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Gloria und eine aegyptische Affaere

 

Ein viktorianischer Krimi

 

von Marlene Klaus

 

Dryas

Inhalt

Kapitel 1

Titel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Die arabischen Begriffe

Zur Baker Street Bibliothek

Impressum

Zum Weiterlesen: "Die Liebenden von Verona"

Streetlamp

Die Baker-Street-Bibliothek 

 

Romane aus den Anfängen der modernen Kriminalistik

Verfügte Sherlock Holmes in seinem Haus in der Baker Street 221b über eine literarische Bibliothek?

Wir wissen es nicht.

Aber wir stellen uns gern vor, dass er die Bücher dieser Reihe gelesen hätte: Geschichten rund um skurrile Morde, bizarre Motive und eigenwillige Ermittler, die allesamt in einer Zeit spielen, in der die Verbrechensermittlung noch in den Kinderschuhen steckte.

www.bakerstreetbibliothek.de

Zum Weiterlesen:
"Gloria und die Liebenden von Verona" von Marlene Klaus

 


Dryas Verlag, Print ISBN 978-3-940855-58-9, E-Book ISBN 978-3-941408-81-4

 

1. Kapitel

Die Straße war schlecht wie alle Straßen, die sie seit ihrer Abreise aus England vor zwei Monaten befahren hatten. Die italienischen machten da keine Ausnahme, nein, weiß Gott nicht.

„Ach herrje!“, rief Tante Jo, die neben Gloria in der Postkutsche saß, als sie durch ein weiteres Schlagloch rumpelten und sie auf ihrem Sitz durchgerüttelt wurde.

Der dicke Kaufmann Fromm – „Ignaz Fromm aus Wien Gewürze, Weine, Seide“, wie er sich ihnen vorgestellt hatte –, ihr zufälliger Reisegefährte seit dem Brennerpass, setzte ein aufmunterndes (wenn auch gequältes) Lächeln auf. „Wir sind bald in Verona, verehrte Gnädigste“, suchte er Glorias Großtante zu beruhigen. „Bald haben Sie es überstanden. Und der malerische Anblick der alten römischen Stadt, wie sie da romantisch zwischen grünen Weinhügeln liegt, wird Sie für die Beschwernisse entschädigen, das versichere ich Ihnen.“ Er schaute Gloria an. „Adieesch!“, rief er bühnengerecht erhaben und hob einen Arm. „So heißt der Fluss Etsch, der sich um das Städtchen schmiegt, auf Italienisch.“

Als ob sie das nicht wüsste! Aber sie schenkte ihm ein höfliches Lächeln, das ihm zeigen sollte, dass sie seine Informationen, die er verstreute wie Gewürzprisen, seit sie die Südtiroler Berge hinter sich gelassen hatten, geneigt zur Kenntnis nahm.

Sie sprach natürlich ein passables Italienisch, wenn sie auch kaum das Kauderwelsch der örtlichen Dialekte verstand. Und außerdem hatte sie ihren Baedeker dabei.

„Ah, Italien!“, seufzte Kaufmann Fromm und schaute aus dem Fenster. Nicht ohne natürlich sein mit aufgeblähten Wangen geplustertes „Bab-bala-ba-bap“ hintanzusetzen, was umso lustiger war, als sich sein grauer Backenbart dabei bewegte wie ein eigenständiges Wesen.

Gloria spürte Tante Jos Blick auf sich und wandte sich ihr schmunzelnd zu. Sie hätte auch ohne hinzusehen gewusst, wie Tante Jo hinter ihrem Fächer dreinsah. Und genau so sah sie drein. Der gute Ton gebot Freundlichkeit gegen den mitreisenden Herrn, doch sein Weltmann-Gebaren wie aus dem Buche war ihr gehörig lästig. Kaum dass sie zum Beispiel ihren Fächer hervorgeholt hatte, hatte er ihr geschwätzig erklärt, dieses überaus nützliche Utensil nenne man in Wien „Waderl“, das leite sich von „wehen“ her – und er hatte sowohl Tante Jo als auch sie in einer geradezu impertinenten Weise genötigt, das Wort wieder und wieder nachzusprechen, um es ihnen beizubringen, woran sie kein Interesse hatten, er aber ein nachgerade einfältiges Vergnügen fand.

„Wie schade, dass die beiden Fräulein von Stetten uns bereits in Trient verließen“, sagte Tante Jo leise und mit aufrichtigem Bedauern, während sie sich Luft zufächelte. Das ältliche Geschwisterpaar aus Deutschland hatte sich bestens mit Tante Jo verstanden, die Postkutsche aber leider ebenso verlassen wie ein weiterer Herr, sodass sie seither die ungeteilte Aufmerksamkeit Kaufmann Fromms genossen, die sich zuvor wenigstens noch auf die anderen Mitreisenden verteilt hatte.

„Selbst dieser Unausstehliche von der Poststation in Trient käme mir jetzt gelegen, um den Kaufmann von uns abzulenken“, flüsterte Tante Jo nah an Glorias Ohr und verborgen hinter dem Fächer, damit der Handelsherr es nicht hörte.

