Ein Leichenfund in einem Sommerhaus in Rørvig. Ein Geschwisterpaar ist brutal ermordet worden. Der Verdacht fällt auf eine Gruppe junger Schüler eines exklusiven Privatinternats, die für ihre Gewaltorgien bekannt sind. Erst Jahre nach dem Mord ist einer von ihnen geständig.

Zwanzig Jahre später. Als Carl Mørck vom Sonderdezernat Q in Kopenhagen aus dem Urlaub zurückkommt, hält ihm sein Assistent Hafez el Assad die alte Rørvig Akte unter die Nase. Niemand weiß, warum sie wieder aufgetaucht ist. Der Fall war schließlich geklärt. Dennoch scheint jemand daran interessiert zu sein, die Geschichte noch einmal aufzurollen. Als den Ermittlern von oberster Stelle weitere Nachforschungen strikt verboten werden, ist ihnen sofort klar, dass hier etwas zum Himmel stinkt. Die Spuren führen hinauf in die höchsten Kreise der Gesellschaft, und sie führen ganz weit nach unten, zu Kimmie, einer Obdachlosen. Diese Frau scheint etwas zu wissen, das drei höchst einflussreichen Männern zum Verhängnis werden könnte. Die Treibjagd ist eröffnet …

Jussi Adler-Olsen

Schändung

Der zweite Fall für Carl Mørck,
Sonderdezernat Q

Thriller

Aus dem Dänischen
von Hannes Thiess

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Prolog

Wieder krachte ein Schuss über die Baumwipfel.

Das Rufen der Treiber war jetzt schon deutlich zu hören. Das Blut pochte in den Ohren, und die Lungen schmerzten vom scharfen Einatmen der feuchten Luft.

Los, los, weiter, lauf, und fall bloß nicht hin. Du kommst sonst nie wieder hoch. Scheiße, Scheiße, warum bekomme ich die Hände nicht frei? Weiter, na los … oh Shit … Die dürfen mich nicht hören. Haben die mich gehört? War’s das jetzt? Soll mein Leben etwa so enden?

Die Zweige peitschten ins Gesicht und hinterließen blutige Streifen, das Blut mischte sich mit dem Schweiß.

Wieder krachten Schüsse. Die Projektile pfiffen jetzt dicht an den Ohren vorbei, der Schweiß lief in Strömen. Wie eine Kompresse legte er sich um den Körper.

Noch eine Minute oder zwei, dann würden sie dort stehen. Verdammt, die Hände auf dem Rücken, warum gehorchen die nicht? Was ist das bloß für ein Scheißklebeband?

Laut flügelschlagend erhoben sich plötzlich aufgeschreckte Vögel über die Baumwipfel. Die tanzenden Schatten des dichten Tannenwaldes wurden immer deutlicher. Jetzt fehlten vielleicht noch hundert Meter bis dorthin. Alles wurde klarer. Auch die Stimmen. Der Blutdurst der Jäger.

Wie werden sie es machen? Ein einzelner Schuss? Ein Pfeil? Schluss, aus, vorbei?

Nein, wohl kaum, warum sollten sie sich damit begnügen? So gnädig waren die nicht, diese Schweine. Die nicht. Die hatten ihre Gewehre und ihre verschmierten Messer. Und wussten genau, wie effektiv eine Armbrust ist.

Wo kann ich mich verkriechen? Gibt’s da nirgendwo ein Versteck? Oder doch wieder zurück? Schaffe ich das?

Der Blick suchte den Waldboden ab. Wanderte vor und zurück. Aber das Klebeband bedeckte die Augen fast vollständig, das machte es so mühsam. Die Füße stolperten immer weiter.

Jetzt spüre ich gleich am eigenen Leib, wie es ist, in ihrer Gewalt zu sein. Die werden mit mir keine Ausnahme machen. Das brauchen die doch, nur so kriegen die doch ihren Kick. Und nur so haben sie eine Chance, davonzukommen.

Das Herz hämmerte jetzt so wild, dass es wehtat.

1

Den Strøget in Kopenhagens Zentrum hinunterzugehen, empfand sie wie einen Tanz auf Messers Schneide. Ein echtes Risiko. Das Gesicht halb hinter einem schlammgrünen Tuch versteckt, hastete sie an den hell erleuchteten Schaufenstern der Fußgängerzone vorbei. Hellwach scannte sie ihre Umgebung. Andere zu erkennen, aber selbst nicht erkannt zu werden, darum ging es. Darum, mit den eigenen Dämonen in Frieden zu leben und alles andere denen zu überlassen, die vorübereilten. Die mit leerem, gleichgültigem Blick einen Bogen um sie machten. Und diesen Schweinen, die ihr Böses wollten.

Kimmie sah zu den Straßenlampen hoch, deren kaltes Licht die Vesterbrogade erhellte. Sie schnupperte. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, dann würden die Nächte kühl werden. Sie musste das Winterlager vorbereiten.

Sie stand in einer Menschentraube zwischen lauter durchgefrorenen Tivoli-Besuchern an der Fußgängerampel und sah hinüber zum Hauptbahnhof. Da bemerkte sie die Frau im Tweedmantel neben sich. Die musterte sie aus zusammengekniffenen Augen, rümpfte die Nase und trat einen Schritt zur Seite. Wenige Zentimeter nur, aber die reichten.

Na, na, Kimmie!, pulsierte das Warnsignal in ihrem Hinterkopf, als die Wut sie packen wollte.

Ihr Blick wanderte über den Körper der Frau bis hinunter zu den Beinen. Hauchdünne, glänzende Strumpfhosen, hochhackige Schuhe. Kimmie spürte, wie ein verräterisches Lächeln ihre Lippen kräuselte. Einmal fest zutreten, und die zarten Knöchel würden knacken. Wenn die Schnepfe erst mal auf dem nassen Gehweg lag, würde sie schon sehen, dass auch ein Christian-Lacroix-Kostüm schmutzig werden konnte. Das wäre ihr dann hoffentlich eine Lehre.

