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Conquered – Die Verführung

 

 

Copyright: © 2016 Adina Pion

Umschlagillustration: © Talina Perkins/Bookin' It Designs http://www.bookinitdesigns.com

Korrektorat: TextCare http://www.textcare.de

 

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Dies ist eine erfundene Geschichte. Ähnlichkeiten mit jeglichen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

 

Eine Horde junger Mädchen kletterte kichernd aus einer pinkfarbenen Limousine und entlockte dem Türsteher ein erfreutes Lächeln. Etwas beschwipst, die Mädels, aber in ihren kurzen Glitzerkleidchen auf jeden Fall eine Augenweide. Ein Junggesellinnenabschied, das war ihm schon klar, bevor er die junge Frau mit dem goldenen Krönchen im Haar entdeckte. Er winkte den gackernden Haufen nach vorne.

»Ich muss schon sagen, junge Dame«, wandte er sich an die künftige Braut, »sind Sie überhaupt alt genug für einen Nachtclub, vom Heiraten ganz zu schweigen?«

Gespielt streng verschränkte er die Arme vor der Brust, während die Mädels vor Begeisterung kreischten. Für seinen Geschmack war die Heiratskandidatin ja zu aufgedonnert und mit ihrem Parfüm zu verschwenderisch umgegangen. Alt genug, um vor den Altar zu treten, war sie auch. Aber egal, die Mädels waren hübsch und in Partylaune. Außerdem würde er darauf wetten, dass jede von ihnen eine Kreditkarte ohne Limit in ihrem Handtäschchen hatte. Genau die Leute, die der Boss im Laden haben wollte.

Die Braut rückte ihren beachtlichen Busen zurecht und fummelte ihren Ausweis heraus.

»Ich bin Annie und alt genug für alles Mögliche«, verkündete sie, »aber ich muss dich enttäuschen – ich bin schon vergeben, Süßer!«

Die anderen Mädchen johlten, holten ihre Papiere heraus und wedelten ihm damit vor der Nase herum. Feixend winkte er sie durch. Die Letzte in der Reihe, eine zierliche Blonde mit veilchenblauen Augen, hielt ihm schüchtern ihren Ausweis hin. Der Türsteher warf einen ausführlichen Blick darauf. Mann, war die süß! Und gerade mal achtzehn geworden. Als Einzige trug sie einen Rock, der nicht knapp unter dem Po endete. Sie sah aus wie die Unschuld in Person.

Er versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. Wirklich schade, dass die Gäste tabu waren. Obwohl die Kleine es durchaus wert sein könnte, von seinem Boss vor die Tür gesetzt zu werden.

 

***

 

Mit zitternden Händen steckte sie ihren Personalausweis wieder weg. Irrte sie sich oder hatte dieser große, breitschultrige Mann sie besonders genau angesehen? Und wie er sie angegrinst hatte, richtig unheimlich!

Ihre Cousine Annie und deren Freundinnen stürzten sich derweil jubelnd auf die Tanzfläche. Einzig ein dunkelhaariges Mädchen aus der Clique blieb bei ihr, als sie zögernd stehen blieb. Offenbar war sie dazu bestimmt worden, ein Auge auf die kleine Verwandte zu haben. Dummerweise fiel ihr der Name der Dunkelhaarigen nicht mehr ein. Evi? Erni? Annies Freundinnen sahen in ihren knappen Kleidchen nicht nur alle gleich aus, sie hatten auch alle ähnliche Namen. Wenig Buchstaben und am Schluss ein ›i‹.

»Geh nur tanzen. Ich schaue ein bisschen zu.«

»Ehrlich?«

»Ja, sicher, ich komme klar, Elli.«

Elli – hoffentlich hieß sie wirklich so – nickte und verschwand im Getümmel. Jetzt, wo sie ganz alleine dastand, wünschte sie sich die anderen sehnlichst zurück. Dabei hatte sie sich so sehr über Annies Einladung gefreut. Endlich eine Möglichkeit, der gestrengen Aufsicht ihres Vaters zu entfliehen!

Aber schon das ›Vorglühen‹ bei ihrer Cousine hatte sie überfordert. Denn die Hauptattraktion waren nicht Prosecco und Erdbeerlimes gewesen, sondern ein Mann, der getanzt und sich dabei komplett ausgezogen hatte. Sie hatte seinen Penis gesehen! Auch wenn ihr ein Mädel zugeflüstert hatte »Der ist aber nicht besonders gut ausgestattet!«, hatte der Anblick doch höchst seltsame Gefühle in ihr ausgelöst. Zum Glück war das nicht aufgefallen, alle hatten den Stripper angefeuert, die zukünftige Braut zu küssen.

Auch jetzt, in dem halbdunklen, überlauten Club fühlte sie sich fehl am Platz. Wie sollte sie sich jetzt verhalten? Um sie herum schien jeder Spaß zu haben. Zum Glück war sie zu unscheinbar, um weiter aufzufallen. Sie trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, wischte sich verstohlen die Hände an ihrem Rock ab und schielte vorsichtig nach rechts und links.

Nur wenige Meter neben ihr war ein Pärchen in einen tiefen Kuss versunken. Verlegen wandte sie den Blick ab, als ein wütender Schrei erneut ihre Aufmerksamkeit auf die Küssenden lenkte.

»He! Nimm gefälligst deine Zunge aus dem Mund meiner Freundin!«

Ein dicker, schwitzender Kerl war zu den Verliebten getreten, krallte seine riesige Pranke in den Arm des Mädchens, während er die andere Hand bedrohlich zur Faust geballt hatte.

»Hör auf!«, jammerte die junge Frau. »Es ist doch schon ewig Schluss mit uns!«

»Klappe«, brüllte der Dicke und holte aus.

Unfähig, die Augen abzuwenden, hielt sie ängstlich die Luft an, doch mit einem Mal wurde der Schwung der Faust gebremst.

»Ich glaube, die Lady hat sich deutlich ausgedrückt.«

Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein großer, schwarz gekleideter Mann hinter dem Dicken. Er war längst nicht so massig wie der Türsteher oder der Störenfried, dennoch hatte er keinerlei Problem damit, dem Dicken den Arm auf den Rücken zu drehen.

»Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte er dabei gelassen.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du Spinner«, keuchte der Dicke.