„Erinnere mich bloß nicht an den!“, zischte Gloria. „Lord Alexander Lyndon, Viscount Loughborough! Blasiert, besserwisserisch und durch und durch eigennützig! Wie unverschämt von ihm, uns nicht das bessere Zimmer zu überlassen! Kein Kavalier, wahrlich nicht!“

„Sprachen Sie von dem Viscount, dem wir in Trients Poststation begegneten?“, wandte sich der Österreicher ihnen wieder zu. „Ein ignoranter Mensch, wollte mir scheinen.“

Gloria rollte innerlich die Augen. Ignorant war gar kein Ausdruck! Arrogant und rechthaberisch, wenn auch von tadellosem Äußeren. Von tadellosem Aussehen sogar, wenn man ehrlich war (trotz der kleinen ovalen Narbe oberhalb des rechten Wangenknochens nah beim Auge), doch es bestätigte einmal mehr, dass man sich danach keinesfalls richten durfte. Sein Charakter entsprach seinem angenehmen Äußeren keinesfalls. Es stimmte sie verdrießlich, dass sie an ihn erinnert wurde, es stimmte sie verdrießlich, dass der Kaufmann dieses Thema auch noch aufgreifen zu wollen schien. Und so erwiderte sie mit süßlichem Unterton: „Nun ja, seine Reisebekanntschaften kann man sich nicht aussuchen, nicht wahr?“ Sie setzte ein Lächeln auf, das, wie sie hoffte, der Zweideutigkeit ihrer Aussage die Spitze nahm. Lieber Himmel, sie wünschte, sie wären schon in Verona, damit sie diesen lästigen Reisegefährten endlich los wären.

Aber ihr Bitten wurde nicht erhört, nein, ganz im Gegenteil, denn die Kutsche schlingerte plötzlich, man hörte den Postillion auf seinem Kutschbock fluchen, Geschrei erhob sich, die Pferde wieherten, und mit einem plötzlichen Ruck, der sie und Tante Jo fast auf die Knie des Kaufmanns schleuderte, wurde gehalten.

„Was ist da los?!“, echauffierte sich der Österreicher und beugte sich aus dem Fenster.

Gloria sah ebenfalls hinaus.

Bei den Pferden stand eine junge Italienerin und schrie und gestikulierte zum Postillion hinauf. Das Gesicht der jungen Frau war tränenüberströmt, ihre Haare aufgelöst, ihr hübsches helles Sommerkleid schmutzig.

Glorias Herz klopfte aufgeregt und sie überlegte, ob es sich wohl um eine jener Listen handelte, von denen man hörte und las: Räuberbanden schickten ein vermeintliches Opfer vor, brachten die Kutschen zum Stehen und die Insassen in Verwirrung, und hatten so leichtes Spiel, sie auszurauben.

Sie spähte nach links und rechts, aber als keine wilden Horden auftauchten, stieg sie aus.

„Kind!“, entfuhr es Tante Jo entsetzt und der Kaufmann rief bestürzt: „Mailäidi!“

Die junge Frau – einige Jahre jünger als Gloria, Anfang zwanzig etwa – reckte noch immer die Arme zum Postillion und wehklagte. Gloria verstand kein Wort ihres Geschreis.

„Um was geht es?“, wollte Tante Jo hinter ihr in der Kutsche wissen.

„Ihrem Gebaren nach scheint etwas Schlimmes geschehen zu sein. Sie ringt die Hände, ruft Namen. Luigi und Giulio oder so“, erwiderte Gloria über die Schulter und bemerkte dabei, dass der Kaufmann nun ebenfalls ausstieg.

Langsam ging sie auf die Weinende zu, eine hübsche junge Frau von jener zierlichen italienischen Art, die Engländerinnen wie sie sich plump vorkommen ließ, obwohl dazu nun wahrlich kein Grund bestand, denn auch sie hatte eine schlanke Figur und schöne braune Augen mit einem Kranz dichter Wimpern. Das Mädchen sah sie, eilte auf sie zu und griff nach ihren Händen. Gloria zuckte leicht zurück und schämte sich sofort dafür, denn die tränennassen Augen der jungen Frau blickten sie flehentlich an, und mit eindrücklicher Inbrunst in der Stimme sagte sie: „Signora!“ Sie ließ eine Hand los und deutete mit dem ausgestreckten Arm in den Weinhügel seitlich der Straße, hinter dem sich blaugrün ein lichtes Wäldchen erstreckte. „Mi aiuti! Signora Inglese? Mi aiuti!“

Der Postkutscher befestigte fluchend die Zügel und stieg ab.

„Was mag dem armen Geschöpf nur geschehen sein?“, fragte der Kaufmann, der herangetreten war, irritiert.

Tante Jo beugte sich aus dem Wagenfenster. Gloria warf ihr einen fragenden Blick zu. „Sie bittet mich um Hilfe“, erklärte sie.

