden muß, in Zeichen, die scheinbar ohne Bedeutung und Wert – leer und ex-zentrisch – sind und in Ereignissen außerhalb der ›großen Ereignisse‹ der Geschichte vorkommen« (Bhaba, Die Verortung der Kultur, S. 364).
Eine lebendige Plattform für diese Art von Kulturforschung war das frei zugängliche elektronische Journal of Mundane Behavior (2000 bis 2004), das zu »analytisch interessanten Studien über das sozial Uninteressante« aufforderte (Brekhus, »A Mundane Manifesto«). Sein Ziel war es, in Artikeln über beispielsweise das Verhalten in japanischen Aufzügen, Handygespräche in der Öffentlichkeit, Staubwischen, Wandkalender und das Einkaufengehen »die außergewöhnliche Essenz unseres alltäglichen Lebens zurückzugewinnen« (Schaffer, »Introduction. To Mundanity and Beyond …«). Selbst das Abspülen wurde als möglicher, wenngleich bislang nicht behandelter Gegenstand der Kulturanalyse genannt (DeGroot, »When Nothing Happened«).
In seinem »Mundane Manifesto« skizziert Wayne Brekhus, worin die Bedeutung einer Untersuchung der »Ereignislosigkeit« bestehen könnte: »Die Erforschung des sozialen Lebens vernachlässigt häufig das Gewöhnliche zugunsten des Außergewöhnlichen. Historiker untersuchen eher ›ereignisreiche‹ Perioden als ›ereignislose‹, Kulturanthropologen fühlen sich allgemein stärker von fernen und exotischen Kulturen angezogen als von vertrauten, Soziologen pflegen sich lieber gravierende gesellschaftliche Probleme vorzunehmen als die Alltagsrealität, und Journalisten konzentrieren sich vorzugsweise auf außergewöhnliche Persönlichkeiten und Gruppen statt auf gewöhnliche. Die Geschichte des Mittelmäßigen, die Soziologie des Langweiligen und die Anthropologie des Vertrauten sind brachliegende Themenfelder.«

6 Für eine Darstellung unserer früheren Arbeit vgl. zum Beispiel Ehn/Löfgren, Kulturanalys, sowie Ehn/Löfgren, Kulturanalyser.

7 Unser erster diesbezüglicher Versuch führte zu einem auf Schwedisch geschriebenen Buch – Ehn/Löfgren, När ingenting särskilt händer –, im vorliegenden, auf Englisch verfassten Text jedoch haben wir diese frühere Fassung vollständig umgearbeitet und erweitert.

8 Der spanische Fotograf Philip-Lorca DiCorcia (vgl. DiCorcia/Brea, Streetwork) gebraucht den Begriff des Nichtereignisses, um auf die offensichtliche Abwesenheit von zwischenmenschlichen Aktivitäten in seinen Fotografien anonymer Menschen auf großstädtischen Straßen zu verweisen. Es gibt hier keine Begegnungen und Begrüßungen, keine Zeichen gegenseitiger Anerkennung, Beobachtung oder Verführung. Die Menschen tauschen keine Blicke aus; geübt darin, ihr eigenes Ziel in den undefinierbaren öffentlichen Räumen im Auge zu halten, lassen sie ihren Blick binnen Millisekunden von Fremden abgleiten, mit einer solchen Angst vor einer zwischenmenschlichen Verbindung, als könnte diese zu einem persönlichen Zusammenbruch führen. Allgemeinere Erörterungen zu Ereignissen und Nichtereignissen bieten etwa Fogelson, »The Ethnohistory of Events and Nonevents«; Handelman, Models and Mirrors; Moran, »Time and Place in the Anthropology of Events«.

9 Ethnografie in dem Sinn, wie wir sie hier verstehen, hat eher mit der Tradition detaillierter Beschreibung zu tun als mit langfristiger klassischer Feldarbeit. Vgl. Denzin, Interpretive Ethnography; Ehn/Löfgren, »Ethnography in the Market Place«.

10 In seinem Buch Doing Nothing etwa erzählt Tom Lutz die Kulturgeschichte der Müßiggänger, Bummelanten, Slacker und Tippelbrüder in Amerika.