»Das sehe ich anders.«

Obwohl der Unruhestifter sich heftig gegen den Griff wehrte, blieb der Mann ganz ruhig. Einzig eine widerspenstige Locke seines dunklen Haares fiel ihm in die Stirn. In diesem Moment schob sich der Türsteher durch die Menge.

»Ich übernehm ihn, Boss!«

Schon hatte er den Dicken gepackt und zerrte ihn weg. Nun, da der Retter sich nicht mehr mit dem Störenfried herumplagen musste, fiel ihr auch auf, wie unglaublich gut er aussah. Stolz und hochgewachsen stand er da, einen leicht arroganten Ausdruck auf dem markanten Gesicht, während er lässig die Dankesbezeugungen des Pärchens abwehrte. Ein dunkler Held der Nacht.

Genau in diesem Moment hob er den Kopf und sah zu ihr herüber. Wie ein Blitz fuhr sein Blick durch ihren Körper. Sie erwartete, dass er rasch woandershin sehen würde, doch er blickte sie unverwandt an.

Sie schluckte. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Aber sie stand doch einfach nur da! Mit Schrecken fiel ihr die imposante, rosa Schleife wieder ein, die Annie allen Mädels um die Taille gebunden hatte. So ein Mann interessierte sich wohl kaum für ein riesiges Bonbon.

Doch er nickte dem Pärchen nur noch einmal kurz zu, ohne die Augen von ihr zu lassen. Geschmeidig kam er auf sie zu, bis er direkt vor ihr stand. Ängstlich starrte sie in seine stahlblauen Augen.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er mit einer überraschend sanften Stimme.

Sie konnte nur nicken. War das ein Traum? Mit weichen Knien ging sie neben ihm zu einem Tresen. Obwohl dort reges Gedränge herrschte, schien für ihren Begleiter sofort ein Platz frei zu werden. Eifrig eilte ein Angestellter herbei.

»Zwei Caipi!«

»Sofort, Boss!« Beflissen begann der Barkeeper mit seiner Arbeit.

Sie spürte, wie ihr Herz heftig klopfte. Wurde sie wirklich gerade von einem umwerfend gut aussehenden Helden zu einem Cocktail eingeladen? Ihr wurde ein bisschen schwindelig. Ob dieses wunderbare Gefühl die berühmte Liebe auf den ersten Blick war?

Als sie schüchtern zu ihm aufsah, bemerkte sie ein Tattoo, der Kopf einer Schlange lugte unter dem Revers seines schwarzen Jacketts hervor. In dem Moment drehte er sich zu ihr um, sah sie intensiv an.

»Wie schön du bist!«

»Bestimmt nicht«, protestierte sie leise, was ihm ein kleines Lächeln entlockte. Ohne auf die Drinks zu achten, die der Barkeeper ihnen eifrig hinschob, legte er die Hände auf ihre Hüften. Ganz sanft, als fürchte er, eine kräftigere Berührung würde sie zerbrechen.

»Ich habe nie etwas Schöneres gesehen«, raunte er.

Sie spürte, wie jene geheime Stelle zwischen ihren Beinen, die sie manchmal nachts verstohlen unter ihrer Bettdecke berührte, anfing zu pochen. Dieser Mann meinte sie, das farblose Mauerblümchen. Das änderte schlagartig alles. Nicht nur den bisher wenig erfreulichen Abend. Ihr ganzes Leben würde sich ändern, jetzt, wo er aufgetaucht war.

Bebend legte sie ihre Hände auf seine starken Arme.

 

Eins

 

»Sei vorsichtig mit der Kiste, Alice!«

»Was hast du denn da drin? Wackersteine?«

Ich schwanke beträchtlich unter dem Gewicht des Kartons, der auf der Ladefläche des Umzugswagens noch ganz unschuldig ausgesehen hat.

»Diese Kiste enthält einen Teil meiner Bibliothek«, erklärt Lulu in einem altklugen Tonfall und streicht bedächtig ihr langes, dunkles Haar zurück.

»Noch nie was davon gehört, dass man einen Karton nicht bis zum Rand mit Büchern füllt?«, keuche ich.

»Gib mal her, Chefin.«

Wie aus dem Nichts ist Emre neben mir aufgetaucht und nimmt mir die Umzugskiste ab. Als wöge sie nichts, trägt er sie ins Haus. Ich starre auf seinen breiten Rücken und die Muskeln, die sich unter seinem T-Shirt abzeichnen.

»Eine Verteilung der Bücher auf mehrere Kartons war aufgrund der Menge nicht möglich«, erläutert Lulu derweil und schiebt eine weitere Kiste an den Rand der Ladefläche. Vorsichtshalber entscheide ich mich für eine Stehlampe.

Ich war doch nur fünf Jahre weg, was sich da alles ändern kann! Aus dem verspielten Nachbarsmädchen Luise ist eine ernste junge Frau in schwarzen Klamotten geworden, die Lulu genannt werden möchte. Und die Zwillinge Emre und Tarek – seinerzeit zwei schmächtige Jungs und die größten Nervensägen weit und breit – stellen sich plötzlich als zwei Muskelpakete und zudem als die besten Gärtner meines Onkels heraus.

Na ja, außer Lulu und Oma Berta sind es allerdings auch die einzigen verbliebenen Angestellten meines Onkels.

Schon wieder falsch. Onkel Richard ist tot. Es sind meine Angestellten.

So wie es auch mein windschiefes Häuschen ist, in dem ich jetzt ein Zimmer an Lulu vermiete. Ein Versuch, eine weitere Einnahmequelle aufzutun, so klein sie auch sein mag. Ob es in meiner aktuellen Lage sinnvoll ist, sich mit einem jungen Mädchen zusammenzutun, das kein einziges buntes Kleidungsstück, dafür Unmengen von Büchern besitzt und zu allem Überfluss auch noch als Grabpflegerin arbeitet – für mich, nebenbei bemerkt –, wird sich erst noch herausstellen. Zumindest muss ich ab heute nicht mehr alleine in einem leeren Haus voller Erinnerungen sitzen.