„Mi aiuti!“, bestätigte die Italienerin, fasste erneut Glorias Hände und versuchte, sie mit sich fortzuziehen. „Signora Inglese, venga!“, drängte sie verzweifelt.

„Sollte mich nicht wundern, wenn dieser Zwischenfall unsere Weiterfahrt verzögert“, stellte Tante Jo trocken fest.

Gloria war erschüttert vom Verhalten der jungen Frau und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Postillion trat heran und kauderwelschte laut auf das Mädchen ein. Kaufmann Fromm tupfte sich mit einem Taschentuch die gerötete Stirn und Tante Jo trat nun ebenfalls auf die Straße und stellte sich neben Gloria.

Pferdegetrappel meldete das Nahen eines weiteren Gefährts. Alle drehten sich um und sahen nach hinten auf die Straße. Ihre Postkutsche versperrte den Weg.

Eine Kalesche nahte.

„Oh nein!“, stöhnte Gloria leise, als der junge Kutscher die Pferde zügelte, anhielt und ein Mann in den besten Jahren und im ausgesucht kostbaren Reiserock, der ihm, wie sie einräumen musste, vorteilhaft zu Gesicht stand, schwungvoll ausstieg. Wahrlich, ein Unglück kam selten allein. Von allen Geschöpfen auf Gottes großer Erde musste ausgerechnet er erneut ihren Weg kreuzen – mit einem Lächeln, das ausdrückte, dass mit seinem Kommen Rettung nahte.

„Alexander Lyndon, Viscount Loughborough. Kann ich behilflich sein?“

 

Mehr in Marlene Klaus „Gloria und die Liebenden von Verona“

www.dryas.de

Impressum

1. Auflage 2016

© Dryas Verlag

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main, gegr. in Mannheim. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)

Umschlagmotiv: © Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von Thinkstock und Framepool

Graphiken: Egyptian ancient symbol „Pharao“ ©tansy-fotolia.com / Egypt silhouettes „Krummstab und Geißel / Pyramide“ © Jan Stopka-fotolia.com / Alexandria skyline © paulrommer-fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

ISBN Taschenbuch 978-3-940855-63-3, ISBN E-Book 978-3-941408-86-9, www.dryas.de

1

„Nun?“, fragte Tante Jo und zupfte wie beiläufig einen Fussel von ihrem Nachmittagskleid. Sie saß auf ihrem ziegelroten Sofa, blickte zu Gloria auf und schenkte ihr einen betont lieblichen Augenaufschlag.

Gloria, die leicht ungehalten vor ihrer Großtante auf und ab gegangen war, hielt inne. „Wir haben doch schon darüber geredet. Ich kann nicht fort. Es gibt noch zu viel zu tun.“

„Ich will ja auch nicht morgen schon aufbrechen, sondern selbstverständlich erst dann, wenn du mit dem Hausverkauf alles geregelt hast.“

„Wenn dies geschafft ist, möchte ich mich endlich der Gründung des Frauenbildungsvereins widmen.“

„Das läuft dir nicht weg! Seit wir aus Italien zurück sind, hast du unablässig gearbeitet. Das Haus deiner Eltern ausgeräumt, den Verkauf vorbereitet und eingeleitet, wir waren in Kent, damit du auch dort nach dem Rechten sehen konntest. Du hast Briefe geschrieben, dich mit deinem Anwalt und mit Nicks Vater getroffen ...“

„Ich weiß, was ich getan habe, Tante Jo, du brauchst es mir nicht aufzuzählen.“

Kaum aus Italien zurück, hatte Gloria sich endlich der schwierigen Entscheidung gestellt, welche Sachen sie aus dem Stadthaus ihrer Eltern nach Kent auf den Familiensitz schaffen, welche sie Tante Jo vermachen und welche sie verkaufen sollte. Nachdem ihre Eltern vor drei Jahren bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen waren, hatte sie diese Aufgaben immer wieder aufgeschoben, und als dann im vergangenen Jahr auch noch Nick gestorben war, der Mann, den sie über alles geliebt hatte, war sie gänzlich unfähig gewesen, solche Alltagsdinge anzugehen. Weshalb Tante Jo ihr eine Reise auf den Kontinent verordnet hatte, welche sie dieses Frühjahr tatsächlich unternommen hatten.

Inzwischen war es fast Mitte Oktober, drei Monate waren seit ihrer Rückkehr vergangen, und Gloria war in all den Wochen wirklich andauernd beschäftigt gewesen. Hier und da noch eine Veranstaltung der Saison; kurz vor deren Ende, Mitte August, die Fahrt nach Kent, bei der sie einige Dinge aus dem Stadthaus am Belgrave Square bereits mitgenommen hatten, denn das Haus war zum ersten November an eine Familie aus Wales verkauft. Der Rest wurde noch in dieser Woche von der Spedition dort abgeholt und nach Whitewater House transportiert.