11 Al Ginis Buch The Importance of Being Lazy zufolge veranlasst die Überzeugung »Zeit ist Geld« viele Amerikaner dazu, sich über die traditionelle mexikanische Siesta oder den in Schweden vorgeschriebenen Mindesturlaub von fünf Wochen lustig zu machen.

12 Vgl. etwa Harrison, Nichts tun; Vienne, The Art of Doing Nothing; Hodgkinson, Anleitung zum Müßiggang; Honoré, Slow life; Gratzon, The Lazy Way to Success; sowie Salmansohn, Wie man sein Leben ändert.

13 Für eine Auseinandersetzung mit den sich wandelnden wissenschaftlichen Debatten über Stress und Überlastung im Alltag vgl. Löfgren, »Excessive Living«.

14 Simmel, »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?«.

15 Georg Simmel und Walter Benjamin stehen für ein frühes Interesse an der Analyse des Alltäglichen. Spätere Einflüsse verdanken sich dem klassischen Werk des Interaktionstheoretikers Ervin Goffman, Wir alle spielen Theater; dem Ethnomethodologisten Harold Garfinkel und seinem Buch Studies in Ethnomethodology sowie der phänomenologischen Tradition, für die Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt und Peter L. Berger/Thomas Luckman, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit stehen. Inspirationen jüngeren Datums schulden wir den Arbeiten von Christena Nippert-Eng, Home and Work; Ben Highmore, »Homework«; Jonas Frykman/Nils Gilje (Hg.), Being There; sowie Elizabeth Shove, Comfort, Cleanliness and Convenience.

16 Ein Gutteil unserer Eingebungen verdankt sich einem interdisziplinären Workshop im Jahr 2004, für den 25 Wissenschaftler aufgefordert waren, neue Perspektiven auf die Analyse kultureller Prozesse zu entwickeln. Ihre Vorschläge reichten von der Untersuchung eines »explosiven kulturellen Unterdrucks« über den »Sahneeffekt« bis zur »Versteinerung« und »kulturellen Heimlichkeit«. Vgl. Löfgren/Wilk (Hg.), Off the Edge.

17 Perec, Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 9f.

Kapitel 1

Warten

Anfang der 1980er Jahre waren der schwedische Diplomat Jan Eliasson und Ministerpräsident Olof Palme zu einem Treffen mit Saddam Hussein in einem seiner Bagdader Paläste verabredet. Sie mussten einige Tage in ihrem Hotel warten, bis sie eines späten Abends mit einer schwarzen Limousine abgeholt wurden. Man fuhr sie ungefähr eine Stunde lang kreuz und quer durch die Stadt, damit sie die Orientierung verlören.

Als Nächstes mussten sie eine Sicherheitskontrolle passieren, um anschließend in ein mit Gold und Eichentäfelung ausgeschmücktes Wartezimmer geführt zu werden. Nachdem sie geraume Zeit in dieser luxuriösen Umgebung ausgeharrt hatten, wurden sie in ein weiteres Wartezimmer begleitet und dort von einem Stabschef begrüßt. Zehn Minuten später flog eine Tür auf, man führte sie in einen dritten Raum, und da stand er: Saddam. Mit steif ausgestreckter Hand begrüßte der Diktator, dessen Stab sich hinter seinem Rücken drängte, die beiden Schweden.

Das ganze Prozedere war eine Beleidigung und eine etwas lächerliche noch dazu, erinnert sich Eliasson und weist darauf hin, dass Saddam zu einem uralten Trick gegriffen hatte, um seine Gegenspieler herabzusetzen und seine eigene Bedeutung zu erhöhen.1

Ein flüchtiges Drama en miniature

Unser Interesse am Warten als einer Form des Nichtstuns entzündete sich an weniger dramatischen Situationen – wie zum Beispiel der banalen Szene im Supermarkt, die wir in der Einleitung beschrieben haben. Ursprünglich suchten wir nach Beispielen für unscheinbare Nichtereignisse, indem wir wenig glanzvolle Beschäftigungen wie die, auf den Bus zu warten oder irgendwo anzustehen, in den Blick nahmen.