Kimmie blickte auf und sah der Frau direkt ins Gesicht. Markanter Eyeliner, gepuderte Nase, die Locken kunstvoll geschnitten. Der Blick starr und abweisend. O ja, sie kannte diese Sorte Frau. Sie hatte selbst einmal dazugehört. Zu den arroganten Oberklasseziegen mit dröhnend leerem Inneren. So waren ihre Freundinnen damals auch gewesen. So war ihre Stiefmutter.

Wie sie die alle hasste!

Dann tu doch was!, flüsterte die Stimme in ihrem Hinterkopf. Lass dir nichts gefallen! Zeig ihr, wer du bist. Na komm schon, los!

Kimmie starrte hinüber zu der Gruppe dunkelhäutiger Jungen auf der anderen Straßenseite. Wären da nicht deren umherstreifende Blicke gewesen, dann hätte sie der Frau tatsächlich einen Stoß versetzt, direkt vor den 47er. Deutlich sah sie den wunderbaren Blutfleck vor sich, den der Bus hinterlassen würde. Den zerquetschten Körper. Eine Schockwelle würde sich von ihm ausgehend durch die Menge fortpflanzen. Was für eine Genugtuung!

Aber Kimmie schubste nicht. In so einer Menschenmenge gab es immer irgendwo ein hellwaches Auge. Und dann war da auch in ihr etwas, das dagegenhielt. Dieses entsetzliche Echo aus fernen Tagen.

Sie hielt sich kurz ihren Arm unter die Nase und schnüffelte. Es stimmte, die Frau hatte recht. Ihre Sachen stanken fürchterlich.

Als es grün wurde, überquerte sie die Straße. Auf schiefen Rädern rumpelte der Koffer hinter ihr her. Das würde sein letzter Weg sein. Höchste Zeit, dieses alte Gelump wegzuschmeißen.

Höchste Zeit, sich zu häuten. Vor dem Bahnhofskiosk hingen an einem Ständer die Titelseiten der Zeitungen mit den riesigen Schlagzeilen der Aufmacher. Für Vorbeihastende und Blinde war der Zeitungsständer, bewusst mitten in der Bahnhofshalle platziert, ein einziges Ärgernis. Auf dem Weg durch die Stadt hatte Kimmie die Schlagzeilen immer wieder gesehen. Vor Ekel hätte sie kotzen können.

»Diese Sau«, murmelte sie und sah stur geradeaus, als sie an dem Ständer vorbeiging. Dann drehte sie den Kopf doch und betrachtete das Foto neben der Schlagzeile.

Allein schon bei seinem Anblick fing ihr Körper an zu zittern.

Unter dem Bild stand: »Ditlev Pram kauft für zwölf Milliarden Kronen Privatkliniken in Polen auf.« Sie spuckte aus und blieb einen Moment stehen, wartete ab, bis die körperlichen Reaktionen nachließen. Wie sie Ditlev Pram hasste! Wie sie Torsten und Ulrik hasste! Aber sie würden schon sehen! Sie würde sie fertigmachen, alle drei.

Beim Weitergehen lachte sie auf, woraufhin ihr ein Passant zulächelte. Noch so ein gutgläubiger Idiot, der zu wissen meinte, was in den Köpfen anderer Leute vorging.

Abrupt blieb sie stehen.

Ein Stück weiter stand Ratten-Tine an ihrem üblichen Platz. Halb vorgebeugt und leicht schwankend hielt sie die dreckigen Hände auf. Wie bescheuert, darauf zu vertrauen, dass in diesem Ameisengewimmel jemand einen Zehner für sie übrig hatte! Stundenlang so zu stehen brachten auch nur die Drogis fertig. Arme Teufel.

Kimmie schlich hinter ihr auf die Treppe zu, die zur Reventlowsgade hinunterführte. Aber Tine hatte sie längst entdeckt.

»Hallo Kimmie! Mensch, verdammt, Kimmie!«, kam es von hinten. Aber Kimmie reagierte nicht. So in der Öffentlichkeit funktionierte das nicht mit Ratten-Tine, da konnte man nichts mit ihr anfangen. Nur wenn man mit ihr auf der Bank saß, dann tickte ihr Gehirn einigermaßen.

Andererseits war sie der einzige Mensch, den Kimmie ertrug.

Aus unerfindlichen Gründen pfiff der Wind an diesem Tag eiskalt durch die Straßen. Deshalb hatten es alle Leute eilig, nach Hause zu kommen. Deshalb standen fünf schwarze Mercedes-Taxis mit laufendem Motor in der Schlange vor der Bahnhofstreppe gegenüber der Istedgade. Eines davon würde sicher für sie übrig bleiben, wenn sie gleich eins brauchte. Mehr wollte sie im Moment nicht wissen.

Sie zog den Koffer schräg über die Straße zu dem Thai-Laden im Souterrain. Dort stellte sie ihn neben dem Fenster ab. Nur einmal war ihr ein Koffer geklaut worden, als sie ihn dort deponiert hatte. Bei diesem Wetter, wo selbst die Diebe zu Haus blieben, würde das garantiert nicht passieren. Außerdem war es egal. Da war nichts Wertvolles drin.

Geschlagene zehn Minuten wartete sie auf dem Bahnhofsvorplatz, dann war es so weit. Aus einem Taxi stieg eine elegante Frau im Nerzmantel und mit einem Koffer auf soliden Gummirädern. Sie war sehr schlank, Kimmie tippte auf Größe achtunddreißig, höchstens. Früher war sie ausschließlich auf Frauen mit Größe vierzig aus gewesen, aber das war schon mehrere Jahre her. Vom Leben auf der Straße wurde man nicht fett.

Sie nahm den Koffer, als sich die Frau in der Bahnhofsvorhalle an einem Fahrkartenautomaten informierte. Damit ging sie schnurstracks zum Ausgang und erreichte in kürzester Zeit den Taxistand an der Reventlowsgade.

Übung macht den Meister.

Sie legte den Koffer in den Kofferraum des vordersten Wagens und bat den Fahrer, mit ihr eine kleine Runde zu drehen.

Aus der Manteltasche zog sie ein dickes Bündel mit Hundertkronenscheinen. »Du bekommst noch zweihundert extra, wenn du tust, was ich dir sage«, fügte sie hinzu und ignorierte bewusst seinen misstrauischen Blick und die zuckenden Nasenflügel.

