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Betty J. Viktoria

Poldi Band 1

Das geerbte Pferd


Für Péron, der seine wahre Seelenverwandte gefunden hat.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1.

Welches Mädchen träumt nicht von einem eigenen Pferd? Elina war eines der Mädchen, die sich schon lange eines wünschten. Ihr Zimmer war mit Postern und Pferdebildern geschmückt und sie besaß auch ein sehr hübsches Plüschpferd. Außerdem verschlang sie jedes Pferdebuch, das sie bekommen konnte. Doch ansonsten beschränkte sich ihr Wissen über diese wunderschönen Tiere vor allem auf die Theorie. Sie traute sich nicht, Reitstunden zu nehmen, obwohl ihre Eltern ihr diesen Vorschlag schon oft gemacht hatten. Es lag ja nicht daran, dass sie sich nicht in die Nähe der Pferde traute. Vielmehr waren es die anderen Mädchen, die sie einschüchterten. In ihrer Klasse gab es ein paar dieser jungen Reiterinnen und sie hielten sich für etwas ganz Besonderes. Für sie gab es auch kein anderes Thema, als ihre Lieblingspferde, die letzte Reitstunde und das nächste Vereinsturnier. Wie gerne hörte Elina diesen Gesprächen aus der hinteren Sitzreihe zu. Noch lieber hätte sie natürlich mitgeredet, aber sie gehörte einfach nicht dazu. Und so lag sie auch in diesen Sommerferien auf der Terrasse mit einem Pferdebuch, während sie davon träumte, selbst zu diesen mutigen und coolen Reiterinnen zu zählen. Die waren wahrscheinlich wieder den ganzen Tag im Stall und kümmerten sich um all diese eleganten Pferde, von denen sie immer sprachen. Man konnte es auch angeben nennen, schoss es Elina durch den Kopf. Manchmal übertrieben sie wirklich etwas. Außerdem behandelten sie die anderen Mädchen total herablassend. Wer kein Pferdemädchen war, war eben nicht gut genug für sie.

 

Weil ihre Eltern ein Immobilienbüro besaßen, waren sie viel unterwegs und kamen erst spät nach Hause. Eigentlich sollte Elinas älterer Bruder Miko sich ein bisschen um sie kümmern-vor allem in den Ferien. Doch der war viel lieber mit seinen Freunden und seinem neuen Auto unterwegs. Für Elina hatte er einfach keine Zeit und er war auch viel zu cool, als dass er ihr Babysitter sein konnte. Das war ihr aber auch ganz Recht, denn sie konnte schon ganz gut selbst auf sich aufpassen. Verhungert war sie bisher auch nicht und abends kochte ihre Mutter sowieso immer eine warme Mahlzeit.

 

So saßen sie auch an diesem Abend alle zusammen, doch Elina bemerkte, dass etwas anders war. Normalerweise fragten ihre Eltern sie, wie ihr Tag gewesen war. Sie berichteten von ihren Erlebnissen und machten sich ein bisschen über Miko lustig, wenn er nicht verraten wollte, was er gemacht hatte. Dann kam er sich geheimnisvoll vor, obwohl er meist einfach nur mit seinen Freunden herum hing. Außerdem bekam Elina selbst manchmal einen blöden Spruch von Miko ab, wenn er sie eine lahme Leseratte nannte. Doch dieser Abend war nicht, wie sonst. Es war viel ruhiger am Tisch. Elinas Eltern schwiegen und tauschten nur selten einen Blick aus. Danach, wie ihr Tag gewesen war, fragte niemand. Also erzählte sie auch nichts. Von Miko war das ohnehin nicht zu erwarten. Unsicher sah Elina ihren Bruder an, doch er reagierte nicht. Stattdessen schaufelte er sich weiter Unmengen an Essen auf seinen Teller.

 

Da es anscheinend sowieso niemand für wichtig hielt, sich zu unterhalten, wollte Elina nach dem Essen auf ihr Zimmer gehen. Doch so weit kam sie nicht. Kaum hatte sie ihren Teller in die Geschirrspülmaschine gestellt, räusperte sich ihr Vater.

„Setzt euch doch bitte noch einmal“, bat ihre Mutter sie und Miko, der auch schon an der Tür stand.

„Was denn noch?“, seufzte er genervt und gehorchte trotzdem. Auch Elina setzte sich neugierig wieder auf ihren Platz.

„Wir müssten euch noch etwas sagen“, begann ihre Mutter vorsichtig und warf hilfesuchende Blicke zu ihrem Mann. Da er jedoch nicht darauf einging, sprach sie weiter: „Erinnert ihr euch an eure Tante Hella?“

Elina wusste, wer das war. Hella war die Schwester ihres Vaters, doch sie hatte keine Ahnung, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Denn obwohl sie im gleichen Ort gewohnt hatte, waren sie sich nicht besonders häufig begegnet. Hin und wieder hatte sie sie im Supermarkt getroffen, doch mehr als eine beiläufige Begrüßung war eigentlich nicht dabei rüber gekommen. Miko behauptete, das läge daran, dass Tante Hella und ihr Vater sich nicht ausstehen konnten.

Während ihre Gedanken in ihrem Kopf um Tante Hella kreisten, fragte Miko: „Was ist denn jetzt mit Tante Hella?“

„Sie hatte einen schweren Autounfall und ist vor ein paar Stunden an den Verletzungen gestorben“, antwortete sein Vater mit Tränen in den Augen.