Bald jedoch stellten wir fest, dass »Warten« ein breites Spektrum an Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen umfasst. Flüchtlinge warten voller Angst darauf, dass man ihnen Asyl gewährt. Strafgefangene zählen die Tage bis zu ihrer Entlassung. Gelangweilte Arbeiter und Schulkinder schauen gegen Ende des Tages alle fünf Minuten auf die Uhr. Wieder andere Varianten sind das Warten auf einen Installateur, der einfach nicht kommen will, oder das Warten auf einen Geliebten, der sich verspätet.

Welche Form von »Nichtstun« ist es, die wir als Warten bezeichnen? Was steckt hinter dieser bedeutungslosen und scheinbar inaktiven Betätigung, bei der man »nur zu warten« braucht, wie Estragon es in Samuel Becketts Stück »Warten auf Godot« von 1952 formuliert?2 Um diesen Fragen nachzugehen, setzten wir bei der konkreten Infrastruktur des Wartens an, den Orten, an denen wir diese Beschäftigung beobachteten. Von hier aus gingen wir dazu über, die Natur der Wartezeit zu betrachten. Wie erleben Menschen diese Art von Zeit in verschiedenen Situationen, wie gehen sie mit ihr um? Im nächsten Schritt galt unsere Aufmerksamkeit der Frage, wie Menschen in verschiedenen kulturellen Kontexten zu warten lernen. Wir untersuchten eine der institutionalisiertesten Formen des Wartens – das Sichanstellen beziehungsweise Schlangestehen, ein Verhalten, das von Regeln, Normen, Ritualen und Gefühlen durchzogen ist. Dieses Thema führte uns tiefer in die Gefühlsdimension des Wartens hinein, und es warf die Frage auf, wie Warten und Macht zusammenhängen. Wer wartet auf wen, wer ist in der Lage, andere warten lassen, und welchen Unterschied machen Geschlecht und Schichtzugehörigkeit?

Wir verstehen das Warten als eine kulturelle Praxis, die von veränderlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen geprägt ist. Zugleich ist sie etwas, womit Menschen umzugehen lernen, eine Fertigkeit, die geübt und perfektioniert werden will. Unsere Beispiele stammen aus verschiedenen Situationen und Weltgegenden, aus Krankenhäusern, von Straßenecken, aus Reiseerlebnissen und den letzten Wochen einer Schwangerschaft.

Wartezeiten können kurz sein – so kurz wie die Dauer einer Fahrstuhlfahrt mit Unbekannten zum Beispiel –, sie können sich aber auch endlos anfühlen oder ein ganzes Leben ausfüllen. Für manche Menschen scheint Warten eine Vollzeitbeschäftigung zu sein, die ihre ganze Energie verbraucht und ihr ganzes Sein in Anspruch nimmt. Dies gilt zweifellos für den chinesischen Arzt Lin Kong, der Mitte der 1960er Jahre in einer Stadt irgendwo in China in einem Militärhospital arbeitete. Seine ungeliebte Frau, eine Bauersfrau, die seine Eltern für ihn ausgesucht hatten, hatte er im Dorf zurückgelassen, wo sie sich um ihre kleine Tochter und seine alten Eltern kümmern sollte. In der Stadt verliebte sich Lin Kong in Manna Wu, eine im selben Krankenhaus tätige Krankenschwester. Von da an sollte Lin siebzehn Jahre lang jeden Sommer in sein Dorf zurückkehren, um seine Frau um die Scheidung zu bitten. Da die Krankenhausverwaltung die Liaison zwischen den beiden nicht guthieß, verzichteten Lin Kong und Manna Wu auf ein sexuelles Verhältnis – Tag für Tag, Jahr für Jahr. Achtzehn Jahre vergingen, bis Lin Kong 1984 gestattet wurde, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und Manna Wu zu heiraten.

Ha Jin erzählt diese Geschichte einer extremen Geduld in seinem Roman »Warten« aus dem Jahr 1999. Der Leser fragt sich unwillkürlich, wie es sich wohl anfühlen mag, fast zwanzig Jahre lang auf eine geliebte Person zu warten und die Geliebte in dieser Zeit täglich zu sehen und zu sprechen. In Lin Kongs Fall wird das Warten zu einer Lebensform. Wir werden noch auf Lin und Manna zurückkommen, eröffnet der Roman doch interessante Perspektiven.