Ich lasse meinen Blick einen Moment über den Hof schweifen, vom altmodischen Kopfsteinpflaster über die üppig bepflanzten Tröge vor dem winzigen Fachwerkhäuschen, betrachte gedankenverloren das praktische Bürogebäude und die große Scheune. Das ist mein Zuhause, keine Frage, aber dass das alles jetzt mir gehören soll, daran habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.

»Das war’s dann, Chefin«, ruft Tarek.

Ich nicke ergeben und verschiebe den Versuch, den beiden Brüdern dieses ständige ›Chefin‹ abzugewöhnen, mal wieder in eine unbestimmte Zukunft.

 

Eine halbe Stunde später sitzen Lulu und ich auf zwei Bücherkisten inmitten von wallenden, schwarzen Stoffen und nippen an einem Darjeeling, der noch aus Onkel Richards Vorrat stammt, und knabbern Schokoladenkekse von Oma Berta. Zur Belohnung, nachdem wir in diesem Wirrwarr aus schwarzem Zeug tatsächlich eine ebensolche Bettwäsche ausfindig gemacht haben. Mit meinen roten Haaren muss ich zwischen Lulus Habseligkeiten wirken wie ein Papagei unter Raben.

»Sag mal, warum hast du bloß so viele Bücher? Hast du die wirklich alle gelesen?«

Ich öffne wahllos eine der Kisten und nehme das oberste Buch heraus. Auf dem Cover prangt eine rosafarbene Orchidee.

»Nanu. Sag bloß, das sind lauter Pflanzenbücher, die du da angeschleppt hast.«

Lulu schnappt mir das Buch weg und presst es an ihre Brust, als handele es sich um ein wertvolles Kleinod.

»Das Lesen dient der Entspannung nach einem anstrengenden Arbeitstag und die Themen sind ein Kontrast zu meiner doch eher betrüblichen Tätigkeit.«

Was soll das denn heißen? Weil es Lulus Aufgabe ist, sich um die Bepflanzung von Gräbern zu kümmern, liest sie abends …?

»Das sind Liebesromane?«, frage ich grinsend.

»Na ja.« Lulu wird tatsächlich rot. »Im weitesten Sinne ist das durchaus zutreffend.«

Obwohl Lulu das Buch immer noch fest an sich gedrückt hält, habe ich einen guten Blick auf das Cover. Die rosa Blume auf dem schwarzen Hintergrund sieht mit ein bisschen Fantasie fast unanständig aus.

»Es sind erotische Liebesgeschichten«, haucht Lulu.

Damit hatte ich nun nicht gerechnet.

»Na ja, wer’s mag«, versuche ich meine Überraschung zu verbergen.

»Die Bücher sind so toll – romantisch und spannend und sexy!« Lulu vergisst sogar ihren belehrenden Tonfall.

»Also ich weiß nicht, ich lese lieber Krimis.«

»Pass auf!«

Lulu nimmt das Buch, das sie immer noch in der Hand hält, blättert ein wenig darin herum und liest schließlich vor:

»›Heute Nacht gehörst du mir‹, sagte er streng und öffnete die schwarze Truhe, die zwischen ihnen stand. Adelissas Herz hämmerte, als er eine schwarze Augenbinde zutage förderte. Ein kleiner Schrei entfuhr ihr, als er eine schmale Gerte daneben legte. ›Gehorche, und du wirst es nicht bereuen.‹ Adelissa war sich nicht sicher, ob seine Worte Drohung oder Versprechen waren. Überdeutlich spürte sie die zunehmende Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen, während er ein Paar Handschellen hervorholte und auf sie zukam.«

Lulu seufzt verträumt und drückt das Buch wieder an ihre Brust.

»Seit ich zufällig über ›Fifty Shades of Grey‹ gestolpert bin, entdecke ich jede Woche ein noch besseres Buch. Ist das nicht wahnsinnig aufregend?«

Das finde ich nun überhaupt nicht. Aber ich will Lulu nicht vor den Kopf stoßen. Um überhaupt etwas zu sagen, entscheide ich mich für:

»Adelissa ist aber ein komischer Name.«

»Ich merke schon, du träumst nicht von einem ›Bad Boy‹. Sicher hast du dir einen tollen Typen in England geangelt, oder?«

Ich denke an Tim. Dessen grüne Augen mich vom ersten Augenblick an fasziniert haben. Der nach Sonne riecht und nach Erde schmeckt. Dessen raue Hände mich so unendlich zärtlich liebkosen konnten. Der mich garantiert nirgendwo festbinden musste, um mit mir zu schlafen.

Nun seufze ich ebenfalls.

»Tim wollte nicht mit nach Deutschland. Aber ich wollte unbedingt zurück, sobald ich von Onkel Richards Unfall erfahren habe.«

»Aber ihr hättet euch doch hin und wieder treffen können. Und es gibt doch Telefone und Videochats und all so was.«

»Wir wollten beide lieber ein kurzes, schmerzliches Ende, als den qualvollen, langsamen Tod unserer Beziehung zu erleben«, entgegne ich.

Zwar war die Zeit mit Tim wunderschön, aber mein Schmerz über die Trennung hält sich in Grenzen. Oder fällt es mir gerade einfach nicht auf? Mein Onkel hatte einen tödlichen Unfall, dann muss ich feststellen, dass er mir seine Firma vermacht hat, die wohl gerade nicht so gut läuft. Mir fehlt einfach die Zeit für hemmungslosen Liebeskummer.

Lulu streichelt über die Orchidee auf ihrem Buchcover.

»Irgendwo wartet auf jede von uns der Traummann, da bin ich mir ganz sicher.«

Dann überrascht sie mich erneut, indem sie aufspringt und mich herzlich in die Arme nimmt.

Ich hoffe wirklich, dass irgendwo ein netter junger Mann nur darauf wartet, die hübsche, liebenswerte Luise unter all den Lagen von wallendem, schwarzem Stoff zu entdecken. Vielleicht hätte der dann auch noch einen charmanten großen Bruder, der in mir eine noch unentdeckte Schönheit sieht? Da hätte ich nun auch nichts dagegen – sofern die beiden ihre Handschellen und Peitschen schön zu Hause lassen.

»Sag mal, stimmt es, dass Oma Berta nun tatsächlich Großmutter geworden ist?«, versuche ich einen Themenwechsel. Bevor wir weiter unsere geheimsten Wünsche und Träume offenbaren, sollten wir uns vielleicht erst wieder ein bisschen besser kennenlernen.

