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Jürgen vom Scheidt

Sternvogel

Terra Utopia 40





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Terra Utopia – Band 40

Jürgen vom Scheidt – Sternvogel [auch: Thomas Landfinder: Die lebende Maschine]

1. eBookAuflage – Februar 2016

© vss.verlag Hermann Schladt / Dr. Jürgen vom Scheidt

vssinternet@googlemail.com

Überarbeitete Neuausgabe der Leihbuch-Fassung von 1962

Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von http://www.pixabay.com/

Lektorat: Chris Schilling

Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer

 

 

 

 

 

Jürgen vom Scheidt [Thomas Landfinder]

 

Sternvogel

 

 

 

Jürgen vom Scheidt

Sternvogel

Teil 1: Roman von 1959

Teil 2: Nachwort von 2016

Teil 3: Das Unlöschbare Feuer (komprimierte Fassung)

Teil 4: Making of Das unlöschbare Feuer

 

Prolog im Weltenraum

 

Das Raumschiff Haya fiel aus dem Portal der Greggnor-Schleuse in das fremde Sternensystem, dessen Doppelsonne rötliche und orangefarbene Reflexe an die Wände der Zentrale zauberte. Die Männer, die in diesem Raum arbeiteten, hatten keinen Sinn für solche Schönheit. Für sie zählte nur, dass die Suchtaster genau genug gearbeitet hatten und das homogene Abwehrfeld vor jeder denkbaren Überraschung schützte. Und wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass ein Raumschiff beim Blindsprung in die Nähe einer Sonne fällt, wenn es die Schleuse verlässt - und nicht irgendwo im energielosen Nichts des Pararaums materialisiert?

„Hamans, untersuchen Sie die Sonnen. Nach Planeten, Monden und so weiter. Ich warte auf Ihren Bericht“, sagte der Admiral zu seinem Kosmographen. Der salutierte, nahm das Scheibchen mit den Systemdaten, die der Automat eben geliefert hatte, und ging. Als er die Tür hinter sich zu ziehen wollte, kam der Schrei. Gedehnt, gequält. Mit einem Riesensatz, den ihm niemand mehr zugetraut hätte, kam Admiral McNeill aus dem Sessel hoch, in den er sich gleiten lassen wollte. Er fegte den Kosmographen, der die elektronische Sperre betätigen wollte, beiseite, und drückte die Tür in die Wand zurück.

Wieder der Schrei.

„Houb! Ich komme!“ McNeill schien das Ende des Ganges in unerreichbare Ferne gerückt. Sein verbrauchter Körper gab das Letzte an Reserven. Verzweifelt griffen die Beine aus. Bis übergangslos die Schwerkraft weg war und er wie ein Geschoss, der Trägheit folgend, durch die Luft segelte. Kurz vor dem Ende des Gangs setzte die künstliche Schwerkraft wieder und mit voller Stärke ein. Nur eingefleischten Reflexen verdankte er, dass er mit beiden Beinen aufkam. Die Kabinentür stand weit offen. Auf dem buntgemusterten Boden lag, die Augen weit geöffnet, ein junger Mann. Der Admiral kniete sich neben die Gestalt in der schwarzen Offiziersuniform, untersuchte sie mit fliegenden Fingern, dauernd sinnlos vor sich hin plappernd. Trotz aller Verwirrung konnte er die Würgemale nicht übersehen.

McNeill war ratlos. Seit dem Start von der irdischen Basis vor einem Jahr ging das bereits so: Nach jedem Raumsprung, immer bei Verlassen des Ausflugsportals, wenn er am meisten mit den Schiffskontrollen beschäftigt war, fanden diese Überfälle statt.

In die unnatürlich geweiteten Pupillen kehrte so etwas wie Verständnis zurück.

„Vater“, stöhnte er, „Vater er... wieder hier... würgte... wie... drei Tagen.“

„Hast du ihn erkannt? War es Gredd?! Silverstob?“

„Konnte nicht seh'n... wieder von hinten... hinten... und... ist schrecklich... Macht... mich wahnsinnig... Überfälle!“ Erschöpft klafften die ausgetrockneten Lippen für einen Augenblick. „Verfluchte Mannschaft... Hassen mich... alle... hassen mich... weil ich... normal... bin... Oder etwa nicht?“ Aggressiv zischte er: „Bin ich auch so verrückt wie diese Ungeheuer?! Wie dieser besoffene Ronson?“

Mühsam stemmte er sich, von seinem Vater gestützt, hoch. Quäkende Musiklinien strahlten aus dem Bandgerät. Die Traumbox bemusterte verwirrend die Decke. Es war etwas Eigenartiges in diesen haltlos wandernden Augen. Der sonderbare Ausdruck ließ den Admiral frösteln. Er schüttelte beruhigend den Kopf.