Als wir profanere Situationen des Wartens betrachteten, waren wir verblüfft darüber, dass sich deren Gestalt, Ausrichtung und Bedeutung permanent veränderten. Wie sollte man eine so facettenreiche und schwer fassbare Tätigkeit untersuchen? Zunächst stellten wir enthusiastisch ethnografische Beobachtungen in Bahnhöfen, Wartezimmern von Ärzten und Warteschlangen an Ticketschaltern an. Nicht selten kehrten wir mit Fotos und Beschreibungen von auf den ersten Blick trivialen Nichtereignissen zurück, über die wir oft stundenlang grübelten, um unter ihre Oberfläche zu blicken.

Um 12.25 Uhr trifft eine Frau mittleren Alters in einem blauen Kleid am Busbahnhof einer schwedischen Stadt ein. Sie schaut sich im Wartesaal um, bis schließlich ihr Blick für einige Sekunden an dem großen elektronischen Fahrplan hoch oben an der Wand hängen bleibt. Dann schreitet sie resolut zu einem der Ausgänge und setzt sich auf eine leere Bank neben der Tür. Sie macht einen zögerlichen und leicht nervösen Eindruck. Immer wieder greift sie sich ins Haar, wie um zu überprüfen, ob mit ihrer Frisur alles in Ordnung ist.

Nach einer Weile holt die Frau ein Handy und eine Zeitschrift aus ihrer Tasche und hält beides auf ihrem Schoß fest. Sie sucht in ihrem Portemonnaie nach dem Busticket und findet es. Dann stützt sie ihr Kinn auf ihre Hand und sieht zu einem jungen Paar in einer Ecke des Wartesaals hinüber.

Kurz vor der planmäßigen Ankunft des Busses stellt sie sich mit anderen Reisenden in einer kurzen Schlange an, wobei jeder ungefähr einen Meter Abstand zu den anderen hält. Die Frau wartet geduldig an fünfter Stelle, Handy, Zeitschrift und Busticket in der Hand, bis der Bus kommt und seine Vordertür öffnet. Es ist jetzt 12.37 Uhr, die Frau besteigt den Bus.

Nachdem wir mit dieser Beschreibung eines alltäglichen Moments nach Hause gekommen waren, galt es darüber nachzudenken, was sich eigentlich während dieses fünfzehnminütigen Wartens auf einen Bus abgespielt hatte. Interessanterweise stellten wir fest, dass wir während unserer Versuche, Menschen in solchen Situationen zu beobachten, von der Langeweile und Unruhe unserer Beobachtungsobjekte heimgesucht wurden. Wir mussten feststellen, dass unsere Konzentration nachließ. Unsere Gedanken schweiften langsam ab, wir vergaßen, warum wir überhaupt dort waren, und begannen, an andere Dinge zu denken. Schließlich passierte ja scheinbar auch nichts, anders als in Situationen, in denen andere etwas tun – etwa, wenn das Warten ein Ende hat.

Etwas tun – aber was?

Wie viele andere Fälle von »Nichtstun« erwies sich das Warten als ein Phänomen, das nur schwer direkt zu studieren ist. Um diese profane Aktivität enttrivialisieren zu können, waren wir eindeutig auf alternative ethnografische Herangehensweisen angewiesen. Zu diesem Zweck hielten wir uns zunächst an Künstler, die das Warten gleichsam als ein merkwürdiges Land erforscht haben, wie etwa die schwedische Künstlerin Elin Wikström, die 1994 das Paradox des Wartens als einer passiven Aktivität zu einer Performance gestaltet hat. Sie trägt den Titel »Rebecka wartet auf Anna, Anna wartet auf Cecilia, Cecilia wartet auf Marie …«.