 

***

 

Am Montag darauf stehe ich in der Scheune, die den Maschinenpark von ›Warners Gartengestaltung‹ beherbergt. Es riecht nach Motoröl und Staub. Nach dem Stress der letzten Wochen mit meiner Ankunft, Onkel Richards Beerdigung und schließlich Lulus Umzug komme ich endlich dazu, die kümmerlichen Reste des Fuhrparks zu inspizieren. Emre und Tarek sind mit dem Pick-up und einer Motorsäge bei einem Rentner, der einen maroden Baum gefällt haben möchte. Lulu ist mit einer Schubkarre auf dem Friedhof unterwegs. Also gehe ich davon aus, dass zumindest diese Gerätschaften noch funktionstüchtig sind. Aber was ich mit den übrigen rostigen Maschinen anfangen soll, weiß ich wirklich nicht.

Die Rüttelplatte hat schon bessere Zeiten gesehen. Der Rasenmäher hat eine riesige Beule, dafür klafft im Fangkorb ein großes Loch. Der zweite Pick-up ist überhaupt nicht mehr vorhanden, der Anhänger hat einen Platten. Vielleicht liegt die Ursache für die dürftige Auftragslage darin, dass wir gar nicht mehr Arbeiten erledigen könnten, selbst wenn wir wollten? Etwas hilflos fahre ich mir durch die Haare. Wo soll ich denn da anfangen?

Ich setze mich auf einen umgedrehten Eimer und denke daran, wie es war, als ich noch ein Kind, Onkel Richard noch am Leben und ›Warners Gartengestaltung‹ ein florierender Betrieb war. Fast glaube ich, den tatkräftigen Mann zu sehen, wie er durch den Scheuneneingang kommt, sich die Ärmel seines Hemdes hochkrempelt und ruft:

»Der Hänger hat einen Platten! Das müssen wir reparieren.«

Natürlich hüpfe ich hinterher, nachdem es meinen Eltern mal wieder unmöglich schien, die Schulferien mit ihrer einzigen Tochter zu verbringen. Meine beiden abstehenden Zöpfe wippen im Takt meiner Schritte auf und ab. Die seltsame Frisur ist Absicht, schließlich hat Oma Berta mich vor ein paar Tagen erst mit den Worten getröstet: »Die anderen Kinder sind nur neidisch, weil sie nie aussehen werden wie Pipi Langstrumpf!«, nachdem ich ihr tränenreich gestanden hatte, dass ich auf der Straße wegen meiner Haarfarbe gehänselt werde.

»Kann ich helfen?«, ruft also Pipi Langstrumpf Onkel Richard hinterher.

Er dreht sich um, setzt ein ernstes und würdevolles Gesicht auf und entgegnet:

»Wie könnte ich so ein Angebot wohl ausschlagen? Alleine würde ich es nie schaffen!«

 

Ich blinzle heftig gegen die aufsteigenden Tränen an und kehre in die Gegenwart zurück. Und jetzt, Onkel Richard? Wie soll ich das alles alleine schaffen?!

»Ist die verlorene Tochter also zurückgekehrt?«, reißt mich eine unbekannte Stimme aus den trüben Gedanken.

Ich zucke zusammen und springe erschrocken auf. Vor mir steht ein blasser, dürrer Kerl in einem grauen, schlecht sitzenden Anzug. So wie er mich erwartungsvoll ansieht, geht er wohl davon aus, dass ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Habe ich aber nicht. Wer ist dieser Spießer?

Ich mustere ihn. Schließlich liefern mir seine strähnigen, blonden Haare den entscheidenden Hinweis.

»Lars Pfaller.«

Er grinst und drückt mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange, ganz so, als verbände uns eine innige Freundschaft. Ich unterdrücke mit Mühe ein Schaudern. Dabei bestand unser Verhältnis einzig darin, dass er mich in der Schule in Mathe abschreiben ließ. Im Austausch gegen Süßigkeiten.

»Das ist aber eine Überraschung«, bringe ich heraus. »Was treibt dich denn hierher?«

»Tut mir leid, Alice, aber ich bin der zuständige Kreditsachbearbeiter der Sparkasse. Ich muss mit dir reden. Über die Firma.«

Er bekräftigt seine Worte, indem er sich gewichtig den Krawattenknoten zurechtrückt. Das hört sich gar nicht gut an. Besser, ich sehe zu, dass ich Lars schnell wieder loswerde.

»Das ist ein bisschen ungünstig, ich habe es noch nicht geschafft, alle Unterlagen durchzugehen. Vielleicht machen wir einen Termin in den nächsten Tagen?«

Er sieht sich abschätzig im Schuppen um.

»Der Ernst der Lage ist dir wohl nicht so ganz klar?«

Das klingt, als könne ich nicht bis drei zählen.

»Bevor ich mich in irgendwelche Verhandlungen stürze, würde ich mir gerne einen umfassenden Überblick verschaffen«, beharre ich.

»Du hast das Erbe bereits angenommen. Ich fürchte, das war ein Fehler. Du solltest jemanden an deiner Seite haben, der dich vor weiteren Fehlentscheidungen bewahrt.«

Ich protestiere erneut, doch unbeirrt fährt Lars fort:

»Eine Insolvenz lässt sich mit etwas Geschick noch abwenden. Ich könnte dir dabei helfen.«

»Wenn du hergekommen bist, um im Gegenzug ein paar von Oma Bertas Schokoladenkeksen abzustauben, muss ich dich enttäuschen«, versuche ich es mit einem Witz.

»Ach, Alice.« Unvermittelt schnappt er sich eine Locke meines rotbraunen Haares und wickelt sie sich um den Finger. »Ich bin doch kein kleiner Junge mehr, der sich mit Süßkram zufriedengibt. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass du mir dafür auch etwas entgegenkommst.«

Lars starrt mir bei seinen letzten Worten auf die Brüste, sodass ich keinen Zweifel daran habe, welche Art von Entgegenkommen ihm so vorschwebt. Entsetzt mache ich einen Schritt zurück und befreie mein Haar.

»Ich komme ganz gut alleine klar, danke. Wende dich doch an das Büro für einen Termin.«

Lars scheint noch allerlei dazu einzufallen, doch Oma Berta befreit mich aus der blöden Situation.