„Nein, du bist nicht verrückt. Du und ich, wir sind die Normalen hier im Schiff, die einzigen in einer Mannschaft von lauter Verrückten. Und wenn die anderen das Gegenteil behaupten, schicke ich sie in die Schlafkammer!“

„Natürlich ist er verrückt“, sang eine krächzende Stimme. Die Köpfe der beiden drehten sich aufgestört zu der verdunkelten Tür, durch die eine zusammengefallene Gestalt torkelte. Ronson, der Astrogator der Haya. Ein Genie, wenn er an der Rechenmaschine saß und die greggnorschen Raumschleusen kalkulierte, ein betrunkener Halbidiot für den Rest seines Daseins.

„Natürlich ist er ver... ver... verrückt“, lallte die eintönige Singsangstimme, die aus einer vom Alkohol zerfressenen Kehle kam.

„Natürlich ist er ver... verrückt.“

„Maul halten, Ronson! Betrunkenes Schwein, scher dich in deine Kabine, oder ich verabreiche Ihnen eine Tracht Prügel, die Sie so schnell nicht vergessen, verstanden, Mistkerl, elender - HAU AB!“

Der Astrogator zuckte zusammen, als die scharfen Worte des Admirals an sein vom Schnaps umdünstetes Gehirn drangen. Ein letztes bisschen Menschenwürde in ihm ballte seine zittrigen Finger zur Faust, und er rief:

„Prrrügeln will mich der Admiral, Sir? Ein betrunkenes Schwein bin ich, der Admiral, Sir? Die nächste Schleuse berechnen Sie sich selbst, der Admiral, Sir Sie Sie Sie... bah!“

Er schüttelte sich und torkelte rückwärts weg, hilfesuchend um sich greifend, immer wieder lallend: „Natürlich ist er ver... rückt, türlich ist er verrückt...“

„Verdammt!“ McNeill warf hinter dem Astrogator die Tür zu, dass der ganze Schiffsleib dröhnte. „Jetzt sitzen wir wieder in der Tinte, wie letzte Woche, und müssen warten, bis dieses Ungeheuer seinen Rausch ausgeschlafen hat.“

Ausdruckslos war der junge Mann dem Auftritt Ronsons gefolgt, wobei er mit langsam pendelnden Bewegungen seinen kalkweißen, haarlosen Kopf drehte. Das Donnern der zufallenden Tür trieb ihn aus seiner Erstarrung. Er packte seinen Vater bei der unordentlich zugeknöpften Uniformjacke und fing an, hilflos zu jammern. Doch McNeill hatte keine Zeit, zuzuhören. Überall in der Haya heulten in diesem Augenblick Alarmsirenen auf, während rote Blinklichter an den Wänden hektisch zuckten.

„Admiral!“ rief eine Stimme aus einem der vielen Lautsprecher, „Admiral McNeill! In der Messe prügeln sich Silverstob und Ronson, und die Kerle haben Strahlenpistolen! Das ganze Schiff ist in Gefahr!“

„Schlagt sie zusammen und werft sie in die Schlafkammer. Bis sie sich beruhigt haben. Aber passt auf Ronson auf! Und gebt ihnen eine doppelte Dosis – nein! gebt ihnen gleich eine Spritze. Und Sie, Hamans, melden sich bei mir in der Zentrale. Was fiel Ihnen eigentlich vorhin ein, als Sie mich am Verlassen der Zentrale hindern wollten?“

Keine Antwort.

„Wenn Sie wieder einen schizophrenen Schub bekommen, muss ich Sie konditionieren lassen, verstanden?“

Es kam keine Antwort, obwohl das Atemrasseln zeigte, dass der Kosmograph noch am Mikrophon war.

„Verstanden?!“ brüllte der Admiral nochmals. „Und schicken Sie den Alten Mann her zu mir, in Houbs Kabine.“

Jetzt knackte es im Lautsprecher; die Verbindung war unterbrochen. In einem der vielen Räume der Haya, in der Messe wahrscheinlich, ertönten zwei kurze, schrille Schreie, als Ronson und Silverstob paralysiert wurden. Dann wieder Stille. Der Admiral wandte sich seinem Sohn zu, der mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Hals rieb. Diese Würgemale...

Aber das war doch nicht gut möglich! Es sah geradeso aus, als habe man ihn von vorne gewürgt. Von vorne. Ob der Wahnsinnskerl am Ende versucht haben sollte, sich selbst umzubringen und die Schuld auf andere zu schieben? Grotesker Gedanke -

Stellarfieber.

