Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 6

Gefahr für Weiße Feder

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

Ungebetener Besuch

PENG! Mit einem mörderischen Knall flog die Tür zum Keller auf. Erschrocken zuckte Albert zusammen und warf sich instinktiv zur Seite. Sein Hopser brachte den Rollstuhl, in dem der Junge saß, aus dem Gleichgewicht. Einen bangen Moment lang balancierte er unsicher auf dem rechten Hinterrad. Dann kippte der Stuhl mit Schwung zurück auf beide Räder und schleuderte seinen Insassen dabei beinahe hinaus. Ächzend klammerte Albert sich an den großen Tisch, an dem er bis eben ruhig und friedlich gesessen hatte. Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch, wie in einem Regal der Deckel eines alten Geigenkastens zuklappte.

Alberts zahme Dohle Merlin hatte darin Deckung gesucht. Nun war der Vogel gefangen und begann augenblicklich laut zu schimpfen und zu zetern. Wütende Schnabelhiebe pochten von innen gegen die Wände des Kastens. Vergeblich. Alleine bekam Merlin den Deckel nicht aufgestemmt.

Bevor Albert ihm helfen konnte, musste er aber erst wissen, wer oder was die Kellertür mit so ungestümer Wucht aufgestoßen hatte. Er hatte da so eine Vermutung. Einen unheilvollen Verdacht, denn Albert kannte nur eine Person, die es irgendwie niemals gelernt hatte, vernünftig mit Türen umzugehen.

«Oh nein! Bloß das nicht!», flüsterte er, während er sich langsam im Rollstuhl umdrehte. «Jeder darf es sein. Jeder, außer …»

«Überraschung!», rief eine Stimme, die Albert nur zu gut kannte. Er seufzte. Also doch … Seine Stirn legte sich in knitterige Sorgenfalten. Er zwang seine Mundwinkel zu einem verkrampften Lächeln.

«Hallo, Tante Amelie», presste er hervor.

«Na, begrüßt man etwa so seine Lieblingstante?» Tante Amelie legte in gespielter Kränkung den Kopf schief, während sie mit ausgebreiteten Armen auf Albert zueilte. Das brachte Leben in ihren Neffen. Hastig stieß er sich vom Tisch ab und rollte ihr flink entgegen. Gerührt, weil er es so eilig hatte, sie in die Arme zu schließen, blieb Tante Amelie verzückt lächelnd mitten im Kellerraum stehen.

Keinen Meter zu früh, dachte Albert erleichtert, als er sich von ihr knuddeln ließ. Nur einen Schritt weiter, und sie hätte direkt in den offenstehenden geheimen Tunnel blicken können. Dann wäre es aus gewesen mit dem Geheimnis und den Zeitreisen. Was hätten Lilly und Magnus da wohl gesagt? Gerade jetzt, wo sie erst vor ein paar Minuten in ihr neuestes Abenteuer aufgebrochen waren.

Der geheime Tunnel, von dem Tante Amelie, Alberts Vater, die Eltern seiner Freunde Lilly und Magnus und am besten überhaupt niemand etwas wissen durfte, war der Grund, weshalb Albert unten im Keller der alten Villa hockte. Eigentlich war es ja schon an sich mehr als ungewöhnlich, dass unter einem alten Haus ein Tunnelanfang verborgen lag. Aber dieser Tunnel hatte ein noch viel größeres Geheimnis – er führte in die Vergangenheit! Das klang so unglaublich, dass die Kinder anfangs dachten, jemand würde sich einen Scherz mit ihnen erlauben. Doch natürlich hatten sie es ausprobiert und bald herausgefunden, dass sie mit Hilfe einer Weltkarte an der Tunnelwand und einem blauen Kristall sogar steuern konnten, an welchen Ort und in welche Zeit der Geheimgang sie führte. Eine ganze Reihe von Abenteuern im Damals hatten sie seitdem schon erlebt. Das heißt, Lilly und Magnus waren in der Vergangenheit unterwegs gewesen. Sie waren zu dem Erfinder und Maler Leonardo da Vinci gereist, hatten den Schatz von Troja gefunden, mit Kolumbus Amerika entdeckt, einen echten Ritter kennengelernt und bei den Olympischen Spielen der alten Griechen zugesehen. Albert dagegen musste dummerweise immer im Jetzt zurückbleiben, weil der Tunneleingang zu eng für seinen Rollstuhl war.