In etwa einer Stunde würde sie zurückkommen und den alten Koffer abholen: in neuen Klamotten und mit dem Duft einer Fremden am Körper.

Dann würden die Nasenflügel des Taxifahrers mit Sicherheit ganz anders zucken.

2

Ditlev Pram war ein gut aussehender Mann, und das wusste er. Im Flugzeug gab es in der Business Class immer genug Frauen, die nicht protestierten, wenn er von seinem Lamborghini erzählte und wie schnell er mit dem zur Villa in Rungsted fuhr.

Dieses Mal hatte er ein Auge auf eine Frau mit weichem, vollem Haar geworfen. Sie trug ein kräftiges schwarzes Brillengestell, wodurch sie unnahbar wirkte. Das reizte ihn.

Er hatte sie angesprochen, aber kein Glück gehabt. Hatte ihr ›The Economist‹ angeboten, mit einem Atomkraftwerk im Gegenlicht auf der Titelseite. Aber sie hatte nur eine abwehrende Handbewegung gemacht. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Drink bekam. Sie hatte ihn nicht angerührt. Als die Maschine aus Posen überpünktlich in Kastrup aufsetzte, waren die kostbaren siebzig Minuten vertan.

So etwas machte ihn aggressiv.

Er eilte schnurstracks durch die gläsernen Gänge des Terminals. Als er das Laufband fast erreicht hatte, sah er sein Opfer: einen alten Mann, der schlecht gehen konnte und ebenfalls auf das Laufband zusteuerte.

Ditlev Pram beschleunigte seinen Schritt und war exakt in dem Augenblick da, als der Mann einen Fuß auf das Band setzte. Ditlev sah es deutlich vor sich: ein unauffällig gestelltes Bein – und der knochige Körper würde gegen die Plexiglasscheibe knallen und das Gesicht mit der verrutschten Brille daran entlangschrammen, während sich der Alte fieberhaft bemühte, wieder auf die Beine zu kommen.

Es zuckte förmlich in Ditlev Prams Bein. So war er. Und seine Freunde auch. Was weder besonders verdienstvoll noch besonders beschämend war. Sie hatten es einfach schon mit der Muttermilch eingesogen. Dabei wäre es bei dem alten Knacker hier in gewisser Weise sogar die Schuld dieser Zicke aus dem Flieger. Die hätte doch mit ihm nach Hause gehen können. In einer Stunde hätten sie in seinem Bett gelegen.

Das hatte sie sich doch verdammt noch mal selbst zuzuschreiben.

Als der Strandmølle Kro im Rückspiegel erschien und sich das Meer wieder glänzend vor ihm erstreckte, klingelte sein Handy. »Ja«, sagte er nach einem Blick auf das Display. Ulrik war dran.

»Eine Bekannte hat sie vor ein paar Tagen gesehen«, sagte er. »In der Bernstorffsgade, am Fußgängerübergang zum Hauptbahnhof.«

Ditlev schaltete den mp3-Player aus. »Okay. Wann genau?«

»Letzten Montag. 10. September. Abends gegen einundzwanzig Uhr.«

»Was hast du unternommen?«

»Torsten und ich haben uns dort umgesehen. Haben sie aber nicht gefunden.«

»Torsten war dabei?«

»Ja. Du weißt schon, wie. Er ist keine große Hilfe.«

»Wer ist auf die Aufgabe angesetzt?«

»Aalbæk.«

»Gut. Wie sah sie aus?«

»Angezogen war sie ziemlich okay, hab ich gehört. Ist dünner als früher. Und sie stank.«

»Sie stank?«

»Ja, nach Schweiß und Pisse.«

Ditlev nickte. Das war das Schlimmste bei Kimmie. Nicht nur, dass sie monate-, sogar jahrelang verschwinden konnte. Nein, man wusste nie, wer sie war. Ewig lange unsichtbar und dann urplötzlich unheimlich sichtbar. Kimmie war in ihrer aller Leben das größte Risiko. Die Einzige, die ihnen tatsächlich gefährlich werden konnte.

»Dieses Mal müssen wir sie kriegen, Ulrik, ist das klar?«

»Warum, zum Teufel, glaubst du eigentlich, hab ich dich angerufen?«

3

Erst als er im Keller des Präsidiums stand, ging es Carl Mørck auf, dass der Sommer und der Urlaub endgültig zu Ende waren. Die Büroräume des Sonderdezernats Q waren dunkel. Er machte Licht an. Sein Blick fiel auf seinen überquellenden Schreibtisch, auf dem sich Stapel von Aktenbündeln gegenseitig stützten. Am liebsten hätte er sich umgedreht und die Tür hinter sich zugeknallt. Es half auch nichts, dass Assad mitten in das geordnete Chaos einen Strauß Gladiolen gepflanzt hatte, groß genug, um damit eine mittelgroße Hauptstraße zu blockieren.

»Willkommen zurück, Boss!«, tönte es hinter ihm.

Er drehte sich um und sah direkt in Assads hellwache braune Augen. Das dünne dunkle Haar stand gewissermaßen entgegenkommend in alle Richtungen ab. Der ganze Mensch strahlte Vitalität aus und schien es kaum erwarten zu können, wieder in den Ring zu steigen, leider Gottes.

»Nanu!«, sagte Assad, als er den matten Blick seines Chefs wahrnahm. »Man sollte kaum glauben, dass du gerade aus dem Urlaub kommst, Carl.«

Carl schüttelte den Kopf. »Tu ich das etwa?«

Die oben im zweiten Stock waren wieder mal umgezogen. Verdammte Polizeireform. Demnächst würde er das Büro von Marcus Jacobsen, Chef der Mordkommission, nur noch per GPS finden. Drei Wochen war er weg gewesen, und schon gafften ihn mindestens fünf neue Gesichter an, als käme er vom Mond.

Wer zum Teufel war das?

»Carl, ich habe eine gute Nachricht für dich«, sagte Jacobsen. Carls Blick glitt über die Wände des neuen Büros. Mit den hellgrünen Scheiben dort kam es ihm vor wie ein Mittelding aus OP-Saal und dem Raum für Krisenmeetings aus dem Len-Deighton-Thriller, den er gerade gelesen hatte. Wie verloren starrten von überall die fahlen Augen von Leichen auf ihn herab. Karten und Diagramme und Einsatzpläne hingen dort in einem vielfarbigen Durcheinander. Alles wirkte deprimierend effektiv.