Für die Dauer der Performance kommen von Wikström ausgesuchte weibliche Mitwirkende zur festgesetzten Zeit in das Café einer Kunstgalerie und warten dort fünfzehn Minuten. Sie sitzen neben anderen Ausstellungsbesuchern an einem Tisch, als ob sie als Erste zu einer Verabredung gekommen wären und nun auf ihr Rendezvous warteten. Gelegentlich schauen sie auf die Uhr, wühlen in einer Tasche herum oder lesen in einer Zeitschrift. Zur vereinbarten Zeit verlassen sie die Galerie wieder, eine nach der anderen, um durch andere Frauen ersetzt zu werden, die das Alltagstheater des Wartens auf jemanden, der nie eintrifft, fortsetzen. In dieser Aktion wird das Warten als sinnlose Mühe dargestellt. Die scheinbaren Erwartungen der Frauen werden nie erfüllt. Wikström formulierte es so:

Es ist, als wenn man sich mit jemandem verabredet hat und als Erster da ist. Man wartet auf andere Menschen und durchlebt eine Menge Gefühle. Man fragt sich beunruhigt, was mit ihnen passiert ist, man ärgert sich über ihre Verspätung, und es ist auch ein Ansehensverlust, denn die Leute denken: Oh, da ist wohl jemand versetzt worden.

Die Performance möchte ein anderes Bild von Frauen zeichnen. In der Werbung und im Kino sieht man Frauen immer warten. Darauf warten, dass sie erwachsen sind, auf den perfekten Mann warten, darauf warten, dass sie Kinder haben, und dann darauf warten, dass die Kinder sie besuchen kommen, wenn sie erwachsen sind. Es ist immer diese passive Idee des Wartens. Also wollte ich, dass die Frauen wenigstens einmal aufeinander warten.3

Selbst wenn man vergeblich wartet, tut man zumindest irgendetwas. Während sie warten, suchen Männer wie Frauen bei allen möglichen banalen Tätigkeiten Zuflucht, als ob sie leugnen wollten, dass sie warten, oder diesen Umstand zu vergessen suchen: Sie lesen, unterhalten sich, hören Musik, schauen auf Fernsehbildschirme, die irgendwo hängen, sie telefonieren oder spielen mit ihren Handys, gehen mit ihnen ins Internet oder spielen beziehungsweise arbeiten mit ihren Laptops. Auch neigen sie dazu, einigermaßen angespannt und genervt zu sein, was sich daran zeigt, dass sie auf Uhren, Armbanduhren, Fahrpläne, Graffiti und Abfälle gucken, die auf dem Boden liegen, oder mit nach innen gekehrtem Blick geistesabwesend in die Ferne starren. In solchen Situationen stellt sich immer die Frage, wie und wohin man schaut, während man sich unter Fremden befindet, beziehungsweise welche Strategien man dafür entwickelt, »den Blick abzuwenden, um nicht in eine Interaktion verstrickt zu werden«.4 Manche Menschen halten eifrig nach dem Bus oder Zug Ausschau, auf den sie warten, als könnten sie ihn herbeizaubern. Oder sie tarnen ihre eigentliche Beschäftigung, indem sie essen, trinken oder rauchen, so als würden sie gar nicht warten.

Die Choreografie des Wartens ist erstaunlich vielfältig. Je nach Persönlichkeit und Umständen sitzen oder stehen die Menschen reglos da, sie wippen mit den Füßen, lehnen sich gegen Wände oder Säulen, gehen in die Hocke, legen sich hin oder laufen auf und ab; manche pfeifen, summen, schlafen oder schließen die Augen. Sie warten allein oder in einer Gruppe, in einer regelrechten Schlange oder willkürlich im Raum verteilt, mit verschränkten Armen oder hängenden Schultern, die Hände in den Taschen oder im Schoß. Für einen Ethnografen gibt es eigentlich jede Menge zu beobachten. Der vorherrschende Eindruck von Passivität steht im Widerspruch zu all den kleinen Bewegungen und Zerstreuungen.

Vor allem aber scheint es sich beim Warten um eine Geistesverfassung zu handeln, einen seelischen Zustand, der sich nicht direkt beobachten lässt. Ein Beobachter kann zu sehen lernen, was sich zum Beispiel an Bushaltestellen abspielt oder im Wartezimmer eines Zahnarztes. Niemand jedoch kann von den anderen wirklich wissen, was sie vorhaben, was sie empfinden oder tagträumen.