Was jedoch nicht bedeutete, dass er einfach Däumchen drehen konnte. Seine Aufgabe war es, für Lilly und Magnus in Büchern und im Internet wichtige Informationen über die Zeit zu finden, in die sie gereist waren. Mit Merlin als fliegendem Boten schickten die drei sich dann Nachrichten durch den Tunnel hin und her. Mehr als einmal hatte Albert so seine Freunde aus ziemlich miesen Klemmen gerettet. Und schließlich musste er natürlich aufpassen, dass kein Erwachsener den Tunnel entdeckte. Denn Erwachsene haben eine weithin bekannte Abneigung gegen gefährliche Abenteuer und würden augenblicklich weitere Zeitreisen verbieten. Weshalb Albert ohne Gegenwehr die Liebkosungen seiner Tante über sich ergehen ließ. Hauptsache, sie lief nicht so weit in den Keller hinein, dass sie um den großen Schrank gucken konnte, hinter dem der Tunneleingang verborgen lag.

«Kind, was bist du groß geworden», sagte Tante Amelie. «Wenn du so weitermachst, bist du mir in ein, zwei Jahren über den Kopf gewachsen.»

Albert grinste verlegen. Einmal, weil Erwachsene immer solche Sachen sagen. Und dann, weil es nicht sonderlich schwer war, größer als seine Tante zu werden. Sie war eher klein und zierlich und hatte ein freundliches Gesicht, das fast ohne Pause zu lächeln schien. Ihre langen braunen Haare waren wild und wuschelig, sie trug ein T-Shirt und einen wallenden Rock, und ihre braungebrannten Füße steckten in Wandersandalen. Kurz – Tante Amelie war ein wenig merkwürdig.

Und fürchterlich neugierig, wie Albert wusste. Darum bemühte er sich vielleicht ein wenig zu auffällig, sie möglichst schnell aus dem Keller zu lotsen.

«Findest du nicht auch, dass es hier viel zu ungemütlich ist, Tante Amelie?», fragte er. «Alles voller Staub und total uninteressant.»

«Ach so, deshalb verbringen du und deine Freunde ganze Tage hier unten – weil es so uninteressant ist», kicherte Tante Amelie. Sie ließ einen schnellen Blick durch den Raum wandern. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen, in denen sich Kästen, Schachteln und Kartons stapelten. Ein schmutziges Fenster spendete leicht schummeriges Licht, und einer der Lichtstrahlen fiel auf einen mächtigen Schrank, der etwas schräg stand. Auf dem großen Tisch in der Mitte sprang gerade der Bildschirmschoner von Alberts Notebook an.

«Also, ich finde es wahnsinnig gemütlich», sagte Tante Amelie und nahm auf einer Holzkiste Platz, auf der vor einer Viertelstunde noch Lilly gesessen hatte.

Albert nagte an seiner Unterlippe herum. Es gefiel ihr hier! Langsam wurde die Situation kritisch. Wenn sie sich im Keller zu wohl fühlte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie den Tunnel fand. Er musste seine Tante unbedingt loswerden.

«Aber hier gibt es Spinnen», behauptete er. «Jede Menge davon. Ganz große!»

Tante Amelie winkte lässig ab.

«Die machen mir nichts aus», meinte sie. «Nicht, seit ich im Dschungel von Costa Rica nach seltenen Vogelspinnen gesucht habe. Kleine Riesen waren das – größer als meine Handfläche!» Sie streckte ihm eine Hand mit gespreizten Fingern entgegen.

