Niklas Luhmann (1927-1998) war Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Liebe. Eine Übung (2008), Politische Soziologie (2010), Macht im System (2012) sowie Kontingenz und Recht. Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang (2013).

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für seine publizistische Arbeit wurde er 2012 mit dem Swift-Preis für Wirtschaftssatire und 2015 mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.

Niklas Luhmann

Der neue Chef

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Jürgen Kaube

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Veronika Luhmann-Schröder, Jürgen Kaube

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74474-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Der neue Chef

Spontane Ordnungsbildung

Unterwachung oder Die Kunst, Vorgesetzte zu lenken

Anmerkungen

Nachweise

Nachwort

Der neue Chef

Die bürokratische Verwaltung fordert im Prinzip einen unpersönlichen Arbeitsstil. Die Voraussetzung dafür schafft sie durch Garantie einer Verhaltensordnung, in der hohe Erwartungssicherheit herrscht. Der Alltag ist für den Beamten geregelt. Er kann seine Gefühle daher für sich behalten.

Aber es gibt Situationen, in denen diese Rechnung nicht aufgeht. Eine von ihnen tritt unvermeidlich von Zeit zu Zeit ein: Hin und wieder bekommt eine Behörde, eine Abteilung oder Gruppe einen neuen Chef. Der Wechsel des Vorgesetzten gehört zu den wenigen aufregenden Ereignissen im Verwaltungsalltag. Man fühlt die Nervosität auf den Fluren der Ministerien, wenn die Wahlresultate bekanntwerden und ein neues Regime in Aussicht steht. Dann setzt die Arbeit fast aus, weil niemand recht weiß, was zu erwarten ist, und man findet für eine Weile in Gerüchten eine Art Ersatzsicherheit. Wenn ein Abteilungsleiter ausscheidet, ist die Breitenwirkung geringer, aber auch hier wird ein besonderes Interesse lebendig. Nachfolgeprobleme sind bis in die untersten Ränge beliebter Gesprächsstoff. Auf allgemeine Anteilnahme kann zählen und Prestigegewinne ernten, wer im kritischen Moment mehr weiß als die anderen.

Mit der Ernennung des neuen Chefs sind die Probleme nicht etwa gelöst. Die Analyse ihrer Gründe und Hintergründe beschäftigt seine Umgebung noch lange. Dann steht man vor dem Problem der ersten Begegnung. Man hat das Gefühl: Der erste Eindruck entscheidet, und die Sozialpsychologie scheint das zu bestätigen.1 Es gilt, die richtige Mischung von Respekt und Offenherzigkeit, von Bescheidenheit und selbstverständlicher Erfahrungssicherheit, von Angebot und Zurückhaltung zu finden. Das ist um so heikler, wenn es zugleich notwendig ist, den neuen Chef von unten anzulernen.

Ähnliche Schwierigkeiten des Anfangens bestehen auf seiten des Chefs; nur daß seine Rolle es noch weniger erlaubt, sich eine Unsicherheit anmerken zu lassen. Auf ihn dringt eine Fülle von neuen Mitarbeitern ein, die noch keine persönlichen Gesichter haben, und deren Hintergedanken er nur vermuten, nicht erraten kann. Dazu kommt, daß die konzentrierte Aufmerksamkeit seiner Umgebung, ihr Interesse an Hinweisen für die Bildung fester Erwartungen, die Bedeutung erster Fehler vergrößert.

Wahrscheinlich wird weder der Vorgesetzte noch der Untergebene so leicht auf den Gedanken kommen, in dieser Situation bei der Wissenschaft Rat und Hilfe zu suchen. Die ihnen bekannten Wissenschaften ermutigen eine solche Anfrage nicht. Juristisch und organisationswissenschaftlich ist ein solcher Wechsel merkwürdig problemlos. Juristisch handelt es sich um die Entscheidung der dafür zuständigen Stelle, die gewisse feststehende Rechtsfolgen hat. Eine Verfeinerung und Ausarbeitung dieser Erkenntnis kann gewiß nicht sehr weit führen. Und die bisherige Organisationswissenschaft sieht in einem Personalwechsel, selbst im häufigen Personalwechsel, allenfalls Auswahlprobleme und Anlernkosten. Die emotionalen Probleme und Rückwirkungen, die Umstellungsschwierigkeiten der Mitarbeiter unterschätzt sie, weil sie davon ausgeht, daß eine unpersönliche, generalisierte Einstellung zur Rolle des anderen ausreichende Verhaltensgrundlage sei.2 Das ist auch der Grund, weshalb das Bürokratiemodell Max Webers solche Probleme nicht berücksichtigt.

