Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 4

Rätsel um den Schwarzen Ritter

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

In der Falle

Magnus hörte ein leises Sausen, dann spürte er, wie ihn etwas an den Fußknöcheln packte, und im nächsten Moment baumelte er kopfüber in der Luft.

«He! Was soll das denn?», rief er, halb verblüfft und halb verärgert.

Lilly wäre es um ein Haar genauso gegangen. Auch nach ihren Füßen angelten gierige Schlingen, doch ihr gelang gerade noch rechtzeitig ein Satz zur Seite, dann rollte sie sich im Gras ab und blieb verwundert inmitten von Gänseblümchen und Löwenzahn sitzen.

«Ich glaub, ich spinne», keuchte sie, wischte sich ihre langen rotblonden Haare aus dem Gesicht und schob den Cowboyhut in den Nacken, den sie immer und überall auf dem Kopf trug. «Das ist ja wie im Kino. Albert muss völlig abgedreht sein. Hat er dir etwas davon gesagt, dass der Garten mit Fallen gespickt ist?», fragte sie Magnus.

«Meinst du, dann würde ich jetzt hier so uncool herumhängen?», gab der genervt zurück. Langsam wie ein Döner-Spieß drehte er sich an dem Seil um seine eigene Achse. «Wenn ich jemals wieder herunterkomme, kann Albert etwas erleben. Ich mache ihm einen Knoten in seine Reifen … Ich lasse ihn sein eigenes Notebook aufessen … Ich …»

«Du musst dich schon entscheiden, in welcher Reihenfolge du ihn foltern willst», lachte Lilly.

Sie hatte ihren Schrecken überwunden und amüsierte sich nun über den Wutanfall von Magnus. Sonst war er eher zurückhaltend, und niemals würde er jemandem drohen. Schon gar nicht Albert. Es sei denn, er hing gerade verkehrt herum an einem Baum. «Da kommt Albert schon. Und Merlin ist auch dabei.»

Albert war zehn Jahre alt, genau wie Lilly und Magnus. Die drei waren die besten Freunde und bildeten ein Team, dessen Spezialität es war, heimlich abenteuerliche Reisen in die Vergangenheit zu unternehmen. Das heißt, tatsächlich in das Damals reisten nur Lilly und Magnus. Denn Albert saß seit einem Unfall im Rollstuhl, und der war leider zu breit, um in den geheimen Tunnel durch die Zeit zu passen. Dennoch war Albert sehr wichtig für Lillys und Magnus’ Reisen in die Vergangenheit. Erstens war er es gewesen, der in der Villa, die er mit seinem Vater bewohnte, den Eingang zum Tunnel entdeckt hatte. Und zweitens versorgte er Lilly und Magnus vor und während ihrer Abenteuer mit allen wichtigen Informationen zu der Zeit und der Gegend, in der sie sich befanden. Schließlich waren in der Vergangenheit viele Dinge ganz anders als heute, und man konnte in gewaltige Schwierigkeiten geraten, wenn man sich nicht auskannte und durch falsches Verhalten oder merkwürdiges Aussehen auffiel.

Man konnte allerdings fast ebensolchen Ärger kriegen, wenn man seine Freunde mit fiesen Fallen begrüßte. Albert war noch ein paar Meter von Lilly und Magnus entfernt, da ließ Magnus eine so heftige Schimpftirade los, dass sein Kopf puterrot anschwoll.

«Bist du verrückt geworden, hier solche gemeingefährlichen Todesfallen aufzustellen? Ich hätte mir den Hals brechen können oder noch Schlimmeres! Da gehört doch wohl mindestens ein Warnschild an das Gartentor. Überhaupt sollte man nicht … Was? Merlin …? Merlin, hör sofort auf mit dem Quatsch!»

Magnus fuchtelte wild mit den Armen in Richtung seiner Füße. Dort krallte sich Alberts zahme Dohle Merlin seitlich an einer seiner Sandalen fest und flatterte nach Leibeskräften mit den Flügeln. Magnus drehte sich immer schneller und schneller, und der Vogel krächzte, vergnügt über die rasante Fahrt auf dem menschlichen Baum-Karussel.

«Stopp! Anhalten! Mir wird übel!», jammerte der Junge. Seine Gesichtsfarbe wandelte sich von einem wütenden Tomatenrot zu einem ungesunden Limonengrün.

Lilly eilte ihm zu Hilfe. Sie scheuchte Merlin mit einer Hand fort und bremste den rotierenden Magnus mit der anderen ab. Albert zog hinter seinem Rücken eine drahtlose Fernbedienung mit drei Knöpfen hervor und drückte auf einen davon. Augenblicklich senkten sich die Schlingen mit dem armen Magnus herab und legten ihn sanft im Gras nieder.