„Sie ist tot?“, hakte Elina ungläubig nach. Ihre Mutter nickte stumm.

„Einfach so?“, stammelte nun auch Miko betroffen. „Aber das kann doch nicht sein.“

„Leider schon“, seufzte sein Vater und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Nun stiegen auch Elina Tränen in die Augen und sie musste schlucken. Zwar hatte sie nicht besonders viel Zeit mit ihrer Tante verbracht, doch sie hatte sie immer gemocht. Außerdem war ihre Familie nicht sehr groß. Ihre Großeltern waren schon vor langer Zeit gestorben und es gab auch keine Cousins oder Cousinen. Jetzt, wo auch noch Tante Hella tot war, gab es genau genommen nur noch sie vier.

Selbst wenn es stimmte, dass ihr Vater sich nicht gut mit Tante Hella verstanden hatte, so sah er gerade unendlich traurig aus. Elina nahm sich ganz fest vor, sich nie so heftig mit Miko zu streiten, dass sie nicht mehr miteinander sprachen. Das musste er zwar nicht wissen, doch es war ihr in diesem Moment unglaublich wichtig.

 

„Wir müssen nun also eine Beerdigung organisieren und es könnte sein, dass uns das in nächster Zeit noch ziemlich mitnimmt“, erklärte Elinas Mutter.

Das verstand sie sehr gut, schließlich merkte sie ja selbst, wie traurig es sie machte, dass ihre einzige Tante nicht mehr lebte. Die ganze Zeit versuchte sie sich verzweifelt daran zu erinnern, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatte.

„Wenn ihr darüber reden wollt, könnt ihr immer zu uns kommen“, sagte Elinas Vater zu ihr und Miko.

„Das werden wir bestimmt“, versprach Miko ausnahmsweise mal ernst.

„Gut, dann gibt es noch etwas, worüber wir reden müssen“, verkündete ihre Mutter und sah Elina fest an.

„Tante Hella besitzt ein Pferd“, sagte sie langsam, als wählte sie jedes Wort mit Bedacht. „Und in ihrem Testament steht, dass du es erben sollst.“

Elina kniff sich unter dem Tisch mit der rechten Hand in den linken Arm. Sie sollte ein Pferd erben? Das konnte doch nicht wahr sein. Es musste ein Traum sein.

„Ich soll ein Pferd erben?“, wiederholte sie wie in Trance.

„Das ist zumindest Tante Hellas Wunsch“, erklärte ihr Vater.

„Geht das denn?“, wollte Miko neugierig wissen.

„Ja, ich denke schon“, murmelte seine Mutter. „Sie hat extra ein Konto eingerichtet, dessen Geld nur für die Stallmiete, den Schmied und alles, was dem Pferd zugutekommt, verwendet werden darf.“

Elina verstand zwar nicht viel davon, doch sie wusste, dass ein Pferd eine ziemlich teure Angelegenheit sein musste. Nicht einmal die eingebildeten Reiterinnen aus ihrer Klasse besaßen ein eigenes. Tante Hella hatte nie viel von ihrem Pferd erzählt. Vielleicht, weil sie gar nicht genau wusste, wie sehr Elina diese Tiere bewunderte. Aber sie hatte es ihr trotzdem vererbt. Was genau hatte das bloß zu bedeuten?

 

Miko hatte keine Lust mehr auf ein Gespräch über Pferde und verzog sich. Elina ahnte, dass auch ihn der Tod seiner Tante mitnahm, so dass er ein wenig Zeit für sich brauchte. Sie selbst setzte sich mit ihren Eltern ins Wohnzimmer und konnte noch immer nicht glauben, was gerade passierte.

„Wir haben mit der Stallbesitzerin gesprochen, bei der das Pferd steht“, erzählte ihr Vater gerade. „Es ist dort erst einmal versorgt, wird gefüttert und kommt regelmäßig auf die Wiese. Aber es soll natürlich auch geritten werden.“

„Ich kann gar nicht reiten“, stammelte Elina.

„Das wissen wir und deshalb haben wir einen Vorschlag an dich“, sagte ihre Mutter. „Es sind Sommerferien und du hast viel Zeit. Umgekehrt schaffen wir es im Moment nicht, uns auch noch um den Verkauf eines Pferdes zu kümmern.“

„Und außerdem gehört es auch dir“, warf ihr Vater ein und lächelte sanft.

„Die Stallbesitzerin hat angeboten, dir zu helfen und dir jeden Tag Reitunterricht zu geben, so dass du viel lernst. Wenn es dir gefällt, kannst du das Pferd behalten. Wenn du aber merkst, dass es nichts für dich ist, dann verkaufen wir es am Ende des Sommers“, sagte ihre Mutter in ihrem kalten Ton, den sie als Geschäftsfrau oft anschlug.

Dennoch fand Elina die Idee nur fair. So konnte sie es ausprobieren und herausfinden, ob sie wirklich dafür gemacht war, ein eigenes Pferd zu besitzen.

„Ich würde es gern versuchen“, sagte sie strahlend. Es klang einfach zu verlockend. Ihre Angst davor, zu versagen, war verschwunden. Tante Hella hatte es ihr zugetraut, für ihr Pferd zu sorgen, das ihr scheinbar sehr wichtig gewesen war. Da musste sie es einfach probieren.