Man wird jedoch die Frage aufwerfen müssen, ob diese generalisierte Einstellung lebensfähig ist und ob es für das Handeln in der Verwaltung genügt, für alle etwaigen Rechtsstreitigkeiten eine richtige Entscheidung zu wissen. An solchen Fragen kann eine Verwaltungswissenschaft, die mit dem konkreten Verhalten in der Verwaltungswirklichkeit Fühlung halten will, nicht vorübergehen. Der neue Chef ist ein Problem, das sich mit strukturbedingter Typizität laufend wiederholt, eines der wenigen Organisationsprobleme, dem mit Recht universelle Bedeutung beigemessen werden kann.3 Wenn der Begriffsrahmen der Verwaltungswissenschaft ein solches Problem nicht fassen und definieren kann, muß er erweitert werden.

I.

Jede soziale Ordnung kann funktional analysiert werden, wenn man ihre Stabilität als problematisch ansieht und nach den Leistungen fragt, die zu ihrem Aufbau und zu ihrer Erhaltung beitragen. Stabilität ist im sozialen Leben nur erreichbar, wenn das Verhalten der anderen Menschen voraussehbar ist, wenn also zuverlässige wechselseitige Verhaltenserwartungen durchweg erfüllt werden. Dazu wiederum gehört, daß diese Verhaltenserwartungen in verschiedener Hinsicht generalisiert sind: daß sie zu komplexen Typen mit verschiedenen Ausführungsmöglichkeiten zusammengefaßt sind, daß sie wiederholbar sind, daß sie Konsens finden und daß sie normativen Sinn erhalten und dadurch fortbestehen, auch wenn sie im Einzelfall faktisch enttäuscht werden. Generalisierte Verhaltenserwartungen solcher Art werden heute allgemein als Rollen bezeichnet.

Eine Sozialordnung besteht aus einer Vielzahl verschiedener Rollen, die einander voraussetzen, komplementär ergänzen, einander ausschließen oder miteinander unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten kombiniert werden. Formen des Rollenzusammenhanges, der Rollentrennung und des Rollenkonfliktes gehören zu den zentralen Ordnungsthemen des menschlichen Zusammenlebens. Die Gesichtspunkte, nach denen hier die strukturellen Grundentscheidungen fallen, differenzieren und definieren zugleich die Probleme, die in bestimmten Sozialordnungen beim Rollenwechsel auftreten. In diesem Sinne hängen auch die Schwierigkeiten beim Chefwechsel von der Struktur eines organisierten Arbeitszusammenhanges ab.

Primitive, relativ ungegliederte Sozialordnungen beruhen in hohem Maße auf sozial vorgeschriebenen und eingelebten Rollenkombinationen in je einer Person. Das Familienoberhaupt ist zugleich Produktionsleiter, Kriegschef, Vortänzer, Mitglied des Stammesrates und anderes mehr. Sein Nachfolger rückt in alle diese Rollen ein. Solche Ordnungen können daher Personen austauschen, ohne die soziale Rollenstruktur zu ändern.4 Die Verbindung der Rollen kann dann bis ins einzelne ausgearbeitet werden und wird von Generation zu Generation unbezweifelt überliefert. Dadurch, daß die Rollenkombination auf die Einheit einer Person abgestellt ist, kommt es zu der erstaunlichen Homogenität und Ähnlichkeit der Lebensgeschichten, die wir in jenen Sozialordnungen feststellen.