In Alberts Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn sie vor Spinnen keine Angst hatte, dann womöglich vor 

«Fledermäuse! Nebenan ist die Scheibe kaputt, und es haben sich Fledermäuse eingenistet.»

«Ehrlich?» Tante Amelie machte große Augen. Allerdings nicht vor Angst, sondern aus Begeisterung. «Die muss ich mir demnächst mal anschauen. Weißt du, als ich mal in Rumänien bei der Fledermauszählung mitgemacht habe, hat sich sogar eine in meinen Haaren verfangen.»

Albert schloss die Augen. Was nun? Womit vergraulte man eine Tante, die offenbar auf Krabbeltiere und Flattervieh aller Art stand? Da rappelte es neben ihm im Regal. Albert und Tante Amelie sahen verwundert hinüber.

Merlin!, schoss es Albert durch den Kopf. Der steckte ja noch im Geigenkasten. Und nun zappelte er darin anscheinend heftig herum, denn der Kasten hüpfte in kleinen Sprüngen auf und ab und näherte sich der Regalkante. Das war die Gelegenheit.

«Und … und es spukt hier manchmal», verkündete Albert. Er verstellte seine Stimme, sodass sie ein bisschen zittrig klang. «Seltsame Dinge geschehen. Unerwartetes und Unerklärliches.»

«Papperlapapp!», machte Tante Amelie. Sie stand auf, und mit zwei Schritten war sie bei dem Regal. «Sind bestimmt nur Mäuse …», sagte sie, während sie nach dem Geigenkasten griff. «… oder höchstens eine Ratte.» Sie öffnete den Deckel, und augenblicklich schoss ihr ein grau-schwarzer Federbausch entgegen. Merlin drehte schimpfend eine Runde durch den Raum und landete dann oben auf dem Schrank. Schlecht gelaunt begann er, sein zerzaustes Gefieder zu ordnen.

«Oder eine miesepetrige Dohle», murmelte Tante Amelie einigermaßen erstaunt. Fragend sah sie Albert an. «Und? Willst du uns nicht vorstellen?»

Albert seufzte.

«Merlin, das ist meine Tante Amelie», sagte er. «Tante Amelie, das ist Merlin.»

«Sehr erfreut!», lächelte Tante Amelie und machte einen kleinen Knicks in Richtung Schrank. Merlin beachtete sie nicht. Abenteuer, bei denen er gleich zu Anfang in ein dunkles Gefängnis gesperrt wurde, waren überhaupt gar nicht nach seinem Geschmack.

«Wieso bist du eigentlich zu Besuch gekommen?», wollte Albert kurz darauf wissen, während er zusammen mit seiner Tante unterwegs in den ersten Stock der Villa war. Neben den Treppenstufen hatte sein Vater extra für ihn eine Rampe errichtet und einen automatischen Rollstuhlziehlift installiert. Er hatte den Apparat selbst erfunden. So wie viele andere Dinge auch, denn Alberts Vater war von Beruf Erfinder. Bei den ersten Versuchen hatte der Lift Albert allerdings jedes Mal mit Raketengeschwindigkeit durch die Stockwerke katapultiert. Doch seitdem sein Vater die Spannung der Federn neu eingestellt hatte, konnte er damit in drei frei wählbaren Geschwindigkeiten von Etage zu Etage fahren.

«Na, jemand muss doch auf dich und das Haus aufpassen, während dein Vater weg ist», antwortete Tante Amelie unschuldig.

RUCK! Albert hatte auf den Not-Ausknopf gedrückt. Sofort stoppte der Lift. Mitten auf der schrägen Treppe.

«Was soll das heißen: ‹während Papa weg ist›?!», fragte Albert panisch. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Tante Amelie den ganzen Tag hinter ihm herschlich und schließlich den Eingang zum geheimen Tunnel mit dicken roten Ziegelsteinen zumauerte. Das konnte sein Vater ihm doch nicht antun! Das nicht!