„Was ich sagen will“, begann ihre Tante erneut, „ist, dass du inzwischen schon wieder ganz blass und erschöpft aussiehst. Ich sehe doch, wie du dich abmühst, Kind. Du brauchst Erholung.“

Gloria deutete auf das Sammelsurium von Broschüren, Büchern – zuoberst auf dem Stapel Mariana Starkes „Reisen auf dem Kontinent“ – und Prospekten auf dem runden Beistelltisch und sagte: „Ist es nicht eher so, dass du verreisen willst?“

„Was wäre schlecht daran, den Winter in einer wärmeren Gegend zu verbringen?“ Tante Jo zupfte einen Schal von dem Häufchen aus Häubchen, Hüten und Handschuhen, das neben ihr auf dem Sofa lag, und ließ ihn durch die Finger gleiten.

„Whitewater House andauernd allein zu lassen, ist nicht gut.“

„Harper kümmert sich um alles. Was willst du im Winter allein in Kent?“

„Außerdem habe ich mit Violet ausgemacht, dass ich Weihnachten bei ihr in Devonshire verbringe, wie du sehr wohl weißt, denn du bist ebenfalls eingeladen.“

Violet war die jüngere Schwester ihres Ehemannes Andrew, mit der sie sich anfänglich nicht sonderlich gut verstanden hatte. Aber nachdem Andrew in Afrika verschollen war, hatten sie sich einander angenähert und waren inzwischen Freundinnen geworden. Violet war mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern auf das elterliche Gut in Devonshire zurückgekehrt und lebte dort mit ihrer Mutter zusammen.

„Nimm jenen Abenteurer Thomas Stevens, der auf seinem Hochrad um die Welt fuhr“, ignorierte Tante Jo Glorias Einwand. „Beachtenswert, wo dieser Mensch überall hingelangte. Auf einem Rad! Wien, Konstantinopel, Teheran, Ägypten, Delhi und Kalkutta, schließlich Hongkong und Schanghai. Schon allein der Klang all dieser fremden Namen macht neugierig auf die weite Welt. Meinst du nicht?“

„Nein.“

„Wie wäre es dann hiermit?“ Tante Jo zog aus dem Bücherstapel, der daraufhin gehörig ins Wanken geriet, einen Baedeker hervor. Sie schwenkte ihn in der Luft und setzte ein vergnügtes Grinsen auf. „Italien Teil drei, Süditalien und Sizilien, mit Exkursionen zu den Liparischen Inseln, Malta, Sardinien, Tunis und Korfu“, las sie vor.

„Ach Tantchen!“

„Dann bedenke zumindest die Gefährlichkeit Londons! Jene schrecklichen Morde in den vergangenen Monaten von diesem Jack the Ripper! Und diese grässlichen, sensationslüsternen Zeitungsberichte darüber. Ich mache mir Sorgen, denn du bist viel in dieser verkommenen Stadt unterwegs! Wir müssen von hier fort!“

„Ich werde in Kent und dann in Devonshire sein. Das dürfte dich doch hinreichend beruhigen.“

„Noch bist du es aber nicht.“

„Und seit wann bist du derart erpicht darauf, in die Ferne zu schweifen? Bisher waren dir die Kent Downs und Schottland doch Reiseziele genug.“ Ihre Großtante war oft mit ihrem verstorbenen Ehemann in Schottland gewesen, wo die Wurzeln von dessen Familie mütterlicherseits lagen.

„Du bist nicht die Einzige, der Italien guttat.“ War Tante Jo zuvor schalkhaft neckend gewesen, so wurde sie nun ernst und sagte mit einem fast feierlichen Unterton: „Ich habe das Licht genossen und die Gerüche. Ich habe den Klang der fremden Sprache genossen und den Anblick der unvergänglichen Kunstwerke, die dieses Land erschaffen hat. Sogar unser kleines Abenteuer in Verona hat mir Spaß gemacht, ich fühlte mich lebendig.“ Sie senkte den Blick auf das Sammelsurium um sie her und schloss: „Nur Gott weiß, wie viele Jahre mir noch bleiben, mein Kind. Ich möchte sie mit Schönem ausfüllen.“

Gloria, zutiefst ergriffen, stürzte zu ihr hin, beugte sich vor und umarmte sie. „Aber viele Jahre noch, liebes Tantchen!“, raunte sie an deren Hals. „Und wir werden sie mit Schönem füllen, das verspreche ich!“

„Also verreist du mit mir?“, kam es trocken.

Gloria richtete sich mit einem Ruck auf und blickte ihrer Tante ins Gesicht.

Tante Jo lächelte gewinnend. „Gut, abgemacht“, sagte sie und deutete auf die Hüte zu ihrer Linken, „welchen der drei soll Vera mir aufputzen?“

„Du hast doch jetzt nicht etwa absichtlich derart sentimentale Töne angeschlagen?“

Ein Räuspern an der Tür, Gloria fuhr herum, erblickte Twentyman, Lady Blythes Butler.