»Eine gute Nachricht, sagst du. Das klingt nicht gut.« Carl ließ sich seinem Chef gegenüber auf einen Stuhl fallen.

»Du bekommst bald Besuch aus Norwegen, Carl, ich hatte das vor einiger Zeit schon mal erwähnt.«

Carl Mørck sah ihn unter schweren Lidern müde an.

»Eine Delegation der Obersten Polizeibehörde in Oslo, erinnerst du dich? Na, die kommen jetzt jedenfalls mit fünf oder sechs Mann und wollen sich das Sonderdezernat Q anschauen, und zwar am nächsten Freitag um zehn Uhr. Du denkst doch dran?« Marcus lächelte. »Sie freuen sich schon, soll ich ausrichten«, fuhr er fort und blinzelte ihm zu.

Damit standen sie verdammt allein.

»Ich habe aus diesem Anlass dein Team verstärkt. Sie heißt Rose.«

An der Stelle kam Carl kurz von seinem Stuhl hoch.

Anschließend stand er vor der Tür des Chefs und gab sich alle Mühe, die hochgezogenen Augenbrauen wieder in ihre alte Position zu bringen. Hieß es nicht, dass eine schlechte Nachricht nie allein kommt? Wie wahr! Kaum fünf Minuten bei der Arbeit, und schon sollte er den Nachhilfelehrer für eine Sekretariatsanwärterin und den Guide für eine Gruppe Berggorillas spielen. Letzteres hatte er bisher glücklich verdrängt.

»Wo ist denn die Neue, die zu mir nach unten kommen soll?«, fragte er Frau Sørensen, die wie immer hinter der Theke des Sekretariats saß.

Die hob nicht mal den Blick von der Tastatur, diese Frauensperson.

Er haute leicht auf die Theke. Probieren konnte man es ja mal.

Dann spürte er, wie ihm jemand auf die Schulter tippte.

»Hier hast du ihn in höchsteigener Person, Rose«, hörte er hinter sich. »Darf ich vorstellen? Carl Mørck.«

Er drehte sich um und blickte in zwei verblüffend ähnliche Gesichter. Der Erfinder der schwarzen Farbe hat nicht umsonst gelebt, schoss es ihm durch den Kopf. Rabenschwarzes Haar, ultrakurz und fransig geschnitten, pechschwarz umrandete Augen und düstere Kleidung. Hui, verdammt unheimlich.

»Lis, zum Teufel. Was ist denn mit dir passiert?«

Die effektivste Sekretärin des Dezernats fuhr sich mit der Hand durch ihr früher so herrlich blondes Haar. Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. »Ja, schick, was?«

Carl nickte langsam, bevor sein Blick weiter zu der anderen Frau wanderte. Ihre Schuhe hatten turmhohe Absätze. Sie betrachtete ihn mit einem umwerfenden Lächeln. Dann schaute er wieder zu Lis. Die beiden sahen sich irgendwie zum Verwechseln ähnlich. Es war ihm ein Rätsel, wer von beiden wen angesteckt hatte.

»Das hier ist also Rose. Sie ist ein paar Wochen bei uns gewesen und hat mit ihrer herrlich positiven Ausstrahlung unser Sekretariat belebt. Jetzt überlasse ich sie deiner Obhut. Pass gut auf sie auf, Carl.«

Reichlich munitioniert mit Argumenten stürmte Carl in Marcus Jacobsens Büro. Doch spätestens nach zwanzig Minuten merkte er, dass die Sache längst gelaufen war. Eine Woche Aufschub bekam er, dann musste er das Mädchen mit nach unten nehmen. Ihr künftiges Büro, in dem bisher das Equipment zur Absperrung von Tatorten aufbewahrt wurde, lag direkt neben Carls Büro. Es sei bereits aufgeräumt, sauber gemacht und eingerichtet, setzte Marcus ihn in Kenntnis. Rose Knudsen war die neue Mitarbeiterin des Sonderdezernats Q und damit basta.

»Rose Knudsen hatte auf der Polizeischule erstklassige Noten, sie ist aber bei der Fahrprüfung durchgefallen. Wie du weißt, ist damit die Sache gelaufen, egal wie geeignet man sonst sein mag. Allerdings war sie für die Feldarbeit vielleicht ein bisschen zu dünnhäutig. Aber sie wollte unbedingt zur Polizei, und deshalb machte sie eine Sekretärinnenausbildung. Ein Jahr lang war sie jetzt auf der Polizeiwache City. In den letzten Wochen hat sie Frau Sørensen vertreten, aber die ist ja nun wieder da«, sagte Marcus Jacobsen abschließend und drehte seine ausgebeulte Zigarettenpackung zum fünften Mal um die eigene Achse.

Die Umstände, die den Chef der Mordkommission dazu bewogen hatten, ihm Rose Knudsen aufs Auge zu drücken, interessierten Carl eigentlich weniger.

»Und warum hast du die Neue dann nicht zur City zurückgeschickt, wenn ich fragen darf?«

»Ja, warum? Da hatte es intern irgendwas Unleckeres gegeben. Nichts, was uns angeht.«

»Okay.« Unleckeres, das Wort klang bedrohlich.

»Du hast jetzt auf jeden Fall eine Sekretärin, Carl. Und sie ist fleißig.«

Das sagte Jacobsen im Grunde doch von allen.

»Sie wirkte richtig nett, fand ich.« Unter den Leuchtstoffröhren unten im Keller versuchte Assad Carl aufzumuntern.

»Sie hat in der City was Unleckeres angestellt, kann ich dir nur sagen. Dann ist man nicht nett.«

»Was Unleckeres …? Das muss ich noch mal haben, Carl.«

»Vergiss es, Assad.«

Sein Helfer nickte und trank einen Schluck von der minzig stinkenden Substanz, die er sich eingeschenkt hatte. »Nun hör mal zu, Carl. Der Fall, an den du mich gesetzt hast, als du weg warst … also, damit konnte ich nicht weiterkommen. Ich habe hier und an allen möglichen anderen Orten nachgeschaut, aber alle Akten zu dem Fall sind in dem Umzugschaos oben verschwunden.«

Carl blickte auf. Verschwunden? Da sollte doch der Teufel …! Aber okay, dann passierte am heutigen Tag ja doch noch etwas Positives.