»Alice? Kommst du mal? Ich habe ein Problem mit dem Computer!«, schallt ihre Stimme über den Hof.

Ich nicke Lars Pfaller noch kurz zu und mache, dass ich wegkomme.

 

Zum Glück hat jetzt nicht auch noch der Computer den Geist aufgegeben. Berta wollte mich nur aus Lars’ Fängen retten.

»Was ist denn nur passiert?«, frage ich, nachdem ich mich versichert habe, dass Lars tatsächlich wieder abgezogen ist.

»Fünf Jahre sind nicht gerade wenig Zeit«, sagt Berta und nimmt den Worten die Schärfe, indem sie mir eine Dose mit ihren berühmten Keksen herüberschiebt. »Die Leute haben einfach weniger Geld, das ist es. Da wird an so Sachen wie Gärtnern am ehesten gespart. Die gehen jetzt alle zum Baumarkt, leihen sich eine Maschine für einen Tag aus und machen alles selbst.«

Ich stütze den Kopf in die Hände. Wenn ich doch vor seinem Tod nur noch mal mit Onkel Richard hätte reden können! Aber wie hätte ich denn ahnen sollen, dass er so unvermittelt aus dem Leben gerissen wird? Hilflos sehe ich Oma Berta an und mit einem Mal wird mir klar, dass sie alt geworden ist. Ich wage nicht zu fragen, wie alt tatsächlich, zu groß ist meine Angst, dass sie mir dann eröffnet, dass sie bald in Rente geht. Dann wäre gar niemand mehr von den Menschen da, auf die ich mich als Kind immer verlassen konnte.

»Aber das ist doch keine gute Idee, die Angestellten zu entlassen und die Geräte zu verkaufen«, jammere ich.

»Was hättest du denn gemacht, Chefin?«

Unbemerkt sind Emre, Tarek und Lulu hereingekommen und mustern mich mit ernsten Blicken. Das Büro wirkt plötzlich winzig.

Mit einem Mal wird mir mit aller Deutlichkeit klar, dass Richard nicht zurückkommen wird. Das ist keine kurzfristige Krise, die ich irgendwie überstehen muss, bis mein Onkel wieder da ist und alles in Ordnung bringt. Jetzt kommt es einzig auf mich an.

»Also gut«, sage ich kämpferischer, als mir zumute ist. »Die Kleinstadt Werenried ist vielleicht nicht die Top-Adresse für Garten- und Landschaftsbau. Dann müssen wir unseren Radius eben erweitern. Damit kommen wir auch schon in die Nähe der Stadt, und da entwickelt sich meiner Ansicht nach ein ganz neues Potenzial: Die Leute entdecken das Gärtnern wieder für sich. Die wollen keine laschen Tomaten vom Discounter, sondern Biogemüse, das sie selbst anbauen. Nur dass sie eine Tomatenpflanze nicht von einem Zucchinigewächs unterscheiden können. Da wäre unsere Hilfe willkommen. Allerdings müssen wir dafür sorgen, dass die Leute auch davon erfahren. Darauf zu hoffen, dass man uns weiterempfiehlt oder auf den Eintrag in den gelben Seiten stößt, reicht heutzutage einfach nicht mehr. Wir müssen ins Internet und wir brauchen ein Marketing.«

Ich bin aufgesprungen und sehe aus dem Fenster zu dem Geräteschuppen hinüber. Jetzt drehe ich mich vorsichtig um und mustere die anderen.

»Klasse, Chefin«, strahlt Tarek, und Lulu hüpft aufgeregt herum.

»Mit ein paar authentischen Fotografien in den sozialen Medien ließe sich das gut vermitteln«, meint sie.

»Ich hab die Digitalkamera im Wagen, lass uns gleich mal was ausprobieren«, sagt Emre, und schon stürmen die drei euphorisch zur Türe hinaus. Nur Oma Berta sieht mich zweifelnd an:

»Und wie willst du das bezahlen, die Werbung und so?«

»Keine Ahnung«, gebe ich ruhig zu, »aber ich muss es versuchen, das verstehst du doch? Vielleicht schaffen wir es mit ein bisschen Eigeninitiative und mit ein paar Leihgeräten vom Maschinenring.«

Berta legt mir kurz die Hand auf die Schulter.

»Richard wäre stolz auf dich«, meint sie.

Da ich mit einem Mal einen riesigen Kloß im Hals habe, nicke ich bloß. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals so eine Scheißangst hatte.

 

Zwei

 

Drei Tage später sitze ich mit meinem Laptop am Küchentisch und mühe mich damit ab, aus den Fotos von Emre einen passablen Internetauftritt zusammenzubasteln. Die beiden Brüder habe ich mangels anderer Arbeit zu Oma Berta ins Büro gesteckt, wo sie gemeinsam die Inventarlisten durchgehen. Einzig Lulu hat nichts zu tun und sitzt mit einem neuen Buch auf der Fensterbank hinter mir. Diesmal ist keine Blume auf dem Cover, sondern zwei verschiedenfarbige Rauchsäulen, die ineinanderverschlungen an ein Paar erinnern. Hin und wieder unterbricht ein wehmütiger Seufzer die Stille.

»Aaaliiice!«

Ein schriller Schrei. Ich zucke zusammen und Lulu fällt vor Schreck das Buch aus der Hand. Wir springen auf – Oma Berta muss etwas zugestoßen sein!

Doch in diesem Moment stürmt Berta in die Küche, so schnell ihre kurzen Beine und die Filzpantoffeln das zulassen. Verletzt scheint sie nicht zu sein.

»Alice! Da hat einer angerufen!«

»Aha.« Mein Puls beruhigt sich langsam wieder.

»Ein Lorenzo Nikolai. Er ist der Assistent irgend so eines Unternehmers und der wiederum hat das Schlösschen gekauft und möchte den Garten neu gestalten lassen.«

»Das Schlösschen?«, wiederhole ich perplex.

»Das Schlösschen – wie es im Volksmund genannt wird – war ursprünglich das Jagdhaus des Fürstenhauses Marzenetter, bis Fürst Friedolin es 1789 in ein Domizil für seine Mätresse umbauen ließ«, doziert Lulu. »Und von einem Garten zu sprechen, ist maßlos untertrieben. Das Schlösschen umgibt ein kleiner Park.«

Oma Berta und ich starren Lulu an, weniger wegen dem Geschichtsvortrag, sondern weil sie höchst seltsam aussieht.