„Ein Besucher, Mylady“, meldete Twentyman mit sonorer Stimme und trat, ein kleines Silbertablett in der Hand, auf dem eine Visitenkarte lag, zum Sofa. Er beugte sich hinunter und reichte Lady Blythe das Tablett. Diese griff nach der Karte, warf einen Blick darauf – und hob wie vom Donner gerührt den Kopf.

„Das ist nun ganz und gar sonderbar!“, bemerkte sie überrascht.

„Was?“, fragte Gloria.

„Da habe ich eben noch von Italien gesprochen und sogar davon, dass mir unser kleines Abenteuer in Verona Vergnügen bereitete – und da …“ Sie sprach nicht zu Ende, sondern starrte Gloria voll ungläubigem Erstaunen an.

„Was?“, wiederholte Gloria und hob in einer fragenden Geste die Hände.

Ein Lächeln überzog plötzlich Tante Jos Gesicht, als habe jemand Sonnenschein darüber ausgegossen. Sie schenkte das Lächeln ihrem Butler und gebot milde: „Bitten Sie ihn herein, Twentyman.“

Der Butler wandte sich zur Tür.

„Und bringen Sie den Tee“, rief sie ihrem Diener hinterher.

Gloria, plötzlich von einer Ahnung befallen, fragte: „Wer ist es?“

„Oh, Liebes!“ Tante Jo strahlte nun regelrecht. „Jener Mann, der wie kein anderer zusammen mit dir in dieses italienische Abenteuer verwickelt war. Lord Lyndon, Viscount Loughborough.“

 

Mit dem Namen kehrte die Erinnerung an ihn zurück. Dabei war es nicht so, dass sie ihn vergessen hätte. Durchaus nicht. Hin und wieder hatte sie an den Viscount gedacht. Doch das Regeln ihrer privaten Angelegenheiten hatte sie derart in Anspruch genommen, dass es zu mehr als einem flüchtigen Gedanken nicht gekommen war. Einem Brief zum Beispiel. Ihm schien es ähnlich ergangen zu sein, denn auch er hatte keinerlei Nachricht gesandt.

Und nun war er hier.

Als Lord Lyndon das Wohnzimmer betrat, lächelnd und aufgeräumt wie je, stellte Gloria fest, dass sein überraschendes Auftauchen sie befangen machte.

„Mylady Blythe!“, rief der Viscount freudig und eilte zum Sofa, um die ausgestreckte Hand ihrer Tante zu ergreifen.

„Wie schön, Sie wiederzusehen, Lord Lyndon!“, erwiderte Tante Jo.

„Die Freude ist ganz meinerseits“, betonte er und hauchte einen Kuss auf Lady Blythes Handrücken. „Und wie erfreut bin ich, auch Sie hier anzutreffen, Lady Wingfield!“, wandte er sich sodann an Gloria und bedachte auch sie mit einem Handkuss. „Ich habe mir erlaubt, ganz ohne Anmeldung vorzusprechen. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?“, sagte er mit einem raschen Blick auf das Durcheinander, das Lady Blythe umgab.

„Gewiss nicht, es ist reizend von Ihnen, uns zu überraschen!“, versicherte Tante Jo. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Sie wies zum Sessel zu ihrer Linken.

Lord Lyndon tat, wie ihm geheißen.

„Sind Sie schon lange in London?“

„Seit vier Tagen.“

Gloria ging zu dem Sessel rechts vom Sofa. Da er auf das Fenster ausgerichtet war, auf die Fächerpalme im Topf und die Zimmerpflanzen auf dem Sims, drehte sie ihn etwas, sodass sie Tante und Gast ansehen konnte, und setzte sich. Ihr gegenüber saß tatsächlich jener Mann, der sich bei ihrer ersten Begegnung blasiert und besserwisserisch verhalten, sich aber dann als durchaus umgänglich erwiesen hatte. Wie interessant, ihn wiederzusehen!

„Es ist kaum zu glauben, Lord Lyndon, aber gewissermaßen sprach ich gerade von Ihnen“, plauderte Tante Jo.

„Ach?“, machte er.

„Ich erinnerte Gloria – Lady Wingfield – soeben an unser kleines Abenteuer in Verona.“

Lord Lyndon lächelte und sagte, indem er Gloria den Kopf zudrehte: „Da Sie es erwähnen: Wie geht es Ihrem Knöchel?“

Bei jenem „kleinen Abenteuer“ in Verona war Gloria eine Treppe hinuntergestoßen worden. Glücklicherweise war sie nur einige Stufen hinuntergefallen. Außerdem hatte ihr Gesäßpolster schlimmere Verletzungen verhindert. Dennoch hatte sie sich den Knöchel verstaucht und den Rest ihrer Reise auf lange Erkundungstouren zu Fuß verzichten müssen.

„Gut, danke, er ist ausgezeichnet geheilt“, antwortete Gloria etwas steif, wie sie selber merkte.