„... alle in die Schlafkammer...“, wimmerte Houb McNeill, „wollen mich alle umbringen... einzige Normale...“

Simulant, dachte McNeill. Elender Simulant.

„Sei endlich ruhig und komm mit. Der Alte Mann wird dir helfen.“

„Der Alte Mann! Nein!“ Gellend kreischte er: „Nein, nicht den Alten Mann. Der ist auch normal, darf nur einer normal sein, ich... Metallmonster... ich...“

Er blabberte unaufhörlich weiter, bis ihm der Admiral endlich eine schallende Ohrfeige gab, ihn hochriss und im Judogriff mitschleppte. Als sie am Mannschaftsraum vorbeikamen, hörte man durch das dicke Schott das betrunkene Grölen der Freiwache.

Entsetzt fing Houb an zu zerren, als der Alte Mann behäbig auf sie zukam. Seine blankpolierte Stirn mit dem æ-Symbol war das einzige Kennzeichen, das ihn zum Androiden stempelte. Alles andere war menschlich.

Dann setzte die Schwerkraft wieder aus, als Gredd im Somarausch Amok lief und sich verzückt in die Kontrollen stürzte.

Die roten Lichter zuckten von neuem.

 

1 Der Zusammenbruch

 

Licht.

Lärm!

Schmerzende Farben und Laute.

Heulend und kreischend wälzte sich die entfesselte Menge auf ihn zu. Immer größer und furchterregender wurden die wesenlosen Gebilde - Zahlen, violette Achten, dickbäuchige, aufgequollene Nullen und lila Zweien. Alle mit verzerrten Masken, aus denen eine unfassbare Dämonie sprach. Schrie!

Schrie.

Ein Heer von Zahlen hatte Gestalt angenommen und raste jetzt auf grotesken Beinen gegen ihn an. Grelle Blitze zuckten und ließen Schreckenswesen einer Alptraumlandschaft zu einem Chaos explodieren.

Doch das Auf-ihn-zustürzen hielt an. Neue Zahlenungeheuer formten sich aus dem Gewirr, die mit vermehrter Geschwindigkeit auf ihn herabstießen. Mit Fratzen, die noch wilder, noch dämonischer grinsten.

Und dann stand im Hintergrund das Robotgehirn auf, reckte sich drohend, wuchs ins Unermessliche.

R 17

Das Robotgehirn kippte nach vorne über, und im Fallen begannen die unzähligen Lämpchen auf der Vorderseite zu blinken. Sie drehten sich schneller und schneller, wurden zu schmerzenden Feuerrädern, die sich auf ihn stürzten.

R 17

„Aufhören“, rief Tes Dayen und sprang hoch. Der schwere Ledersessel fiel nach hinten um. Befremdet blinzelte der doppelköpfige Miraner: „Aber wir dachten, Sie seien an Handelsbeziehungen mit uns interessiert! Der jährliche Abbau an Schwermetallen der drei Triaden beträgt tatsächlich zur Zeit zwei Megatonnen und wird im Laufe der nächsten Jahre noch wesentlich gesteigert werden“, lispelte Links, während Rechts sein gelbes Faungesicht geistesabwesend in einem unmöglichen Winkel verdrehte.

„Aufhören!“ schrie Tes Dayen. Gehetzt sprang er hinter dem gläsernen Pult hervor, dessen Rand er eben noch in ohnmächtiger Wut und Verzweiflung umklammert hatte, und stürmte auf die Wand des Raumes zu. Höhnisch flackerte das Kontrollbirnchen, als die Fotozelle seine Annäherung bemerkte und die unsichtbare Tür in dem seitlichen Schlitz verschwand.

„Was hat er nur?“ sagte Links. „Diese Erdenmenschen sind ein eigenartiges Volk.“

Tes Dayen schlug um sich, brüllte: „Aufhören! Aufhören!“ und stürmte durch den hohen Gang, der sich endlos vor ihm öffnete. Auf beiden Seiten saßen hinter gläsernen Wänden Männer und Frauen an der Arbeit. Sie blickten von ihren Buchungsmaschinen hoch und schauten neugierig der Gestalt im golddurchwirkten Anzug nach, die, wild gestikulierend und unverständliche Laute ausstoßend, vorbeirannte.

Licht! Lärm.

Das Robotgehirn war nicht hinter ihn gefallen, wie er gehofft hatte. Es ragte noch immer hinter ihm auf, und noch immer wuchs es. Die kreisenden Feuerräder wurden zu quirlenden Vulkanen, die mit glühenden Zungen flüssigen Lichts auf ihr vergeblich fliehendes Opfer herableckten.