»Ist das ein Monokel, das du da anhast?«, frage ich.

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Lesebrille brauchst«, sagt Berta.

»Das ist auch nur ein modisches Accessoire.« Lulu klingt tatsächlich ein bisschen beleidigt.

Oma Berta und ich werfen uns vielsagende Blicke zu.

»Ich finde, ihr Mädchen solltet mal wieder unter die Leute gehen«, meint Berta vorsichtig.

»Das sollten wir«, bestätige ich, hole meinen Terminkalender hervor und nehme Oma Berta das Post-it ab, auf dem sie die Telefonnummer dieses Herrn Nikolai notiert hat. »Aber erst rufe ich da an.«

Überdeutlich bin ich mir der Blicke von Oma Berta und Lulu bewusst. Nicht gerade hilfreich. Verflucht noch mal, wenn das kein blöder Scherz ist, könnte das unsere Rettung sein. Ich wähle.

»Ja!«

Eine scharfe Stimme meldet sich schon nach dem ersten Klingeln, im Hintergrund höre ich laute Musik. Na, toll.

»Hier ist Alice Warner von Warners Gartengestaltung«, sage ich fröhlich, als wäre mir der unfreundliche Ton gar nicht aufgefallen. »Sie hätten gerne ein Angebot für eine Neugestaltung des Schlossgartens?«

Bitte, bitte, lass es wahr sein!

»Ja.«

Herrje, ist der gesprächig.

»Am besten wäre es natürlich, wenn ich mir zunächst ein Bild von den Örtlichkeiten machen könnte, bevor ich Ihnen ein Angebot erstelle«, flöte ich unbeirrt.

»Morgen um drei. Sie kennen das Objekt?«

Zwei ganze Sätze. Wow. Allerdings entfällt hiermit meine Idee, auf der Suche nach einem Termin erst mal geschäftig in meinem Kalender zu blättern.

»Ja.«

Was du kannst, kann ich schon lange.

»Gut.«

Klack.

»Er hat aufgelegt!«, rufe ich überrascht.

»Was hat er gesagt?«, will Oma Berta wissen.

»Nix. Wir haben morgen einen Termin.«

»Wunderbar«, strahlt Lulu.

»Also, ich weiß nicht. Wenn der Unternehmer ähnlich komisch drauf ist wie sein Assistent, wird das aber kein Zuckerschlecken.«

»Zu mir war er sehr höflich«, behauptet Berta, und Lulu meint sehnsüchtig:

»Sicher ist der Unternehmer ein wohlhabender junger Mann.«

»Der Unternehmer ist alt, dick und sucht einen Ort, an dem seine plärrenden fünf Kinder die Nachbarn nicht auf die Palme bringen«, behaupte ich. »Und wie auch immer das morgen ausgeht, Oma Berta hat recht: Wir gehen heute aus.«

Entzückt hüpft Lulu davon, um sich umzuziehen, und Oma Berta verspricht, Emre und Tarek Bescheid zu sagen.

 

***

 

Am nächsten Morgen wache ich mit einem Kater auf, der sich gewaschen hat.

Werenried hat sich nicht gerade als Eldorado der Abendunterhaltung herausgestellt – letztendlich standen wir vor der Wahl zwischen ›Schwarzer Adler‹ und ›Piccadilly‹, wobei besonders Lulu wegen der günstigen Cocktails für Letzteres plädierte.

Zwar hat unser Ausflug in die Welt der Daiquiris und Caipirinhas Emre und Tarek dazu gebracht, die ›Chefin‹ zu vergessen und mich endlich wieder ›Alice‹ zu nennen, aber heute Morgen frage ich mich ernsthaft, ob es das wert war.

Mit schmerzendem Kopf, einer Packung Aspirin und einer Kanne Kaffee mache ich mich schließlich daran, meine Kenntnisse über Schlossparks im Allgemeinen und über unser Schlösschen im Besonderen wieder aufzufrischen. Zum Glück ist der Termin erst am Nachmittag.

 

»Du siehst blendend aus. Der Unternehmer wird hingerissen sein!«, meint Lulu einige Stunden später, während ich noch zweifelnd mit Bleistiftrock und Bluse vor dem Spiegel stehe.

»Sollte das nicht alles ein bisschen lockerer sitzen? Nicht dass der noch denkt, ich will ihn anmachen.«

»Der dicke Alte mit den fünf Kindern? Wie sollte der denn auf so einen Gedanken kommen«, spottet Lulu. »Aber ernsthaft: Ich finde, du hast eine tolle Figur, zieh dich bloß nicht um.«

Natürlich weiß ich, dass man so einem frischgebackenen Schlossbesitzer aus der Stadt nicht mit Jeans und T-Shirt gegenübertritt. Aber irgendwie komme ich mir trotzdem blöd vor.

»Lass doch die Haare offen«, ruft Lulu entsetzt, als ich meiner Mähne mit einer großen Spange zu Leibe rücke.

»Ganz sicher nicht.«

Unseriöser geht’s ja wohl nicht, als mit wallenden rotbraunen Locken zu einem Geschäftstermin zu kommen. Bevor Lulu – die bereits Luft holt – zu einem Vortrag über Frisuren ansetzen kann, schnappe ich mir meine Handtasche und verlasse mit energischen Schritten das Haus. Wenn ich länger bleibe, geht es als Nächstes noch um mein dezentes Make-up. Lulu mit ihrem seltsamen Kleidungsstil ist vielleicht auch nicht die beste Adresse für Schönheitstipps, aber wenn ich ihr noch länger zuhöre, werde ich nur noch unsicherer.

 

Natürlich bin ich nun zu früh dran und fahre deshalb alle Umwege, die mir einfallen. Genug Zeit, um mir alle möglichen Gedanken zu machen. Was, wenn der Unternehmer nun glaubt, ich könne nicht zupacken, wenn er mich in dem schmalen Rock sieht? Vielleicht sollte ich die Haare doch offen tragen, um davon abzulenken? Wird der Schlossbesitzer überhaupt anwesend sein oder muss ich mich mit dem wortkargen Assistenten begnügen? Und wie ist wohl so jemand, der es sich leisten kann, ein altes Schlösschen zu kaufen? Hoffentlich ist er nicht dadurch reich geworden, indem er an allen Rechnungen so lange rumgemäkelt hat, bis er nur noch die Hälfte zahlen musste!