«Mensch, wenn du willst, dass ich in Zukunft auch nur einen Fuß in diesen Höllengarten setze, musst du aber eine verflixt gute Erklärung dafür haben, was dieses ganze Theater soll», japste er. Als der Pechvogel von den dreien war Magnus ja einiges gewohnt, aber vom eigenen Freund war er noch nie so reingelegt worden.

«Tut mir echt leid», entschuldigte sich Albert. Er wirkte aufrichtig zerknirscht. «Ich hab heute Morgen einfach vergessen, die Eindringling-Abwehranlage auszuschalten. Eigentlich soll die natürlich nicht euch fangen, sondern …»

«… Dubios!», platzte Lilly heraus. Beim Gedanken an ihren fiesen Gegenspieler verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. Hermann Dubios war ein skrupelloser Ganove aus dem 19. Jahrhundert, der in einem früheren Zeit-Abenteuer den Kindern gefolgt war. So hatte er nicht nur von dem geheimen Tunnel erfahren, sondern war durch ihn sogar in die Gegenwart gelangt. Und das war noch nicht alles. Während des Abenteuers hatte er den Schatz von Troja gestohlen und dafür gesorgt, dass Magnus einen üblen Hieb mit einer Spitzhacke abbekam. Am gefährlichsten war er jedoch geworden, als Lilly und Magnus mit Christoph Kolumbus nach Amerika unterwegs waren und Dubios versucht hatte, den Tunnel unter seine Kontrolle zu bringen. Denn wäre ihm das gelungen, hätten die beiden nie wieder ins Jetzt zurückkehren können und den Rest ihres Lebens in der Vergangenheit verbringen müssen, vor mehr als 500 Jahren. Falls es also einen wirklich guten Grund für eine wirksame Eindringling-Abwehranlage gab, dann wohl den, Dubios vom Tunnel fernzuhalten.

Das sah auch Magnus ein. «Na dann, herzlichen Glückwunsch!», murmelte er mit einem gequälten Lächeln. «Die Anlage hat soeben ihren Testlauf bestanden.»

«Mit Bravour!», stimmte Lilly zu. «Wenn du es nun noch schaffst, sie nur nachts einzuschalten oder wenn niemand zu Hause ist, bietet sie den perfekten Schutz, würde ich sagen.»

Sie half Magnus auf die Beine, und gemeinsam trotteten sie auf den Eingang der großen gelben Villa zu, wo sie ihr nächstes Abenteuer aushecken wollten. Ganz ohne versteckte Fallen und – so hofften sie – ohne böse Fieslinge.

Sie hatten bei diesem Plan allerdings Alberts Vater vergessen. Kaum hatten sie die Haustür hinter sich geschlossen und Albert «Es sind Lilly und Magnus!» gerufen, da kam ein großer, dünner Mann mit Brille, wilden Haaren und weißem Kittel auf sie zugerannt.

«Oh, wie schön, euch zu sehen», keuchte er und lief ohne anzuhalten an ihnen vorbei und den Gang entlang. Seine Zunge hing ihm ein Stück aus dem Mund heraus. Offenbar war er schon eine ganze Weile am Joggen – und das war sicher mehr, als er gewohnt war. Verwundert schauten die Kinder ihm nach, um gleich darauf ihre Blicke einem seltsamen Apparat zuzuwenden, der, von einem Propeller angetrieben, auf Kopfhöhe brummend hinter dem Mann hersauste. Das Gerät hatte Ähnlichkeit mit einem umgedrehten fliegenden Blumentopf mit einer daran befestigten Wasserpistole und Kameraaugen.

«Das gehört auch zur Eindringling-Abwehranlage», erklärte Albert.

«Mein Vater meint, wir brauchten unbedingt etwas zur Überwachung aus der Luft. In der Wasserpistole ist Stinkbombenflüssigkeit. Wer davon getroffen wird, kann sich verkleiden, wie er will – man erkennt ihn am Geruch.»

«Klingt raffiniert», meinte Lilly.

Mitleidig folgten ihre Augen Alberts Vater, der in den hinteren Zimmern vergeblich versucht hatte, den fliegenden Stinkbomber abzuschütteln, und nun wieder an ihnen vorbeihastete. «Scheint aber noch nicht so ganz zu funktionieren, oder?»