«Aber hat er dir denn nichts davon erzählt?», wunderte sich Tante Amelie. Sie stand zwei Treppenstufen höher, weil Albert so abrupt gebremst hatte. «Er ist doch auf diesem Erfinderkongress. Für zwei Wochen.»

Erfinderkongress? Albert kramte hastig in seinem Gedächtnis. Ja doch … Das Wort kam ihm irgendwie bekannt vor. Davon hatte sein Vater tatsächlich etwas gesagt. Aber Albert hatte nicht richtig zugehört, weil er mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Bei der Planung ihrer nächsten Zeitreise.

«Für ganze zwei Wochen?», japste er deshalb und machte ein Gesicht, als müsste er seine Mathelehrerin küssen.

«Ach, nun hab mal keine Angst», sprach Tante Amelie beruhigend auf ihn ein. «Wir zwei werden viel Spaß miteinander haben. Ich bin sehr gut im Babysitten, musst du wissen. In Namibia habe ich sogar mal auf einer Farm auf 50 Stachelschweine aufgepasst, und es sind nur drei Stück abgehauen. Der Farmer war sehr zufrieden mit mir.»

«Na toll!», murmelte Albert. Er ließ den Kopf hängen. Sein Schicksal war besiegelt. Tante Amelie würde ihn wie ein Babystachelschwein bemuttern – und Lilly und Magnus würden ohne seine Hilfe in der Vergangenheit in Schwierigkeiten geraten und womöglich nie mehr ins Jetzt zurückkehren können. Gefrustet drückte er auf den Weiterknopf, und der Lift zuckelte los. In den ersten Stock. Wo es die Schlafzimmer, das Erfinderlabor und einen verräterischen Vater gab.

Tausende Kilometer weiter westlich und 180 Jahre in der Vergangenheit kroch Magnus auf allen vieren hinter Lilly her. Bei jedem Abenteuer suchte der geheime Tunnel einen anderen Ausgang in das Damals. Zum Beispiel einen Spalt in der Wand eines Weinkellers, eine verlassene Goldmine oder eine Höhle im Wald. Dieses Mal endete der Tunnel in einem dunklen, niedrigen und schlammigen Erdloch.

WATSCH! Magnus war die Hand weggerutscht. Schon wieder. Schimpfend landete er mit dem Gesicht auf dem feuchten Boden. Der moderige Matsch roch unangenehm.

«So ein blöder Dreck!», wetterte er und stemmte sich hoch.

«Pssst!», zischte Lilly. Sie drehte sich kurz um. Ihr Gesicht war natürlich blitzblank und sauber. Selbst ihr langes rotblondes Haar hatte noch keinen Schlammspritzer abbekommen. «Mach nicht so einen Lärm! Wer weiß, was uns da draußen erwartet.»

«Na, was wohl?», knurrte Magnus, allerdings ziemlich leise. «Garantiert noch mehr Schmutz und Gestank.»

Er krabbelte weiter. Die gute Laune, die er noch vor wenigen Minuten bei ihrem Start im Keller gehabt hatte, war vollends dahin. Magnus hatte sich zwar daran gewöhnt, dass er der Pechvogel unter ihnen dreien war, aber dass er gleich zu Beginn so richtig eingematscht wurde, fand er doch ziemlich heftig.

«Endlich!», stieß Lilly einen unterdrückten Jubel aus. «Da vorne ist Licht.» Sie beschleunigte ihr Tempo so sehr, dass Magnus nicht mehr mithalten konnte und ein Stück zurückfiel. Lilly war eben die Sportskanone des Trios, und so ein bisschen Schlamm konnte sie längst nicht bremsen. Schon hatte sie den Ausgang erreicht und steckte vorsichtig den Kopf ins Freie. Es war niemand zu sehen.

«Scheint sicher zu sein», flüsterte sie. In einem eleganten Bogen wand sie sich aus dem Erdloch und richtete sich vor dem Ausgang zu ihrer vollen Größe auf. Magnus sah nun nur noch ihre Beine vor sich.