»Ja, die sind komplett weg. Also habe ich stattdessen ein bisschen die Stöße bei uns unten durchgesehen und dieses hier gefunden. Sehr interessanter Fall.«

Assad reichte ihm einen hellgrünen Aktenordner. Stumm und starr wie eine Salzsäule blieb er vor Carl stehen und sah ihn erwartungsvoll an.

»Hattest du vor, hier stehen zu bleiben, während ich lese?«

»Danke, ja«, sagte Assad und stellte seine Tasse auf Carls Schreibtisch.

Carl blies die Backen auf, und während er die Mappe aufschlug, atmete er ganz langsam aus. Ein alter Fall. Richtig alt. Vom Sommer 1987, um genau zu sein. Das war das Jahr, in dem er und ein Kumpel zum Pfingstkarneval nach Kopenhagen herübergekommen waren. Damals hatte ihm ein rothaariges Mädchen das Sambatanzen beigebracht. Der Rhythmus hatte sie noch nicht einmal in der Nacht verlassen, die sie auf einer Decke hinter einem Busch im Park beschlossen. Zweiundzwanzig war er gewesen, und noch nie so wenig jungfräulich wie nach diesem Ausflug.

Ein guter Sommer, 1987. Der Sommer, in dem er schließlich von Vejle nach Kopenhagen zur Polizeiwache Antonigade versetzt wurde.

Die Morde mussten acht bis zehn Wochen nach jenem Karneval begangen worden sein. Das war etwa zu der Zeit, als die Rothaarige beschlossen hatte, ihren Sambakörper über einen anderen Jütländer zu stülpen, ja, tatsächlich genau in den Tagen, als er seine ersten nächtlichen Runden in Kopenhagens engen Gassen Streife ging. Eigentlich merkwürdig, dass er sich überhaupt nicht an den Fall erinnerte, denn der war wirklich besonders.

Man fand das Geschwisterpaar, ein Mädchen und einen Jungen von siebzehn und achtzehn Jahren, bis zur Unkenntlichkeit misshandelt in einem Sommerhaus in Rørvig, nicht weit von Dybesø. Das Mädchen war ganz besonders übel zugerichtet. Sie musste entsetzlich unter den Schlägen gelitten und auch versucht haben, sie abzuwehren, davon zeugten die spezifischen Verletzungen.

Carl blickte auf den Text. Keine sexuellen Übergriffe. Und es fehlte nichts.

Dann las er den Obduktionsbericht noch einmal und blätterte anschließend die Zeitungsausschnitte durch. Es waren nur wenige, doch die hatten beeindruckend fette Überschriften.

»Zu Tode geprügelt«, überschrieb die ›Berlingske Tidende‹ eine für dieses seriöse Blatt untypisch detaillierte Beschreibung des Leichenfundes.

Beide Leichen lagen im Kaminzimmer, das Mädchen im Bikini und ihr Bruder nackt, er umklammerte mit einer Hand eine halb leere Flasche Cognac. Ein gezielter Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf hatte ihn getötet. Als Tatwaffe identifizierte man später einen Latthammer, der in dem Heidegestrüpp zwischen Flyndersø und Dybesø gefunden wurde.

Das Motiv war unbekannt. Der Verdacht war allerdings schnell auf eine Gruppe jugendlicher Internatsschüler gefallen, die sich in einem der riesigen elterlichen Sommerhäuser nahe Flyndersø aufhielten. In Den Runde, der örtlichen Musikkneipe, hatten sie mehrfach für Ärger gesorgt. Ein paar der ortsansässigen Halbwüchsigen waren schlimm zugerichtet worden.

»Bist du schon da, wo steht, wer die Verdächtigen waren?«

Carl sah unter gerunzelten Augenbrauen zu Assad auf. Eine deutliche Antwort, wie er fand, aber Assad ließ sich nicht bremsen.

»Ja, natürlich. Und der Bericht deutet auch an, dass ihre Väter alle so welche waren, die viel Geld verdienten. Aber das haben sowieso viele getan in den Goldenen Achtzigern, oder wie heißt das noch mal?«

Carl nickte. Jetzt war er bei dem Teil des Textes angekommen.

Ja, das war korrekt. Die Väter waren allesamt bekannte Persönlichkeiten, und zwar bis heute.

Er überflog die Namen besagter Internatsschüler noch zweimal. Das war doch nicht zu fassen. Nicht nur die Väter waren steinreich und aller Welt bekannt. Das Gleiche galt inzwischen auch für ihre Kinder, für einige von ihnen jedenfalls. Die waren mit dem silbernen Löffel im Mund auf die Welt gekommen und hatten ihn schnell gegen einen goldenen ausgetauscht. Dazu gehörten Ditlev Pram, Gründer einer Reihe exklusiver Privatkliniken, Torsten Florin, international renommierter Modedesigner, und Ulrik Dybbøl Jensen, seines Zeichens Analyst und Aktienhändler an der Kopenhagener Börse. Alle saßen sie auf Dänemarks Erfolgsleiter ganz oben. Das hatte auch für den inzwischen verstorbenen Schiffsreeder Kristian Wolf gegolten. Nur die beiden letztgenannten Jugendlichen fielen aus dem Rahmen. Kirsten-Marie Lassen hatte auch zum Jetset gehört, aber heute wusste niemand, wo sie sich aufhielt. Nur Bjarne Thøgersen, der die Morde an dem Geschwisterpaar gestanden hatte und dafür nun im Gefängnis saß, kam als Einziger aus bescheideneren Verhältnissen.

Als er mit Lesen fertig war, schmiss Carl die Akte auf den Tisch.

»Also, ich kann überhaupt nicht begreifen, warum die hier bei uns gelandet ist«, sagte Assad. Normalerweise hätte er an dieser Stelle gelächelt, aber heute tat er das nicht.