Statt Vermutungen darüber anzustellen, was Menschen denken, während sie warten, entschieden wir uns für einen materielleren Ansatz. Worin könnte eine »Ökologie des Wartens« bestehen? Wie ist ihre Infrastruktur beschaffen? Welche Arten von sozialen Interaktionen sind dabei im Spiel?

Schauplätze des Wartens

Jede Örtlichkeit kann zu einem Wartebereich werden, doch als wir Menschen baten, die Orte zu nennen, die ihnen diesbezüglich zuerst einfallen, führten sie jene an, die man traditionell mit dem Warten verbindet: Ticketschalter, Mautzahlstellen, Kaufhäuser sowie die Orte, an denen man auf ein Verkehrsmittel wartet – Flughäfen, Aufenthaltsräume, Bahnsteige, Bänke und Unterstände. Auch Schulen, Gefängnisse, Büroräume, Krankenhäuser und Zahnarztpraxen wurden häufig genannt. All diese »Containerräume«, wie Bissell sie nennt, »sind darauf ausgerichtet, den Körper zu enthalten, wobei der Körper veranlasst wird, reglos in einer Art vorübergehender Stasis zu verweilen«.5

Solche Orte haben ihren eigenen Charakter und ihre eigene Tradition. Sich im Supermarkt an der Kasse anzustellen ist nicht dasselbe, wie vor dem Theater Schlange zu stehen. Darauf zu warten, dass man beim Golfen dran ist, ist gewiss etwas anderes, als im Gang eines Gerichtsgebäudes zu warten. Sowohl die physische Umgebung des Ortes als auch die kulturellen Erwartungen des Individuums wirken sich auf die Erfahrung des Wartens aus.

Manche Gegenstände – die Schwimmweste unter dem Sitz etwa oder die Notleiter an der Mauer – bilden eine Reserve. Andere Dinge befinden sich in einem Zustand alarmbereiter Passivität – die Feuerwehrwache, die Rakete auf der Abschussrampe, die Flasche Jahrgangswein, die auf eine besondere Gelegenheit wartet. Wieder andere, etwa bestimmte elektrische Vorrichtungen, dürfen nie ausgehen; sie müssen mit offenem Auge ruhen, wachsamen technologischen Tieren gleich.

Und dann gibt es Schauplätze und Gegenstände, die in einer Art kulturellen Latenz verharren. Jonas Frykman hat diesen Zustand erörtert und beispielhaft an den vielen Denkmälern vorgeführt, die aus dem kommunistischen Zeitalter in Osteuropa übrig geblieben sind und mit denen niemand etwas anzufangen weiß.6 Bis auf weiteres wurden viele Statuen und Mahnmale in Parkanlagen und auf Marktplätzen stehengelassen, wo sie auf ihre zukünftige Nutzung oder Zerstörung warten, je nachdem, was ihnen beschieden sein wird.

Ökologische Stützen

Vor allem verändert das Warten den Ort, an dem es stattfindet. In den 1960er und 1970er Jahren führte der amerikanische Soziologe Barry Schwartz mehrere empirische Untersuchungen dessen durch, was er als die ökologischen Stützen des Wartens und Schlangestehens bezeichnete.7 Er fragte danach, mit welchen Mitteln die Menschen in Warteschlangen so gelenkt werden, dass sie sich an die Regel »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« halten.

Schwartz stellte fest, dass die Disziplin in einer wartenden Menschenschlange dort am größten ist, wo es eine gute Infrastruktur für das Warten gibt. So legen einem etwa in den Vereinigten Staaten Schranken, Zeichen und Hinweise aller Art – zum Beispiel Absperrbänder in Kinos oder Vergnügungsparks – nahe, wo man sich anstellen oder welchen Abstand von anderen man in der Schlange halten soll. In manchen Einrichtungen gibt es sogar Manager und Warteschlangenaufseher mit oder ohne Uniform. Diese Requisiten haben alle ihre eigene Geschichte und weisen interessante nationale Unterschiede auf.