Unbemerkt bin ich bei dem Schlösschen angekommen, das Tor in der baufälligen Mauer steht weit offen. Ich lenke meinen Wagen hindurch und sofort fallen mir zwei Kastenwagen von ansässigen Handwerkern auf: ›Meisels Elektroinstallationen‹ parkt direkt neben ›Zimmermann Heinrich‹.

Ich grinse erleichtert. Offenbar hat der Käufer vor, sich gleich in seiner neuen Umgebung beliebt zu machen, indem er mit lokalen Betrieben zusammenarbeitet. Prima, da kann ja jetzt fast nichts mehr schiefgehen.

Beschwingt klettere ich aus dem Wagen und betrachte das Schlösschen interessiert. Der zweigeschossige Bau wirkt, als sei er direkt einem Märchen der Gebrüder Grimm entsprungen, schön romantisch mit zwei runden Türmchen an den Seiten. Zwar wirkt es etwas heruntergekommen, aber auf den ersten Blick scheint es nicht ernsthaft baufällig zu sein. Keine schlechte Wahl, wenn man es sich leisten kann. Ich straffe die Schultern und folge dem lauten Hämmern und Sägen ins Innere des Gebäudes.

Dort sind die Renovierungsarbeiten bereits in vollem Gange. Herr Meisel ist gerade dabei, schmale Schlitze in die Wände zu stemmen, ein ziemlich lautes und schmutziges Unterfangen. Die Staubwolken, die er dabei produziert, wirken fast wie Nebelschwaden. Ich winke dem Mann kurz zu und wage mich weiter in die hohe Eingangshalle hinein.

Nach zwei weiteren Schritten sehe ich ihn.

Er steht am Fuße einer kleinen Treppe und beugt sich mit dem Zimmermann über einen Plan.

Wobei mich der Handwerker überhaupt nicht interessiert.

Was mich gefangen nimmt, ist der Anblick eines Mannes, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Mit dem Unternehmer, den ich mir mit Lulu ausgemalt habe, hat er so gar nichts gemein, überhaupt wirkt er viel zu jung für einen zukünftigen Schlossherren. Dennoch strahlt er eine attraktive Präsenz aus, die mich nicht daran zweifeln lässt, dass ich es mit meinem Auftraggeber zu tun habe.

Ich bemerke eine Locke seines schwarzen Haares, die ihm lässig in die Stirn fällt. Er trägt schwarze Jeans und ein dunkles T-Shirt, was seine Figur aufs Interessanteste betont. Irgendwie scheint ihm der allgegenwärtige Staub nicht das Geringste anhaben zu können. Während ich noch wie eine Salzsäule erstarrt dastehe, hebt er den Kopf und ein Blick aus stahlblauen Augen trifft mich.

Wahrscheinlich stehe ich bereits endlos mit offenem Mund da und habe dabei Unmengen von Schmutz geschluckt. Was meinen strohtrockenen Hals erklären würde. Aber ich kann nicht aufhören, starre einen mir völlig fremden Mann an. Registriere jede Kleinigkeit von den sanft geschwungenen Augenbrauen über die aristokratische Nase bis hin zu dem markanten Kinn.

Mit einem lässigen Nicken verabschiedet er sich von dem Zimmermann und kommt unbeeindruckt von Lärm und Dreck auf mich zu. Ich spüre, wie meine Knie weich werden. Er bewegt sich wie ein Jäger, der seine Beute im Visier hat – mich?

Ganz nah vor mir bleibt er stehen, beugt sich zu mir und sagt dicht an meinem Ohr:

»Frau Warner? Ich bin Ian Hertensen. Lassen Sie uns doch nach oben gehen, dort ist es etwas ruhiger.«

Wow. Eine dunkle, aufregende Stimme. Mir ist sofort klar, dass dieser perfekte Mann der wortkarge Kerl ist, mit dem ich gestern telefoniert habe – aber wer wird denn so kleinlich sein? Ein gnädiges Schicksal hat mir einen umwerfenden Typen als zukünftigen Kunden beschert. Also grinse ich – hoffentlich nicht zu dämlich – und stolpere hinter ihm her.

»Sie erlauben, dass ich vorangehe?«

Oh ja! Im Moment würde ich so einiges erlauben!

Als er vor mir die Treppe hinaufsteigt, bewundere ich seine äußerst attraktive Kehrseite. Ich dachte, solch knackige Hintern bekäme unsereins nur in der neuesten Werbung für kalorienarme Erfrischungsgetränke zu sehen. Verzweifelt versuche ich die Vorstellung zu verdrängen, wie ich mit meinen Händen kräftig zupacke, seine harten Muskeln unter meinen Fingern spüre.

Im Obergeschoss angekommen stößt er eine Tür auf, die in einen dunklen Raum führt. Hoppla, was wird das denn? Mein Herz hämmert. Doch mit drei Schritten ist er beim Fenster und öffnet die Läden.

Ach so. Ich atme auf. Natürlich, das Fenster war verrammelt, er hatte nicht vor, mich in ein schummeriges Zimmer zu zerren … Bin ich nun erleichtert oder enttäuscht?!

Alice!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Der Auftrag! Nicht träumen!

So energisch, wie es mir im Augenblick möglich ist, folge ich ihm in das muffige Zimmer. Bis hierher sind die Handwerker wohl noch nicht vorgedrungen. Ich lege meine Handtasche auf einen wackeligen Tisch, hole mein Notizbuch hervor und trete neben Ian Hertensen ans Fenster. Seine Nähe löst ein angenehmes Prickeln in meinem Körper aus. Ich kann sein Aftershave riechen, ein angenehm herber, nicht zu aufdringlicher Geruch. Als ich vorsichtig zur Seite schiele, entdecke ich ein kleines Tattoo, das aussieht, als bewege sich der Kopf einer Schlange auf seinen Hals zu. Ob es unter seinem T-Shirt weitergeht?