„Und hatten auch Sie noch eine angenehme Zeit in Italien?“, zog Lady Blythe die Aufmerksamkeit des Viscounts wieder auf sich. „Haben Sie Ihre Freunde in Rom getroffen?“

„Ja, Rom mit Freunden war ein gelungener Abschluss.“

Twentyman erschien und brachte den Tee. Da der kleine Beistelltisch mit Büchern und Broschüren übersät war, stutzte er einen Augenblick verwirrt, denn er wusste nicht, wohin mit dem Tablett.

Tante Jo packte die Bücher und verfrachtete sie neben sich aufs Sofa.

Twentyman stellte das Tablett ab, goss die dampfende Flüssigkeit ein und reichte die Tassen. Mit einer leichten Verbeugung fragte er: „Soll ich die Utensilien an ihren angestammten Platz bringen, Mylady?“

„Ist schon gut, Twentyman, vielen Dank. Der Viscount wird die kleine Unordnung übersehen.“

„Wie Sie meinen, Mylady.“

Damit entfernte er sich und Lord Lyndon fragte: „Reisebroschüren und ein Baedeker – sind Sie etwa im Begriff zu verreisen?“

„In der Tat sprachen wir gerade von einer solchen Möglichkeit, nicht wahr, Liebes?“

„Nun, wir haben ein wenig herumgeträumt, wie es eventuell wäre …“ Gloria sprach nicht zu Ende und Lord Lyndon nippte kurz an seinem Tee und sagte dann: „So planen Sie nichts Konkretes?“

„Wir sind schon ein bisschen weiter als nur beim Herumträumen, Lord Lyndon. Gloria, du stimmst mir doch zu?“

Lord Lyndon blickte von Tante Jo zu ihr.

Gloria, in die Enge gedrängt, antwortete ausweichend. „Im Augenblick denken wir über ein mögliches Ziel nach.“

„Nun, in der Tat stehe ich im Begriff zu verreisen!“, sagte Lord Lyndon.

„Ach wirklich?“, rief Tante Jo erfreut. „Wohin geht es denn?“

„Nach Ägypten. Aus diesem Grund – unter anderem – bin ich nun auch in London. Ich habe heute Vormittag meine Passage gebucht. In vier Wochen breche ich auf.“

„Ägypten!“, rief Tante Jo. „Das Land der Pharaonen und Pyramiden!“ Sie stellte ihre Tasse ab, schaute Lord Lyndon direkt und eindringlich an und sagte: „Ich gestehe, Ägypten stand ebenfalls auf unserer Liste. Was halten Sie davon, wenn wir mit Ihnen reisten? Sie sind quasi das Zünglein an der Waage, verzeihen Sie mir den Vergleich, Lord Lyndon, doch wir konnten uns nicht entscheiden – und nun ist es entschieden! Wir kommen mit! Ach, wie wunderbar!“, jubelte sie vergnügt und Lord Lyndon entfuhr ein erstauntes „Äh …“, während Gloria ihre Tante ungehalten anstarrte. Wie konnte sie den Viscount derart in Verlegenheit bringen!

„Ich werde sofort Herrn Gray-Bartholomew bitten, sich um alles zu kümmern“, zwitscherte diese.

„Aber verehrte Lady Blythe, ist das nicht ein wenig überstürzt? Wollen Sie dies nicht noch einmal überdenken?“

„Aber gewiss nicht! Sie schickt der Himmel. Sie haben unsere Überlegungen im richtigen Moment zum Abschluss gebracht. Und“, sie zwinkerte dem Viscount tatsächlich zu, „wir haben ja bereits eine gemeinsame Reiseerfahrung, wenn ich so sagen darf! Einen besseren Begleiter als Sie, Lord Lyndon, kann sich eine Lady nicht wünschen!“

„Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Lady Blythe. Ich reise lediglich bis Alexandria. Dort bin ich völlig von einer Angelegenheit in Anspruch genommen. Sobald diese erledigt ist, werde ich zurückkehren.“

Es ist klar, dass er uns nicht dabeihaben will, dachte Gloria – und spürte einen Stich, obwohl ihr die aufdringlichen Äußerungen ihrer Tante peinlich waren.

Tante Jo indes rief: „Aber Sie werden mir doch nicht erzählen, dass Sie die Schätze Ägyptens nicht sehen wollen? Das können Sie nicht tun! Gloria, bist du nicht der gleichen Ansicht? So rede ihm zu. Man muss auf jeden Fall Kairo besuchen. Die Pyramiden. Luxor. Eine Fahrt auf dem Nil! Ach, wie einst Cäsar und Kleopatra!“ Sie faltete die Hände vor der Brust und richtete einen verzückten Blick an Lord Lyndon vorbei vermutlich direkt auf den mächtigen Strom.

Gloria sah zu Lord Lyndon, der wiederum sah sie an – rang sich ein höfliches Lächeln ab (wobei die Narbe unter seinem rechten Auge zuckte) und nippte an seinem Tee.

Krummstab

London, Oktober 1888: Soll man erneut verreisen?

Krummstab

Kapitel 2

So hatte er sich das nicht vorgestellt! Ganz und gar nicht!