Carl schüttelte den Kopf. »Ich versteh es auch nicht. Für das Verbrechen sitzt ein Mann im Knast. Er hat gestanden und lebenslänglich bekommen. Zu allem Überfluss hat er sich auch noch selbst gestellt. Was soll an dem Fall denn bitte schön unaufgeklärt sein? Aus und fertig.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Akte. »And over.«

»Hm.« Assad biss sich auf die Unterlippe. »Aber er hat sich erst neun Jahre nach den Morden gestellt.«

»Na und? Hauptsache, er hat sich gestellt. Als er die Morde beging, war er erst achtzehn. Vielleicht haben ihn die Jahre danach gelehrt, dass ein schlechtes Gewissen kein sanftes Ruhekissen ist?«

»Ruhekissen?«

Carl seufzte. »Man sagt, ein gutes Gewissen sei ein sanftes Ruhekissen. Und ein schlechtes Gewissen wird mit den Jahren nicht besser, Assad. Im Gegenteil.«

Es arbeitete in Assads Innerem, das war nicht zu übersehen. »Die Polizei von Nykøbing Seeland und die von Holbæk haben bei dem Fall zusammengearbeitet. Und die Mobile Einsatztruppe war ebenfalls an der Sache dran. Aber ich kann nirgendwo sehen, wer uns die Akten hergeschickt hat. Kannst du?«

Carl warf einen Blick auf die Vorderseite der Akte. »Nein. Das ist nirgendwo vermerkt. Sehr seltsam.« Wenn keiner aus den beiden Polizeibezirken ihm die Mappe geschickt hatte, wer dann? Und warum überhaupt einen Fall wieder aufgreifen, der doch mit einer Verurteilung abgeschlossen war?

»Kann es hiermit zu tun haben?«, fragte Assad.

Er blätterte in der Mappe, bis er eine Beilage vom Finanzamt gefunden hatte. Er reichte sie Carl. Jahresabschluss stand oben, ausgestellt auf Bjarne Thøgersen, wohnhaft im Staatsgefängnis in Vridsløselille, Gemeinde Albertslund. Der Mann, der dafür saß, dass er die beiden Jugendlichen totgeschlagen hatte.

»Schau mal!«

Assad deutete auf eine gewaltige Summe in der Rubrik der Aktienverkäufe. »Was meinst du dazu?«

»Ich meine, dass er aus einer wohlhabenden Familie kommt und jetzt genug Zeit hat, um mit dem Geld zu spielen. Und das hat er anscheinend mit Erfolg getan. Worauf willst du hinaus?«

»Dann will ich dich daran erinnern, Carl, dass dieser Bjarne aus keinem reichen Elternhaus stammt. Von denen aus dem Internat war er der Einzige mit einem Stipendium. Hier kannst du sehen, dass er sich ziemlich von den anderen aus der Clique unterschied. Schau doch.« Er blätterte zurück.

Carl stützte den Kopf in die Hand.

So war das mit Urlaub.

Er hatte ein Ende.

4

Herbst 1986

Die sechs aus dem zweiten Jahrgang der Oberstufe waren sehr verschieden. Aber eines hatten sie gemeinsam: Sobald der Unterricht zu Ende war, trafen sie sich auf einem Trampelpfad im Wald und kifften, selbst wenn es in Strömen goss. Der ganze Kram lag für sie in einem hohlen Baum bereit, dafür hatte Bjarne gesorgt. Zigaretten, Marke Cecil, Streichhölzer, Silberpapier und das feinste Marihuana, das sich in Næstved auftreiben ließ. Geld spielte keine Rolle.

Sie standen eng zusammen und nahmen rasch ein paar Züge. Tief, aber nicht zu tief, schließlich durften sie nicht so stoned sein, dass ihre Pupillen sie verrieten.

Es ging ihnen nämlich nicht um den Rausch. Ihnen ging es ausschließlich um Selbstbestimmung. Darum, auf sämtliche Autoritäten zu scheißen, so radikal wie möglich. Und Joints rauchen, so nahe beim Internat, das war das Krasseste, was man machen konnte.

Deshalb ließen sie den Joint kreisen, verhöhnten die Lehrer und übertrumpften sich gegenseitig in ihren Phantasien, was sie mit ihnen anstellen würden, wenn es sich so ergäbe.

So war es den ganzen Herbst gegangen – bis zu dem Tag, als Kristian und Torsten um ein Haar mit einem Haschatem erwischt worden wären, den nicht mal zehn dicke Knoblauchzehen hätten übertünchen können. Da beschlossen sie, das Hasch in Zukunft zu essen. So konnte man es wenigstens nicht riechen.

Und danach ging es erst richtig los.

Als sie auf frischer Tat ertappt wurden, standen sie bei einem Dickicht nahe am Fluss. Sie alberten herum, fühlten sich ganz leicht im Kopf. Der Raureif auf den Blättern war getaut und tropfte ihnen auf den Kopf. Da richtete sich plötzlich einer der jüngeren Schüler hinter dem Buschwerk auf und sah ihnen direkt in die Augen. Hellblond und ehrgeizig, ein nerviger kleiner Musterknabe auf der Jagd nach einem Käfer, den er im Biologieunterricht vorzeigen konnte.

Stattdessen entdeckte er Kristian, wie er gerade den ganzen Krempel zurück in den hohlen Baum packte. Und Torsten, Ulrik, Bjarne und Kimmie mitten in einem Lachflash. Und Ditlev mit den Händen unter Kimmies Bluse. Der Shit war selten besser gewesen.

»Das sage ich dem Hausvater«, schrie der Junge ihnen zu und merkte nicht rechtzeitig, wie abrupt das Lachen der älteren Schüler verstummte. Der Kleine war ein wendiger, fixer Typ, der gern provozierte. An sich hätte er ihnen locker davonlaufen können, so breit, wie sie waren. Aber das Unterholz war dicht und die Gefahr zu groß, die er für sie darstellte.

Bjarne hatte am meisten zu verlieren, wenn er von der Schule flog. Deshalb war er es, den Kristian vorschob, als sie den Idioten erwischten. Er schlug als Erster zu.