Nehmen wir beispielsweise den sogenannten »intelligenten Ticketautomaten«, der in den 1960er Jahren in Schweden entwickelt wurde und das Warten revolutionieren sollte. Die Technik konnte Neulinge durchaus verwirren, gab es doch keine geordneten Schlangen mehr, sondern nur noch eine scheinbar unorganisierte Menge von Leuten, die kleine Papierstreifen mit Nummern in den Händen hielten, auf die sie hin und wieder einen Blick warfen. Man konnte nicht mehr wissen, wer als Nächster an der Reihe war. Heute jedoch sind diese Geräte in vielen Dienstleistungseinrichtungen auf der ganzen Welt ein fester Bestandteil der Ökologie des Wartens. Sie haben das kollektive Warten in Schlangen in eine erfolgreiche individuelle Tätigkeit verwandelt.

Eine der offensichtlichsten ökologischen Stützen des Wartens ist der Unterstand oder das Wartehäuschen. Die schwedische Architektin Lena Hackzell hat eine Leidenschaft für diesen Dienst am Reisenden entwickelt.8 Mehrere Jahre lang dokumentierte sie auf ihren Reisen rund um die Welt verschiedene Arten von Unterständen.

Von der Vielfalt ihrer Formen und Funktionen beeindruckt, beschreibt Hackzell diese Unterstände nicht nur als Einrichtung, um wartende Menschen zu beherbergen, sondern als Begegnungsstätten und damit als Orte, die oft von der Magie des Reisens durchdrungen sind. Wie sie beobachtete, lassen sich durch die kleinen Bauwerke, die Schutz vor unfreundlichem Wetter bieten, viele Träume symbolisieren. Ihr fiel auch auf, dass die Zeit, die Reisende erwartungsgemäß in einem Unterstand verweilen müssen, zu einem Großteil deren Konstruktion bestimmt. Wer etwa auf die Galapagosinseln reist, muss mitunter lange auf das Taxiboot warten. So wurden in diesem Fall anstatt harter Sitzbänke bequeme Hängematten angebracht. Eines der Fotos in Hackzells Buch zeigt Männer, die sich darin liegend unterhalten, während sie auf das Boot warten.

Unterstände auf dem Land in Indien, wo nur wenig Verkehr herrscht, müssen besondere Anforderungen erfüllen. Fahrgäste, die den einzigen Bus des Tages verpasst haben, dürfen die Nacht auf dem Dach des Unterstands verbringen, wo es kühler und sicherer ist. Frauen aus dem nächsten Dorf stellen sicher, dass es stets Krüge mit frischem Wasser gibt. Das Dach verfügt darüber hinaus über eine spezielle Oberfläche und eine Vorrichtung zum Kochen.

Hackzell stellte fest, dass ein Unterstand eine doppelte Funktion erfüllen kann. Er kann als klassischer Gebetstempel und zugleich als Versammlungsstätte angelegt sein. Auch Leute, die gar nicht wegfahren wollen, treffen sich dort, nur um andere Menschen zu sehen und Teil von etwas zu sein. Schon immer ist man überall auf der Welt an Bushaltestellen und Bahnhöfen zusammengekommen, um unter Menschen zu sein und am Gewusel des Lebens teilzuhaben. Solche Orte sind häufig voller Möglichkeiten und Überraschungen. An ihnen überschattet die Magie des Reisens die Langeweile des Wartens. Allein schon die Tatsache, dass jemand mit einem Koffer in einem Unterstand sitzt, regt die Fantasie des Betrachters an. Wohin er wohl unterwegs ist?

Ein Rahmen für die verstreichende Zeit

Wartezonen wie Hallen, Vorhallen und Korridore sind, auch wenn kein Schild auf sie hinweist, leicht zu erkennen. Vermutlich ist es etwas an der Anlage des Raums, an der Wahl von Tapete und Einrichtung. Oder könnten es die Farben, die Gerüche, die gedämpfte Geräuschkulisse sein? Unbestreitbar allerdings strahlen diese Orte eine Atmosphäre aus, die das Verhalten und die Stimmung der Menschen beeinflusst.