Albert zuckte mit den Schultern. Sein Vater war von Beruf Erfinder, und es war normal, dass seine Konstruktionen bei den ersten Versuchen nicht ganz das taten, wozu sie eigentlich vorgesehen waren. Meistens explodierten sie einfach oder verwüsteten das Labor im zweiten Stock. Dass sie ihren Schöpfer durch die ganze Villa jagten, war dagegen neu.

«Warum geht das Ding denn nur auf Sie los, Professor?», fragte Magnus, als Alberts Vater sie zum dritten Mal passierte.

«Hab wohl vergessen … den Zielfinder … richtig einzustellen», keuchte der Erfinder. «Jetzt jagt es … die Person, … die es zuerst … gesehen hat. … Und das war … dummerweise ich.»

Ganz klar: Der arme Mann war am Ende seiner Kräfte angelangt. Wenn ihm nicht gleich jemand zu Hilfe kam, würde er eine gehörige Ladung Stinkflüssigkeit abbekommen. Bloß wie hielt man einen fliegenden Blumentopf auf, der obendrein bewaffnet war?

Die drei überlegten noch, was zu tun wäre, als Merlin plötzlich zum Flug ansetzte. Der Vogel hatte bis dahin ruhig auf Alberts Schulter gesessen und das Geschehen mit argwöhnischem Blick beobachtet. Ihm gefiel überhaupt nicht, dass dieses komische Ding in seinem Revier herumflog und mit Alberts Vater spielte. Das waren seine Menschen, und wenn jemand mit denen Spaß hatte, dann niemand anderes als Merlin selbst.

Eifersüchtig ging die Dohle zum Angriff über. Sie flog von hinten an den Blumentopf heran und versetzte ihm mit ihrem spitzen Schnabel einen kräftigen Hieb. Genau auf die Achse des Propellers. Das Gerät sackte einen halben Meter nach unten, knallte gegen eine große Bodenvase und geriet dadurch in Schieflage. Völlig außer Kontrolle schoss es Merlin entgegen. Der Vogel konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen, verfing sich mit seinen Schwanzfedern in dem Propeller, wurde mitgerissen und durchgewirbelt. Als wirres Knäuel von Federn, Wasserpistole und Blumentopf gingen beide quietschend und kreischend zu Boden. Sofort eilten die Kinder und Alberts Vater zu Hilfe. Der Professor schaltete den Apparat aus, und Magnus nahm Merlin behutsam hoch. Bis auf ein paar ausgerupfte Schwanzfedern und einem ordentlichen Drehwurm war der Dohle zum Glück nichts passiert.

«Siehst du, nun weißt du, wie blöd das ist, wenn solche durchgeknallten Abwehranlagen einen als Brummkreisel benutzen», sagte Magnus, während er Merlin sanft den Kopf kraulte.

 

Nach diesem aufregenden Empfang verbrachten Lilly, Magnus, Albert und sein Vater den Rest des Tages damit, die Villa aufzuräumen und die Fallen im Garten neu zu spannen. Der Stinkebomber war kaputt. Der Professor trug ihn hoch ins Labor und versprach, ihn erst gründlich zu überarbeiten, bevor er einen zweiten Testlauf wagen wollte. Und ohne Merlins Zustimmung würde schon gar kein Blumentopf mehr durch die Gegend fliegen.

Die Dohle zog es dennoch vor, mit den Kindern in den Garten zu gehen. Es war ein heißer Sommertag, wie geschaffen für die großen Ferien. Lilly und Magnus schleckten jeder an einem Eis, und Merlin knabberte an der Waffel, während Albert ihnen zeigte, wo die einzelnen Fallen versteckt waren.

«Schlingen sind praktisch überall unter den Bäumen. Auf der Wiese haben wir hier, dort und da hinten noch Fallgruben ausgehoben und kniehoch mit frischem Kuhmist gefüllt.» Er grinste breit. «Die Fliegen aus der gesamten Nachbarschaft warten ganz wild darauf, dass endlich jemand durch die automatischen Falltüren rasselt.»

Lilly rümpfte die Nase. Die Vorstellung von einem Bad in so einer Jauchegrube hatte ihr den Appetit auf ihr Eis verdorben, und sie hielt es Merlin hin, der sich gierig darüber hermachte. Albert rollte auf einen Brennnesselbusch zu.

«Das hier ist auch nicht schlecht», sagte er. «Darin sind kleine Katapulte mit Wasserbomben versteckt. Allerdings haben wir statt Wasser extraklebrigen Honig in die Ballons gegeben.»

Magnus kratzte sich am Kopf. «So langsam glaube ich, dass wir es mit den Baumschlingen noch ganz gut getroffen haben», überlegte er. «Aber sag mal: Woran merken die Fallen denn, dass jemand im Garten herumschleicht? Die müssen doch irgendwie wissen, wann sie losgehen sollen.»