»Mein Vater kann die Firma von deinem Vater jederzeit plattmachen, wenn er Lust hat, das ist dir klar, oder? Also verpiss dich, sonst kannst du was erleben, du Arsch! Lass mich endlich los!«, schrie der Junge Bjarne an.

Einen Augenblick zögerten sie. Der Typ hier war schon vielen seiner Mitschüler schwer auf die Nerven gegangen. Vor ihm waren sein Vater, sein Onkel und die große Schwester auf dem Internat gewesen. Die Familie gehörte zu denen, die den Schulfonds regelmäßig großzügig unterstützten, hieß es. Mit Spendengeldern, von denen Bjarne so abhängig war.

Da trat Kristian vor. Solche ökonomischen Probleme kannte er nicht. »Wenn du die Klappe hältst, bekommst du zwanzigtausend Kronen«, sagte er und meinte es ernst.

»Zwanzigtausend Kronen!«, schnaubte der Junge verächtlich. »Ich muss meinen Vater nur einmal anrufen und krieg das Doppelte.« Und dann spuckte er Kristian ins Gesicht.

»Du elender kleiner Scheißer, wenn du ein Wort sagst, bringen wir dich um.« Ein dumpfer Schlag, und der Junge knallte gegen einen Baumstumpf. Man konnte hören, wie ein paar Rippen brachen.

Er lag am Boden und japste vor Schmerz. Aber seine Augen waren noch immer voller Trotz. Da kam Ditlev näher.

»Wir können dich jetzt erwürgen, gar kein Problem. Oder dich im Fluss unter Wasser halten. Oder aber wir lassen dich ziehen, mit zwanzigtausend Kronen, und du hältst die Klappe. Wenn du jetzt zurückgehst und sagst, dass du hingefallen bist, glauben sie dir. Was sagst du also, du Arschloch?«

Aber der Junge, immer noch am Boden liegend, antwortete nicht.

Ditlev trat jetzt ganz dicht an ihn heran und betrachtete ihn. Neugierig. Die Reaktion dieses Mistkerls faszinierte ihn. Er hob mit einer jähen Bewegung den Arm, als wenn er zuschlagen wollte, aber der Junge reagierte immer noch nicht. Da schlug ihm Ditlev mit der flachen Hand oben auf den Kopf. Der Junge zuckte erschrocken zusammen, und da schlug Ditlev noch einmal zu. Ein super Gefühl. Ditlev lächelte.

Später erzählte er, dieser Schlag sei der erste richtige Kick seines Lebens gewesen.

»Ich auch«, lachte Ulrik und drängte sich zu dem geschockten Jungen vor. Ulrik war der Größte von ihnen und sein Fausthieb hinterließ eine hässliche Spur auf dem Jochbein des Jungen.

Kimmie protestierte ein bisschen, ein Lachflash, von dem alle Vögel im Unterholz aufflogen, neutralisierte sie. Aber dann fand auch sie Spaß an der Sache.

Sie trugen den Jungen eigenhändig zur Schule zurück und sorgten dafür, dass der Krankenwagen kam und ihn abholte. Anfangs waren sie etwas besorgt, aber der Junge hielt dicht. Er kam überhaupt nie zurück in die Schule. Das Gerücht wollte wissen, dass ihn sein Vater mit nach Hongkong genommen hatte, aber das musste nicht stimmen.

Ein paar Tage später schnappten sie sich im Wald einen Hund und prügelten ihn zu Tode.

Von dort führte kein Weg mehr zurück.

5

An der Mauer über den drei palastartigen Fenstern stand Caracas. Die Villa war von einem Vermögen erbaut worden, das aus dem Kaffeehandel stammte.

Ditlev Pram hatte das Potenzial des Gebäudes auf der Stelle erkannt. Hier und da ein paar Säulen. Viel eisgrünes Glas. Großzügige Rasenflächen zum Öresund hin, mit eingelassenen Wasserbecken und futuristischen Skulpturen. Mehr brauchte es nicht, um an der Küste bei Rungsted den passenden Rahmen für die neueste Privatklinik zu schaffen. Die Spezialität würden Kieferchirurgie und Plastische Chirurgie sein. Nicht gerade originell, aber ungewöhnlich lukrativ, und zwar sowohl für Ditlev Pram als auch für die vielen indischen und osteuropäischen Ärzte, die für ihn arbeiteten.

Er, sein großer Bruder und die beiden jüngeren Schwestern hatten ein sattes Vermögen geerbt. In den Achtzigern hatte es ihr Vater mit Aktienspekulationen und feindlichen Übernahmen aufgebaut, und Ditlev verwaltete sein Erbe geschickt. Sein Imperium umfasste inzwischen sechzehn Kliniken, und vier neue waren im Entwicklungsstadium. Er hatte den Ehrgeiz, mindestens fünfzehn Prozent des Verdienstes an sämtlichen Brustoperationen und Liftings in ganz Nordeuropa auf sein Konto zu schieben. Und er war auf dem besten Wege, das zu verwirklichen. Es gab kaum eine wohlhabende Frau nördlich des Schwarzwalds, die nicht die Launen der Natur auf einem der stählernen OP-Tische von Ditlev Pram hatte korrigieren lassen.

Mit einem Wort, es ging ihm blendend.

Im Grunde kannte er nur ein einziges Ärgernis, und das war Kimmie. Sie war ein Kreuz. Jetzt lief er schon seit über zehn Jahren mit dem Bewusstsein ihrer Existenz im Hinterkopf herum. Nun reichte es.

Der Montblanc-Füller lag etwas schräg auf dem Schreibtisch und Ditlev Pram rückte ihn gerade. Dann sah er zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr, eine Breitling.

Er hatte noch Zeit. Aalbæk würde erst in zwanzig Minuten kommen, Ulrik in fünfundzwanzig, und ob sie mit Torsten rechnen konnten, das wussten allein die Götter.

Ditlev Pram stand auf. Durch die Flure mit ihrer Ebenholztäfelung ging er am Bettentrakt und an den Operationssälen vorbei. Nickte freundlich und verbindlich nach allen Seiten. Alle wussten, dass er die unbestrittene Nummer eins war. Er schob sich durch die Schwingtüren in den Küchentrakt im Untergeschoss, von dem aus man eine ausgezeichnete Aussicht auf den eisblauen Himmel und den Öresund hatte.