Alexander Lyndon, Viscount Loughborough lehnte nachdenklich in den Polstern seines dahinruckelnden Landauers. Er hatte die Hände über dem Stockknauf übereinandergefaltet und sah durch das Wagenfenster hinaus auf die vorüberziehenden Hausfassaden in der Duke Street.

Er hatte Lady Blythe mit dem Gedanken aufgesucht, die Bekanntschaft zu ihr und ihrer Großnichte zu erneuern. Man könnte ja unverbindlich in Kontakt bleiben. Sich womöglich in der nächsten Saison in London verabreden. Etwas in der Art. Denn wie er in den vergangenen Monaten festgestellt hatte, waren ihm die Damen durchaus hin und wieder im Kopf herumgegangen. Manchmal, wie einem eben jemand ohne besonderen Grund einfiel oder weil man etwas sah, das man mit dieser Person in Verbindung brachte, hatte er an Lady Wingfield – Gloria – gedacht. Anfänglich hatte er ihre selbstbewusste Art enervierend gefunden. Wenn ihm auch ihr angenehmes Äußeres durchaus zugesagt hatte. Doch schließlich hatten ihr Scharfsinn und ihre Entschlossenheit seine Anerkennung gefunden. Es wäre sicher unterhaltsam, ihr hin und wieder zu begegnen, hatte er überlegt.

Und nun hatte er sie wiedergesehen. Blass war sie, eine Blässe von einer erschöpften, müden Art. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte sie nicht eben einen glücklichen Eindruck gemacht. Ob dies mit der Ungewissheit über das Schicksal ihres verschollenen Ehemannes zusammenhing? Es war ein Schock gewesen, als sie ihm bei ihrer letzten Begegnung in Verona davon und vom Tod ihres Geliebten erzählt hatte. Zum einen, weil sie so etwas Schlimmes hatte erleiden müssen, zum anderen aber auch, weil man derart persönliche Angelegenheiten einem flüchtigen Bekannten gegenüber nicht offenbarte. Dass sie es dennoch getan hatte, lag an der zweifellos impulsiven Art Lady Wingfields. Und wohl auch am Alkohol, sie hatten an jenem letzten Abend einiges getrunken. Und wahrscheinlich auch ein bisschen an den besonderen Umständen, in die sie gemeinsam hineingeraten waren.

Er hatte damals erwartet, dass es ihn schockieren würde, dass sie einen Geliebten gehabt hatte. Aber das tat es nicht. Vielleicht war es das Bedürfnis nach Trost, das sie dazu verleitet hatte, sich einem anderen Mann zuzuwenden. Wahrscheinlicher aber war Einsamkeit. Und am allerwahrscheinlichsten war das, was sie ihm in Verona in einem knappen Satz dazu gesagt hatte: Es war einfach geschehen. Ja, solcherlei geschah, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Jane hatte sich in einen Balletttänzer verliebt, da waren er und sie noch verheiratet gewesen.

Mit einem Ruck richtete Alexander sich auf: Oder machte Lady Wingfield deshalb einen etwas mitgenommenen Eindruck, weil sie Nachricht von ihrem Ehemann hatte? Aber dann hätte sie womöglich eine Andeutung gemacht? Nun, eines konnte für sicher gelten: Ein Teil ihrer unglücklichen Haltung rührte gewiss daher, dass sich ihre Großtante ihm derart aufgedrängt hatte. Meine Güte, Lady Blythe hatte ihn mit ihrer forschen Anwandlung nachgerade überrannt! Alexander ging das Gespräch in Gedanken noch einmal durch. Man war im Anschluss zu allgemeinen Themen übergegangen. Der Verkauf des Stadthauses von Lady Wingfields verstorbenen Eltern (er hatte nicht gewusst, dass sie verstorben waren, und natürlich nicht nach den genauen Umständen gefragt, sondern lediglich sein Beileid ausgesprochen), die Gegebenheiten in ihrem Gut bei Ashford (sie hatte in Italien erwähnt, dass sie aus Kent stamme, und er hatte geglaubt, ihre Eltern lebten dort), eine misslungene Theateraufführung, die grauenvollen Morde von diesem Schlächter Jack the Ripper.

Als er im Begriff war, sich zu verabschieden, und Lady Blythe ihn nach der Schifffahrtslinie fragte, mit der er führe, und daraufhin noch einmal bekräftigte, sie werde die nötigen Schritte für eine Ägyptenreise einleiten, hatte er begriffen, dass sie es tatsächlich ernst meinte. Natürlich hatte er diskret versucht, sie von diesem absurden Vorhaben abzubringen; aber die zurückhaltende Höflichkeit eines Gentleman erlaubte ihm selbstverständlich nicht, die Dame zurückzuweisen. Dabei würde er lediglich in Alexandria und dort auch nur so lange wie unbedingt nötig bleiben. Er würde kaum Zeit für die beiden Ladies haben, da er in einer Angelegenheit reiste, die ihm selbst noch unbekannt war, denn die telegrafische Nachricht seines alten Freundes Julian Casterton hatte sich ebenso dringlich wie nebulös gelesen:

Brauche dringend deine Hilfe · stop · prekäre Lage · stop · Bedrohung ernst · stop · C.