«Wurde aber auch Zeit», grummelte er und glitschte ebenfalls ins Freie. Er musste die Augen zusammenkneifen, weil ihn das helle Sonnenlicht blendete. Mühsam rappelte er sich neben Lilly hoch.

«Iiih!» Sie rümpfte angewidert die Nase. «Du bist ja völlig eingesaut. Du siehst aus wie das Monster aus dem Mumiensumpf.»

«Ach ja?», maulte Magnus. «Woher das wohl kommt …?»

Er schaute an sich herab. Alles an ihm war erdfarben braun und schlammig. Genau wie der Untergrund, auf dem sie standen. Magnus hätte seine eigenen Zehen für Kieselsteine gehalten, wenn sie sich nicht bewegt hätten.

Die beiden standen nun an einer Böschung. Ein kleiner Fluss, der vor ihnen dahinplätscherte, hatte einen Teil des Ufers abbrechen lassen und einige Vertiefungen in den nackten Boden gespült. Eine davon war der Ausgang des Tunnels, durch den sie gekrochen waren.

Magnus blickte langsam in die Runde, um sich einen Überblick zu verschaffen. Jenseits des Flusses lag anscheinend die größte Wiese der Welt. So weit das Auge reichte, wuchs dort nur Gras und Gras und noch mehr Gras unter einem makellos blauen Himmel. Ein leichter Wind ließ die Halme auf und ab wogen wie die Wellen eines grünen Meeres. Magnus sog die frische Luft ein. Das war etwas anderes als der Mief in dem stickigen Erdloch. Er spürte, wie sein Ärger langsam verflog … und wie seine Füße auf dem schlammigen Grund ins Rutschen gerieten. Magnus stieß einen Schreckensschrei aus und zuckte unwillkürlich zusammen – aber der Ruck brachte ihn endgültig aus dem Gleichgewicht. Er ruderte kurz mit den Armen und schlug dann der Länge nach in den Matsch. Mit dem Kopf voran rutschte er in den Fluss und landete platschend im kalten Wasser. Zum Glück war der Fluss nicht tief. Hustend und prustend strampelte er sich hoch in die Hocke.

«Du hast es aber eilig, dich zu waschen!», rief Lilly ihm zu und bog sich vor Lachen. Dann reichte sie Magnus eine Hand und half ihm hoch.

«Eigentlich schade, dass der ganze schöne Dreck nun ab ist», kicherte sie. «So erkennen dich die Indianer auf den ersten Blick als Bleichgesicht. Wo wir doch gerade herausbekommen wollen, wie sie gelebt haben, bevor die Weißen in ihr Land gekommen sind.»

Magnus legte den Kopf schief und schüttelte das Wasser aus seinen Ohren. «Dann hättest du aber auch kein Cowboykostüm anziehen dürfen, sondern Indianerklamotten, so wie ich.»

Er breitete demonstrativ den triefend nassen vorderen Teil seines Lendenschurzes aus. Eigentlich war es eher eine kurze Hose, an die zwei Lederlappen angenäht waren, doch beim flüchtigen Hinsehen konnte man es tatsächlich für ein indianisches Kleidungsstück halten.

«Pöh!», machte Lilly abfällig. «Das karierte Hemd, die Jeans und die Reitstiefel passen viel besser zu meinem Cowboyhut – und der ist echt aus dem Wilden Westen!»

«Weiß ich doch», erwiderte Magnus. Er erinnerte sich noch sehr lebhaft an ihre erste Zeitreise, bei der sie auf Anhieb im Gefängnis des Sheriffs gelandet waren. Die Leute hatten sie irrtümlich für die Kinder von Viehdieben gehalten. Bei ihrer Flucht hatte ihnen ein Farmerjunge geholfen, und Lilly hatte zum Abschied ihren Vorrat an Kaugummi gegen seinen Cowboyhut getauscht. Seitdem setzte sie diesen Hut kaum noch ab. Wenigstens nicht freiwillig.

«Die Indianer werden sich schon nicht verstecken, bloß weil sie Angst vor meinem Hut haben», sagte Lilly trotzig und marschierte einfach drauflos und in die grüne Weite hinein.