Er gab dem Koch die Hand und lobte ihn, bis der Mann verlegen wurde. Den Helfern klopfte er auf die Schulter und verschwand dann in der Wäscherei.

Aufgrund eingehender Berechnungen wusste er, dass Berendsens Textil Service die Bettwäsche um einiges billiger und schneller liefern könnte. Aber da das Erledigen der Wäsche für Ditlev Pram nicht der eigentliche Zweck seiner hauseigenen Wäscherei war, kümmerten ihn die paar Kronen und Öre nicht. Viel wichtiger war es doch, nicht nur jederzeit frische Wäsche zugänglich zu haben, sondern auch sechs Mädchen von den Philippinen, die er angestellt hatte, damit sie sich um alles kümmerten.

Er registrierte, wie die jungen, dunkelhäutigen Frauen bei seinem Anblick zusammenzuckten, und wie immer amüsierte ihn das. Dann griff er nach der Nächstbesten und zog sie mit sich ins Wäschezimmer. Sie wirkte verschreckt, aber sie kannte die Prozedur. Sie war diejenige mit den schmalsten Hüften und den kleinsten Brüsten, aber der größten Erfahrung. Ihre Lehrstelle waren die Bordelle von Manila gewesen, und das, was er jetzt mit ihr anstellte, war im Vergleich harmlos.

Sie zog ihm die Hose aus und saugte sich ohne Umschweife an seinem Schwanz fest. Er schlug ihr auf Schultern und Oberarme, während sie ihn lutschte und ihm mit der Hand den Bauch massierte.

Mit ihr kam es nie zur Ejakulation. Der Orgasmus machte sich auf andere Weise bemerkbar: Im Rhythmus seiner Schläge bewegte sich die Adrenalinpumpe auf Hochtouren. Nach wenigen Minuten war er vollgetankt.

Er zog sich von ihr zurück und hob sie an den Haaren hoch. Dann zwang er seine Zunge tief in ihren Mund, zog ihr Höschen aus und bohrte seine Finger in ihren Unterleib. Als er sie schließlich zurückstieß und sie zu Boden fiel, hatten alle beide mehr als genug.

Dann richtete er seine Kleidung, steckte ihr einen Tausendkronenschein in den Mund und verließ freundlich lächelnd die Wäscherei. Er würde die ganze nächste Woche in der Caracas-Klinik zu tun haben. Die Mädels würden schon merken, wo hier der Hammer hing.

An diesem Vormittag sah der Privatdetektiv einfach beschissen aus. Womit er einen ziemlich unpassenden Kontrast zu Ditlevs Hochglanzbüro bildete. Dem hoch aufgeschossenen, dünnen Mann war nur allzu deutlich anzusehen, dass er die ganze Nacht auf den Straßen von Kopenhagen unterwegs gewesen war. Aber, verdammt noch mal, bezahlten sie ihn nicht dafür?

»Also was nun, Aalbæk?«, grunzte Ulrik, der neben Ditlev saß und die Beine unter dem Konferenztisch ausstreckte. »Gibt es was Neues im Fall der verschwundenen Kirsten-Marie Lassen?« So leitet er die Gespräche mit Aalbæk immer ein, dachte Ditlev, während er den Blick über das mittlerweile dunkelgraue Meer hinter den Panoramascheiben schweifen ließ.

Verdammt, wie sehr wünschte er, dass diese Geschichte endlich ein Ende hätte. Dass die Erinnerung an Kimmie nicht die ganze Zeit in seinem Hinterkopf nagte. Dass sie Kimmie endlich zu fassen bekämen und verschwinden lassen könnten. Wie, das würde ihm schon noch einfallen.

Der Privatdetektiv dehnte seinen Nacken und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. »Kimmie ist einige Male gesehen worden, und zwar von dem Mann vom Schuh- und Schlüsseldienst im Hauptbahnhof. Sie läuft mit einem Koffer herum, so einem mit Rollen, den sie hinter sich herzieht. Letztes Mal trug sie einen Rock mit Schottenkaro. Insgesamt war sie genau so angezogen, wie die Frau beim Tivoli sie beschrieben hat. Aber soweit ich informiert bin, kommt Kimmie nicht regelmäßig zum Bahnhof. Meines Wissens gibt es bei ihr überhaupt keine Regelmäßigkeit. Ich habe alle dort gefragt. Bahnbeamte, Polizei, die Penner, die Händler. Ein paar wissen genau, dass es sie gibt, aber nicht, wo sie sich regelmäßig aufhält. Und keiner weiß, wer sie ist.«

»Du musst ein Team einsetzen, das den Hauptbahnhof Tag und Nacht überwacht, bis sie wieder auftaucht.« Ulrik stand auf. Er war groß, wirkte aber kleiner, sobald sie über Kimmie sprachen. Vielleicht war er der Einzige von ihnen, der richtig in sie verliebt gewesen war. Ob es ihm wohl immer noch etwas ausmacht, dass er sie als Einziger nie bekommen hat?, fragte sich Ditlev Pram zum tausendsten Mal und lächelte vor sich hin.

»Überwachung rund um die Uhr? Das wird euch aber eine Stange Geld kosten«, sagte Aalbæk. Er wollte schon einen Taschenrechner aus seiner lachhaft kleinen Schultertasche ziehen, aber so weit kam er nicht.

»Lass stecken!«, rief Ditlev Pram und überlegte kurz, ob er ihm irgendetwas an den Kopf schmeißen sollte. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. »Red nicht von Geld, als hättest du Ahnung davon, verstanden? Auf wie viel würde sich das belaufen, Aalbæk? Zwei-, dreihunderttausend? In der Größenordnung? Was, glaubst du, verdienen Ulrik und ich wohl gerade, während wir hier sitzen und über deine lächerlichen Stundenlöhne reden?« Dann nahm er doch den Füllhalter und warf ihn nach Aalbæk. Er zielte auf dessen Auge, traf aber nicht.

Nachdem die Tür hinter Aalbæks dünner Gestalt zugefallen war, hob Ulrik den Montblanc auf und steckte ihn in die Tasche.

»Was man auf dem Fußboden findet, darf man behalten«, sagte er und lachte.