«Jipp! Die reagieren alle auf Schritte», antwortete Albert. «Sobald der Boden im Geh-Rhythmus schwankt, schlagen sie zu. Für mich in meinem Rollstuhl besteht also keine Gefahr, ich fahre ja über das Gras. Deshalb hatte ich auch nicht gemerkt, dass ich die Anlage heute Morgen nicht ausgeschaltet hatte.»

«Und du meinst wirklich, Dubios taucht demnächst hier auf?», fragte Lilly. Nervös spielte sie an der Krempe ihres Cowboyhuts herum.

«Garantiert!» Albert nickte heftig. Unbewusst rieb er seine linke Hand, auf die ihm Dubios bei ihrer letzten Begegnung mit einer dicken Pappröhre geschlagen hatte. Die Prellung war fast abgeheilt, aber wer genau hinsah, konnte noch eine leichte Schwellung feststellen. «Der will immer noch unbedingt an den Tunnel und damit an die Schätze der Vergangenheit. Aber wir sind jetzt vorbereitet, und so leicht wie letztes Mal wird er es nie wieder haben. An diesen Fallen kommt niemand vorbei!»

 

In der folgenden Nacht schlief Lilly unruhig. Ständig träumte sie von verächtlich grinsenden Blumentöpfen, die mit stinkendem Honig Jagd auf sie, Magnus und Albert machten. Irgendwann fingen die Dinger auch noch an, nervtötend zu klingeln. Lilly warf sich im Bett hin und her. Davon verschwanden zwar die Blumentöpfe, aber das Klingeln ging unvermindert weiter. Sie setzte sich auf und steckte sich die Zeigefinger in die Ohren. Nach einer Minute zog sie die Finger wieder heraus. Es hatte gewirkt – das Klingeln war vorbei. Doch stattdessen klopfte es nun an ihrer Zimmertür.

«Ja, was ist denn?», rief Lilly.

Die Tür öffnete sich, und ihre Mutter sah mit einem ziemlich mürrischen und verschlafenen Gesicht herein. In der Hand hielt sie das schnurlose Telefon.

«Es ist für dich», sagte sie. «Albert. Und er behauptet, es sei oberwichtig.» Sie reichte Lilly das Telefon und knurrte: «Vielleicht kannst du ihm ja mal bei Gelegenheit den Unterschied zwischen Tag und Nacht erklären. Damit scheint er gewisse Probleme zu haben.»

Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich und schlurfte zurück ins Elternschlafzimmer. Lilly war schlagartig hellwach, als sie Alberts Stimme hörte.

«Lilly? Bist du es?», begann er. Jede Silbe verriet, wie aufgeregt er war. «Es ist passiert! Er war da! Heute Nacht!»

«Wer? Was meinst du?», fragte Lilly überflüssigerweise. Sie ahnte natürlich, wovon Albert sprach.

«Na, Dubios!», polterte der Junge am anderen Ende der Leitung. «Vor einer Viertelstunde. Höchstens. Er ist geradewegs in eine von den Schlingfallen getappt.»

Lilly hielt den Atem an. Es hatte funktioniert. Sie hatten ihn. Just in diesem Moment hing ihr gefährlichster Feind kopfüber und hilflos an einem Baum und wartete darauf, der Polizei übergeben zu werden.

«Blöd ist nur, dass er wieder entwischen konnte», berichtete Albert weiter. «Die Abwehranlage hat prima funktioniert und meinen Vater und mich sofort geweckt. Aber als wir draußen angekommen sind, baumelte da nur noch ein durchgeschnittener Strick herum. Wir glauben, er hatte ein Messer dabei und sich damit selbst befreit.»

«Mist!» Lilly sackte frustriert zusammen. Wenn Dubios noch immer auf freiem Fuß war, gab es weiterhin keine Sicherheit für den geheimen Tunnel. Albert schien dagegen nicht so niedergeschlagen zu sein.

«Wenigstens haben wir ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt», freute er sich. «Wer weiß … vielleicht haben wir Glück, und er hat die Nase endgültig voll. Solange er nicht durch den Garten schwebt, schafft er es jedenfalls nicht in die Villa.»

Lilly wollte ihm entgegnen, dass sie ihrer Erfahrung nach Dubios besser nicht unterschätzen sollten, doch Albert ließ sie nicht zu Wort kommen.

«Ich mach jetzt Schluss», verkündete er. «Ich will Magnus schnell anrufen und ihm alles erzählen. Wir sehen uns morgen, ja? Bis dann! Tschüs!» Und schon hatte er aufgelegt.