Solche Systeme können jedoch ein geringes Maß an Differenzierung nicht überschreiten. Die Aufnahmefähigkeit einer Person für verschiedene Rollen ist begrenzt. Sobald die Entwicklung zu spezielleren Rollen und damit zu größerer Differenzierung führt, müssen personale Rollenkombinationen zunehmend durch sachliche Rollenzusammenhänge ersetzt werden. Damit wird es mehr und mehr Zufall, welche Rollen in einer Person zusammentreffen. Sachliche Rollenkombinationen sind nur durchführbar bei hoher Trennbarkeit der Rollen, bei Trennung von Heim und Arbeit und Politik und Erholung. Diese Ordnung erfordert personale Beweglichkeit und ergibt unterschiedliche Karrieren mit mehr oder weniger zufälliger Rollenhäufung in jeder Person. Ein Konzernpräsident kann verheiratet oder unverheiratet, Tänzer oder Nichttänzer, Kirchenmitglied, Jäger usw. sein. Für das Zusammentreffen solcher Rollen in einer Person gibt es kaum noch soziale Regeln und für Rollenkonflikte keine sozial akzeptierten Lösungen mehr. Jede Nachfolge in eine Rolle bringt daher neue Kombinationen und neue Probleme mit sich. So ist in allen differenzierten Systemen mit hoher Rollentrennbarkeit der Rollenwechsel mit strukturellen Umstellungen verbunden: Man muß sich nicht nur an neue Menschen gewöhnen; auch die sozialen Zusammenhänge, die durch Personen vermittelt werden, ändern sich bei jedem Wechsel.

In formalen Organisationen kommt ein weiteres Moment hinzu, das diese Umstellung erschwert. Alle Organisationen, die kontinuierlich spezielle Zwecke verfolgen, bilden ein System offizieller, formal-legitimer Erwartungen aus. Diese Erwartungen, die namentlich die Zuständigkeiten der Ämter, bestimmte Kommunikationswege und gewisse Brauchbarkeitsbedingungen für Entscheidungen fixieren, beschreiben nicht etwa das tägliche Leben und Handeln in der Verwaltung. Sie geben nur ein gewisses Grundgerüst der Orientierung. Sie sind in hohem Maße expliziert, für Sprache und Schrift geeignet und bilden Ansatzpunkte für ausdrückliche Argumentationen und Rechtfertigungen. Sie zu akzeptieren ist Bedingung der Mitgliedschaft in der Organisation. Dadurch erhalten sie Prominenz und allgemeine Sichtbarkeit. Jeder kann im Verkehr mit anderen Mitgliedern der Organisation davon ausgehen, daß diese formalen Erwartungen geteilt werden. Sie dienen als »semantisches Bollwerk«.5 Man ist nicht angreifbar, wenn man sich auf sie beruft. Sie sind daher in besonderer Weise für die Öffentlichkeit oder auch für die Akten geeignet.

Eben deshalb liegen in der Verwendung einer formal regulierten Sprache spezifische taktische Vorteile und eine bestimmte Charakterisierung des Gesprächspartners. Die Situation wird öffentlich gemacht, der Partner unpersönlich als »jedermann« oder als möglicher Gegner behandelt. Das schließt jede Intimität aus. Mit Hilfe formaler Argumente, die eine unwiderlegbare Sicherheit haben, weil niemand ihnen die Anerkennung verweigert, kann man Situationen unterkühlen, unerwünschte Vertraulichkeiten dämpfen, auch mit Gegnern und Unbekannten flüssig verkehren und potentielle Feindschaft unangreifbar zum Ausdruck bringen. Auch vermeidet man auf diese Weise eine offizielle Kenntnisnahme von Dingen, die nur »unter Freunden« mitgeteilt werden können.

Diese Analyse lehrt zweierlei: Einmal wird deutlich, daß formale Erwartungen und Rollendefinitionen im Gesamtsystem einer Organisation eine spezifische Funktion haben und für sich allein nicht die volle Wirklichkeit wiedergeben. Eine Organisation kann nicht allein nach formalen Erwartungen leben. Zum anderen nehmen die formalen Erwartungen ein Monopol auf Legitimität in Anspruch und führen dadurch zu Ausdrucksschwierigkeiten für alle Erwartungen, die abweichen. Sie stellen ein widerspruchsfreies System konsistenten Zweckhandelns zur Schau. Was nicht hineinpaßt, muß sich verbergen oder doch in eine begrenzte Öffentlichkeit engeren Vertrauens zurückziehen.