Allein durch seine Anwesenheit scheint dieser Mann jeden sinnvollen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Wie soll ich mich bloß konzentrieren, solange wir so dicht beieinanderstehen? Mühsam wende ich meinen Blick von ihm und starre hinaus.

Der Garten! Wie erwartet sieht der kleine Park verwildert und vernachlässigt aus. Daran sollte ich denken und aufhören, mir zu überlegen, wie mein Kunde mit nacktem Oberkörper aussehen könnte. Deshalb bin ich schließlich hier, und das ist auch wirklich eine gute Idee.

»Ihr Garten macht auf den ersten Blick den Eindruck, als ob man sich hier nur mit einer Machete fortbewegen könnte«, beginne ich und vermeide es geflissentlich, meinen aufregenden Gesprächspartner noch mal anzusehen. »Aber Ihr kleiner Park hat ein großartiges Potenzial. Der alte Baumbestand muss unbedingt erhalten bleiben. Ebenso ist die Anlage der Gartenbereiche ganz klassisch, das passt auch am besten zu dem Schlösschen.«

Ich komme richtig in Schwung und erkläre alles ganz genau, spreche von einem Garten, der aussieht, als wäre er ganz natürlich so gewachsen, zähle die heimischen Pflanzen auf, die gut hierhin passen würden, und erwähne die empfehlenswerte Gartenausstattung. Irgendwann während meiner Ausführungen ist er vom Fenster zurückgetreten, was ich mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung zur Kenntnis genommen habe. Dennoch sehe ich weiter aus dem Fenster, richte meine ganze Aufmerksamkeit auf den Garten und zeichne abschließend mit wenigen Strichen den Entwurf eines kleinen Pavillons, der wunderbar zu dem Schlösschen passen würde, in mein Notizbuch.

Jetzt muss ich ihn wohl oder übel wieder ansehen. Ich reiße das Blatt heraus, drehe mich um und halte ihm meine Zeichnung hin.

Er mustert mich mit seinen wahnsinnig blauen Augen. Ist das ein spöttisches Lächeln? Ich schlucke, stehe hilflos mit ausgestreckter Hand da.

»Wann hatten Sie denn vor, mich nach meinen Vorstellungen zu fragen?«, erkundigt er sich, und seine Mundwinkel zucken.

Äh … Verflucht. Ich lasse meinen Arm sinken. Verloren stehe ich vor ihm, während seine leicht amüsierte Miene mit einem Mal einen strengen Ausdruck annimmt.

»Von meinen Geschäftspartnern erwarte ich, dass sie sich nach meinen Wünschen richten, sonst wäre so ein Treffen ziemlich unnötig, finden Sie nicht?«

»Ich dachte … also, ich …«

Reiß dich zusammen, Alice!

»Was haben Sie denn für Vorstellungen?«, frage ich tapfer.

»Vielleicht könnte man den alten Baumbestand erhalten?«

Ist das ein Spiel? Macht er sich über mich lustig?

»Das ist natürlich möglich«, erkläre ich, »allerdings müssen alle Bäume überprüft werden, ob sie nicht etwa morsche Äste enthalten, die schnell abbrechen und jemanden verletzen könnten.«

Er nickt, ganz so, als hätte ich das nicht schon mal erklärt. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Außer den Bäumen, welche Art von Bepflanzung schwebt Ihnen denn vor?«

Natürlich hätte er gerne heimische Pflanzen. Und am besten wäre, wenn alles ein bisschen so aussähe, als wäre es ganz natürlich so gewachsen.

Ich habe das alles schon einmal gesagt. Er weiß das. Ich weiß das. Aber irgendwie hält mich sein bohrender Blick davon ab, diese Tatsache zu erwähnen. Stattdessen frage ich höflich weiter.

»Könnten Sie sich vorstellen, einen Pavillon zu errichten? Vielleicht im hinteren Teil des Gartens?«

Just in diesem Moment fegt ein Windstoß durch das offene Fenster hinein und weht meine Skizze auf den Boden. Ich bücke mich, um den Zettel wieder einzusammeln.

»Heb’s auf!«

Ein knapper Befehl. Für den Bruchteil einer Sekunde halte ich in der bereits begonnenen Bewegung inne, zögere. Doch dann gehe ich in die Hocke und schnappe mir die Skizze.

Als ich mich wieder aufrichte, steht er direkt neben mir. Ich fühle mich wie ein Kaninchen vor einer Schlange. Seine Augen haben mit einem Mal die Farbe von dunklen Gebirgsseen, scheinen tief in mich hineinsehen zu können. Mein Herz schlägt bis zum Hals.

»Danke, Alice.«

Er nimmt mir den Zettel ab. Sieht mich weiter an. Ich habe das Gefühl, dass sich soeben etwas verändert hat, auf eine Art und Weise, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt.

Plötzlich tritt er einen Schritt zurück, entlässt mich aus seinem Blick.

»Machen Sie ein Angebot für den Garten, Frau Warner. In zwei Tagen, hier. Lorenzo wird sich bei Ihnen melden und einen Termin vereinbaren.«

Er dreht sich um und macht sich daran, die Fensterläden wieder zu schließen. Offenbar bin ich entlassen. Mein Kopf fühlt sich wie leergefegt an. Schnell schnappe ich meine Tasche und eile nach draußen.

 

***

 

Atemlos komme ich bei meinem Auto an. Ich habe das Gefühl, als hätte ich soeben einen Marathon hinter mich gebracht. Hastig zwänge ich mich hinter das Lenkrad, setze zurück und brause davon, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter mir her.

Was war das denn?

Wie kann so ein sexy Mann mit so einer Hammer-Ausstrahlung so ein Arsch sein?

O. k., ich habe mich auch blöd benommen. Nicht sehr professionell, sich vom äußeren Erscheinungsbild eines Kunden so irritieren zu lassen, dass man ihm ungefragt erklärt, wie sein Garten auszusehen hat.

Hätte ja aber gereicht, mich darauf hinzuweisen, anstatt mich die ganze Litanei noch mal aufsagen zu lassen, jeweils, nachdem ich höflich nach seinen Wünschen gefragt habe. Als wäre ich ein unartiges Schulmädchen, das im Unterricht nicht aufgepasst hat!

Wieso habe ich da bloß mitgespielt?