Alexander hatte Julian Casterton kennengelernt, als er vierzehn Jahre alt war. Dessen Vater Simon Casterton, Earl of Withington, und Alexanders Vater waren Geschäftspartner gewesen. Arthur Gordon Lyndon hatte 1862 Anteile an einer Baufirma erworben, die maßgeblich am Bau des Sueskanals beteiligt war. Diese Baufirma gehörte zu einem Viertel dem Earl. Aber vorhandene und noch zu erwartende Probleme bei der Finanzierung und beim Gewinn – der Kanal rentierte sich anfänglich nicht – veranlassten Alexanders Vater 1870, ein Jahr nach der Eröffnung des Kanals, seine Anteile zu veräußern.

Da Arthur Gordon Lyndon seine Söhne früh mit geschäftlichen Gepflogenheiten vertraut machte, nahm er Alexander und dessen Bruder Raymond zu den Abwicklungen nach London mit. Alexander war zu diesem Zeitpunkt vierzehn, Raymond zehn Jahre alt gewesen. Ihr jüngster Bruder Thomas war mit seinen sieben Jahren definitiv noch zu jung und blieb zu Hause. Auch der Earl erschien mit seinem Sohn – seinem jüngsten – und so lernte Alexander den damals fünfundzwanzigjährigen Julian Casterton kennen.

Alexander sah durch das Kutschenfenster hinaus in den herbstlichen Nieselregen und erinnerte sich mit einer leisen Verwunderung an sein vierzehnjähriges Alter Ego, das den gut aussehenden, gewandten jungen Mann bewundert hatte. Julian Casterton war charmant gewesen und hatte zudem ein männlich-tatkräftiges Verhalten an den Tag gelegt, das Alexander imponiert hatte.

Da man sich allgemein sympathisch war, blieb man auch weiterhin in loser Verbindung, zumal Casterton senior und junior in der Baustoffindustrie sowie in Bereichen, die mit Stahl und Metall zu tun hatten, tätig waren, was hervorragend mit Arthur Gordon Lyndons Geschäften im Eisenbahnbau korrespondierte.

Casterton junior verlegte sich später hauptsächlich auf den Handel mit Tee aus Indien und Baumwolle aus Ägypten und lebte inzwischen schon etliche Jahre mit seiner Frau in Alexandria. Auch wenn man selten Kontakt hatte, war man doch kollegial miteinander verbunden, denn Alexander, der sich seit seines Vaters Tod um sämtliche Geschäfte kümmerte, hatte eine kleine Einlage in Castertons Baumwollhandel. Außerdem hatte Julian Casterton Alexanders jüngerem Bruder Raymond einst dazu verholfen, ins Teegeschäft einzusteigen, indem er ihm mit gerade mal zwanzig eine Verwalterstelle auf seiner Plantage in Nordindien angeboten hatte. Inzwischen war Raymond selbst erfolgreicher Geschäftsmann mit zwei eigenen Plantagen in den Vorbergen des Himalaja nahe Darjeeling, wo er auch mit seiner entzückenden jungen Frau lebte. In seinen Briefen erwähnte er Casterton zuweilen, über dessen Erfolge oder Misserfolge er als Mitbewerber natürlich im Bilde war.

Und nun hatte Casterton selbst geschrieben.

Alexanders erster Gedanke, nachdem er das Telegramm gelesen hatte, war natürlich gewesen: Casterton steckt in finanziellen Schwierigkeiten und braucht Geld. Er schickte eine Nachricht an Raymond. Sein Bruder antwortete, er wisse nichts von Problemen oder Verlusten Castertons, und auch in Händlerkreisen höre man nichts Negatives. Daraufhin telegrafierte Alexander Casterton und bat um nähere Erläuterungen. Langjährige Verbundenheit schön und gut, aber eine Reise nach Alexandria war schließlich nicht eben eine Fahrt von London nach Oxford.

Castertons Antwort lautete: Appelliere an deine Loyalität · stop · Komm bitte schnellstmöglich · stop · C.

Da konnte Alexander sich natürlich nicht verweigern, auch wenn ihm nicht einleuchtete, warum ausgerechnet er prädestiniert sein sollte, Casterton bei was auch immer zu helfen. Er hätte sich doch sicher an einen seiner einflussreichen Freunde aus der Stadt, in der er lebte, wenden können? Doch was auch immer Castertons Schwierigkeiten sein mochten – Alexander faltete die behandschuhten Hände über seinem Stockknauf, beugte sich vor, stieß laut Luft aus und stützte das Kinn auf die Hände –, sie waren mit Sicherheit unerquicklich. Kein Gentleman würde einen anderen mit solcher Dringlichkeit um Hilfe bitten, wenn er nicht wirklich in einer misslichen Lage wäre.