Keuchend erreichte er die Kreuzung, von der aus gläserne Korridore und Schwebeschächte nach allen Richtungen in das Gebäude führten. Hinter den durchsichtigen Wänden gafften Tausende von Angestellten und pressten ihre großen gierigen Augen gegen die Scheiben, während ihre Arbeitsgeräte im sinnlos gewordenen Rhythmus weiter hämmerten...

„Aufhören! Aufhören! Aufhören!“ heulte Tes Dayen.

Aufhören... hören... ren hallte es durch die leeren Gänge, und in den Schächten rollte das Echo und schreckte das Haus aus seiner geschäftigen Ruhe.

Robotgehirn R 17stürzte und stürzte und stürzte...

Dayens Beine versagten den Dienst, und mit ausdruckslosem Gesicht, aus dem aller Schrecken gewichen war, fiel er zu Boden. Dickflüssig sickerten große Blutstropfen aus einer klaffenden Stirnwunde; sie bildeten ein eigenartiges Muster auf dem kalt schimmernden Glasboden.

Bald hatte sich ein enger Kreis blasser Menschen um die leblose Gestalt versammelt. Sie wagten nicht, sie zu berühren. Sie warteten auf den Arzt und waren insgeheim ein bisschen dankbar für diese willkommene Unterbrechung ihres Alltags. Manche der Blicke bohrten wie Nadeln, versuchten in den Gestürzten einzudringen; andere glitten scheu darüber und schreckten zurück, wenn dem Betrachter zu Bewusstsein kam, wer dort lag.

„Platz! Macht Platz für den Arzt!“ riefen einige, die weiter hinten standen und sich über diese Tatsache ärgerten. Sie wollten hinter dem Mann mit der Instrumententasche in den Kreis der Gaffer drängen, wurden aber zusammen mit den bereits vorne Stehenden von einigen Bewaffneten, die im Laufschritt durch den Gang eilten, beiseitegeschoben.

Dr. Jageh kniete sich schnell nieder, öffnete das Hemd des Reglosen und horchte mit dem Stetophon die Herztöne ab. Das gleichzeitig auf dem Oszillographen auf und nieder flatternde EKG zog rasch die Aufmerksamkeit der zurückgedrängten Zuschauer auf sich.

„Lebt er?“ fragten die Gaffer überflüssigerweise.

„Er lebt. Herzanfall. Und wahrscheinlich Nervenzusammenbruch. Totaler Nervenzusammenbruch.“

Diese Worte des Arztes waren eigentlich nur für Direktor Arlagon bestimmt, der inzwischen ebenfalls schnaufend angekommen war. Aber die Umstehenden nahmen es begierig auf und gaben es nach hinten weiter.

„Aber es war ja auch Wahnsinn! Wie kann ein Mensch, selbst ein Mensch von solchem Format, für zwei Wochen die koordinierende Arbeit eines Rechenautomaten übernehmen!“

Beipflichtendes Flüstern und Kopfnicken der vielen Gesichter.

„Aber er hat es geschafft“, sagte Arlagon mit belegter Stimme, und seine Begleiter Bebel und Bogoban stimmten ihm eifrig zu.

„Die Interstellar ist gerettet“, hieß es. Das war übertrieben, denn die Gesellschaft hatte sich in keiner akuten Gefahr befunden, drückte aber doch irgendwie die Besorgnis und jetzt Erleichterung aller aus. Sie wussten genau, dass ohne Tes Dayen eine so gewaltige Institution wie die Interstellare Handelsgesellschaft undenkbar war. Wenn es auch die Direktoren manchmal gar zu gern vergessen wollten.

Endlich kamen die Sanitäter mit der Schwebebahre und trugen Dayen davon. Solange man etwas sehen konnte, folgten die Blicke, und dann steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten, bis Direktor Arlagon sie mit einigen beschwichtigenden Sätzen zu ihren Arbeitsplätzen zurückschickte.

„Herzanfall... Nervenzusammenbruch“, wisperte es in den gläsernen Gängen, die sich erst allmählich wieder leerten. „Herzanfall“, säuselten tausend Stimmen. „Nervenzusammenbruch“, summten zwanzig gläserne Stockwerke. Und raunend eilte das Gerücht auf schnellen Flügeln durch die transparent schimmernde Stadt, von der aus eine ganze Milchstraße kontrolliert wurde. Von einem Gebäude der Interstellaren Handelsgesellschaft zum anderen schwang es sich.

Die mächtigen Radiosender funkten es hinaus zu den Sternen: „Tes Dayen... Herzanfall... Nervenzusammenbruch...“