«Was ist? Kommst du nun?», rief sie Magnus zu. Er seufzte und folgte ihr. Hinter ihm zog sich eine dünne, feuchte Spur durch das Gras.

 

«Glaubst du, hier lebt überhaupt jemand?», fragte er Lilly eine Viertelstunde später. Obwohl sie bereits ein ordentliches Stück gegangen waren, hatten sie bislang nicht einmal die Haarspitze eines Menschen entdeckt. «Ich meine, außer Grashalmen und Erdhörnchen.»

«Klar!», antwortete Lilly bestimmt. «Wir sind hier nämlich in der Prärie und am Anfang des 19. Jahrhunderts – der richtige Ort und die richtige Zeit für Indianer.»

«Und der Kristall …», fragte Magnus ängstlich. «Hast du den noch?»

Lilly warf ihm einen genervten Was-glaubst-du-denn?-Blick zu. Sie klopfte mit der flachen Hand gegen ihre Jeans, die an einer Stelle etwas ausgebeult war. Magnus atmete erleichtert aus. Der blaue Kristall war noch da. Sie konnten also jederzeit zurück in die Gegenwart. Denn der Edelstein war die Steuerung für den Tunnel. Wenn man ihn auf eine Weltkarte an der Tunnelwand drückte, streckte sich dessen Ausgang zu diesem Ort. Und gleichzeitig sprang er jede Sekunde ein Jahr in die Vergangenheit zurück. Sobald man den Kristall von der Wand abzog, gab es dadurch eine stabile Verbindung zwischen Jetzt und Damals. So lange, bis man den Kristall wieder an seinen Platz in der Wand zurücksteckte. Dann brach der Kontakt augenblicklich ab, und der gesamte Tunnel war wieder vollständig in der Gegenwart. Wenn Lilly und Magnus dann noch in der Vergangenheit waren, saßen sie in der Falle. Das Erdloch wäre nur noch ein Erdloch, und die beiden wären im Damals gefangen. Worauf sie natürlich überhaupt keine Lust hatten, denn trotz ihrer spannenden Abenteuer in der Weltgeschichte gefiel es ihnen zu Hause eigentlich doch am besten. Also nahmen sie den blauen Kristall kurzerhand mit, sodass die Verbindung für die Dauer ihrer Reise offen blieb.

Lilly zupfte einen Halm von dem kniehohen Gras ab und steckte ihn zwischen die Zähne.

«Zu blöd, dass wir Merlin nicht mithaben», murmelte sie. «Der könnte sonst vor uns herfliegen und für uns den Ausguck spielen.»

«Wir hätten ja nur zu warten brauchen, bis er fertig gefrühstückt hat», entgegnete Magnus. «Aber das hätte dir ja zu lange gedauert. Nun müssen wir abwarten, bis Albert ihn nachschickt.»

«Macht nichts.» Lilly schob den Halm in den anderen Mundwinkel. Ihr war durchaus bewusst, dass sie manchmal ziemlich ungeduldig war. Und ab und zu liefen eben ihre Beine los, bevor der Kopf wusste, wo sie hinwollte. «Am Anfang kommen wir auch ohne ihn zurecht. Besser, wir sind auf uns alleine gestellt, als dass eine hungrige Dohle ihrer schlechten Laune mit Schnabelhieben Luft macht.»

«Wo wir schon von schlechter Laune reden», Magnus hauchte mehr, als dass er sprach. Sein Blick war fest nach vorn gerichtet. «Frag mich nicht, wo diese Herrschaften so plötzlich herkommen. Aber ich hoffe, sie sind heute ausgesprochen gut drauf.»

Lilly japste überrascht. Das konnte nicht sein! Sie hätten doch etwas sehen müssen! Immerhin konnte man in diesem Grasmeer viele Meilen weit gucken. Und trotzdem waren die Männer da vorne wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ganz so, wie es eben nur Indianer fertigbringen.