Man sollte sich jedoch davor hüten, die Ähnlichkeiten zwischen Wartebereichen zu übertreiben. Jeder dieser Orte hat seine eigenen Eigenschaften, je nachdem, auf welche Weise dort gewartet wird und von wem. So sah sich Laura E. Tanner als Patientin in einem Brustzentrum im Großraum Boston von einem geschmackvoll eingerichteten äußeren Wartebereich in einen Raum bugsiert, der sich wie ein realer und symbolischer Angriff auf ihre Autonomie anfühlte. Sie spürte, dass es ihr in diesem Raum unmöglich sein würde, die Art von persönlichem Revier zu schaffen, die sich selbst in überfüllten Umkleideräumen oder Transit-Wartezonen herstellen lässt.

Fast ausschließlich von Frauen in Krankenhauskitteln bevölkert, die auf Mammografien, Ultraschalluntersuchungen oder Biopsien warteten, ließ dieses innere Wartezimmer mit seiner aufs Nötigste beschränkten Kulisse von Stühlen, Frauenkörpern und Zeitschriften Dynamiken erkennen, die in dem gedämpft beleuchteten, allgemein zugänglichen äußeren Wartebereich mit seinen Kopien antiker Möbel nicht so deutlich zutage getreten waren. In diesem Raum saßen einander Fremde steif in Reihen nebeneinander und hielten die Kragen ihrer Kittel, die sich permanent zu öffnen drohten, zusammen, ihre Handtaschen – große und kleine, lederne und welche aus Kunststoff, abgewetzte und glänzende – sicher im Schoß. In einer Ecke weinte leise eine bekittelte Frau, während eine andere ausdruckslos vor sich hin starrte. Vor jedem Aufruf einer Patientin war das Geräusch zu hören, das die Clogs der Krankenschwestern auf dem For-micaboden machten.9

Offizielle Wartezimmer werden oft als langweilige Orte mit neutralen Vorhängen, mittelmäßiger Kunst an den nackten Wänden, symmetrisch arrangierten unbequemen Stühlen, alten Zeitschriften, einer trübsinnigen Atmosphäre und langen Wartezeiten beschrieben. Solche Räume sehen noch in der tausendsten Ausführung im Wesentlichen gleich aus. Die Chrom- und Kunstlederdesigns, Linoleumböden, Leuchtstofflampen und harten Plastikstühle, die sich – ob nun am Arbeitsplatz, in Krankenhäusern oder in Arbeitsämtern – in so vielen Vorzimmern der jeweiligen Apparate finden, sind anonym, aber sofort wiederzuerkennen.

Natürlich gibt es auch opulentere Wartezimmer. Mit entsprechenden finanziellen Mitteln oder für hochgestellte Personen lässt sich die Qualität der Rauminszenierung steigern. Die gestalterische Hierarchie kennt erstklassige Säle und Business Lounges. Der Stockholmer Hauptbahnhof verfügt immer noch über ein Wartezimmer für Mitglieder des Königshauses. Es handelt sich um eine große Halle mit schweren Seidenvorhängen, weichen Teppichen und Rokokomöbeln. Drei prachtvolle Kronleuchter aus geschliffenem Glas hängen an der Decke. Auf die Wände hat man vier Königspaläste gemalt. Die altertümliche Pendeluhr zeigt angeblich immer 8.42 Uhr an. Es ist ein trister Ort, der so wirkt, als warte er vergebens auf seine Besucher.10

Wie erleben Menschen unterschiedliche Wartezimmer? In ihren Fotografien und Installationen reflektiert die britische Künstlerin Hatty Lee das Nebeneinander von Privatem und Öffentlichem – und die Architektur, die den Rahmen für die verstreichende Zeit schafft. Einige ihrer minimalistischen Bilder zeigen eine rote Bestuhlung auf grünem Kunstfaserteppich vor schmucklosen weißen Wänden. In einer Ecke versucht ein einsamer Blumentopf für Abwechslung zu sorgen. Uns steht das exemplarische Wartezimmer vor Augen, dem unmöglich anzusehen ist, zu welchem Zweck man hier verweilen soll. Ähnlich nichtssagende Räume werden oft dazu herangezogen, das Warten an sich darzustellen, so auch in der Klage dieses Studenten aus unserer Umfrage: