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Margret Schwekendiek

Always: Für immer und einen Tag

Eorin #2 - Cassiopeiapress Fantasy





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Always – Für immer und einen Tag

Eorin - Band 2

von Margret Schwekendiek

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 960 Taschenbuchseiten.

 

Liebe und Hass liegen eng beieinander. Das muss auch Eorin erfahren, als sie versucht, ihren Mentor Darras von der verderblichen Macht des Schwertes zu befreien. Sie muss erkennen, dass das Böse vollständig Besitz von ihm ergriffen hat. Sie versucht, das Unheil zu mindern, denn niemand außer ihr besitzt genügend geistige Kraft. Dann treffen die Zwei wieder aufeinander, als Darras versucht, einen vermeintlichen Zauberer vor Gericht zu stellen. Sie wehrt sich, muss jedoch feststellen, dass ihre Gefühle ihr im Wege stehen. Es gelingt ihr nicht, Darras zu töten, ebensowenig, wie er ihr etwas antun kann. Doch wider Erwarten erhält sie Hilfe von einem Abgesandten des Hellen Tempels. Sie beschließt, Darras nicht mehr aus den Augen zu lassen und gründet ein eigenes Gemeinschaftshaus.

Immer wieder treffen die beiden aufeinander, Eorin stellt fest, dass sich Darras tatsächlich gegen die Dunkle Macht wehrt. Aus verschiedenen Gründen geht sie einen Vertrag mit ihm ein, weil sie hofft, ihn auf diese Weise zu befreien. Sie lernen den Zauberer Francis kennen, der als Bruder der Herrin Mortuin die dunkle Seite der Zauberei praktiziert und Eorin gern in seine Gewalt bringen möchte. Schließlich erklärt sich Mortuin, die Herrin des Hellen Tempels, bereit einzugreifen. Das Gleichgewicht der Macht muss ihrer Meinung nach erhalten werden, sie ist bereit sich zu opfern und bedenkt dabei nicht, dass auch sie nur ein Spielball dunkler Kräfte ist. In einem furiosen Kampf stehen plötzlich die Kräfte der Magiepriester auf dem Prüfstand, denn nur die stärkste Kraft kann überleben.

 

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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1. Kapitel

Es war laut in der Stadt. Lärm drang aus jedem noch so kleinen Winkel, aus Türritzen, Fensternischen, von Straßenecken und aus den Kehlen der Händler, Käufer und vieler Kinder, die fast nackt herumliefen und stahlen, was das Zeug hielt. Frauen mit geflochtenen Weidenkörben feilschten lautstark, Kaufleute hielten ihre Waren feil. Sinnverwirrende Eindrücke überschwemmten den Geist des Mädchens, fast schon der Frau, die staunend durch die Straßen und Gassen des Basars der Altstadt ging, den Umhang, der den schmalen Körper nur unzureichend vor der grimmigen Kälte schützte, eng vor der Brust zusammengezogen.

Die junge Frau war ich, Eorin, Tochter des Brianos, verbannt aus dem Hellen Tempel, doch ausgestattet mit allen Gaben und Fähigkeiten einer Magiepriesterin. Weit hatte mein Weg mich fortgeführt von der Sicherheit und Geborgenheit des Hellen Tempels. Weit fort auch von den schrecklichen Erlebnissen mit Darras, meinem Oberen und Mentor.

Doch meine Wanderung konnte nicht meine Gedanken und Schuldgefühle wegwischen. Noch immer wachte ich nachts schweißgebadet und schreiend auf, zitternd vor Angst und doch wissend, dass ich das Geschehene nicht ungeschehen machen und auch nicht verhindern konnte.

Ich war demütig und klein geworden auf meiner langen Reise. An vielen Stellen hatte ich das bösartige Wirken meines ehemaligen Mentors erkannt, der unter dem Einfluss der bösen Macht alle Widerwärtigkeiten ausführte, die ein Mensch nur ersinnen konnte. Ich hatte verdorrte Wälder gesehen, tote Seen und unfruchtbare Felder, Menschen, die gegen ihre Brüder und Schwestern kämpften, Tiere, die sich aus ruhigen und zahmen Hausgenossen in reißende Bestien verwandelt hatten, Pflanzen, die Fleisch fraßen und Berge, die Steinlawinen auf Unschuldige abluden.

Das alles hatte mein Herz geläutert. Ich hatte mit Müttern um ihre toten Kinder geweint, geflügelten Ungeheuern Feuer aus der Hand entgegengeworfen, verdorrtes Holz wieder zum Leben erweckt und vergiftetes Wasser gesäubert, um es wieder trinkbar zu machen.

Und doch, nichts von all diesen Gräueln hatte mich zu der Ansicht gebracht, dass Darras, mein über alles geliebter Lehrer, wirklich von Grund auf böse geworden war. Er stand völlig unter dem Einfluss des Bösen, aber ich war sicher, dass es eine Möglichkeit geben musste, ihn davon zu befreien. Nur wusste ich beim besten Willen nicht, wie das zu bewerkstelligen war.

Vorsichtig öffnete ich meinen Beutel und zählte die mir verbliebenen Geldstücke. Viel war es nicht, was ich besaß. Zwar hatte ich von Zeit zu Zeit als Lohn für geleistete Dienste kleinere Geldbeträge erhalten, doch das Leben war teuer. Nur selten gönnte ich mir daher eine warme Mahlzeit, meist bestand mein Essen aus Brot, manchmal getrocknetem Fisch oder Fleisch und billigem Bier, aber meist Wasser.

Skeptisch betrachtete ich die Auslagen der Händler, es war alles so unglaublich teuer hier. Und da inzwischen der Winter hereingebrochen war, hätte ich dringend einen wärmeren Umhang gebraucht. Doch wie es aussah, konnte ich froh sein, wenn ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen bezahlen konnte. Aber vielleicht konnte ich hier eine Möglichkeit finden, meinen mageren Geldbeutel wieder etwas aufzufüllen, indem ich meine Dienste verkaufte.

Lange Zeit war ich nun schon durch das Gewirr der kleinen Straßen und Gassen gelaufen, auf der Suche nach einem Gasthof, der aussah, als könnte ich ihn bezahlen. Ich war müde, hungrig, durstig und durchgefroren, als ich endlich an einer Straßenecke ein altes, abgeblättertes Schild sah. Die Buchstaben darauf waren verwittert und kaum noch zu lesen, doch mit viel gutem Willen konnte ich entziffern, dass es das Wirtshausschild für den „Roten Drachen“ darstellen sollte.

Es mochte Ewigkeiten her sein, dass dieses Haus gebaut worden war. Jetzt war es reichlich verfallen, die Fensterkreuze hingen windschief in den Rahmen, und nur noch Bruchstücke des Glases täuschten vor, dass dies einmal richtige Fenster gewesen waren. Die Eingangstür war morsch und fiel bald auseinander, aus den Fenstern drangen der Lärm von Betrunkenen und der Gestank von schalem Wein und verbranntem Fleisch, aber der „Drache“ machte auf mich den Eindruck, als könnte ich ihn mir gerade noch leisten.

Ich überwand also all meine Bedenken, nahm meinen Mut zusammen und trat ein.

Kaum wurden die Anwesenden meiner ansichtig, verstummte jedes Geräusch. Nur das Prasseln des großen Kaminfeuers und das Fett, das zischend von einem aufgespießten Hammel über den Flammen in das Feuer tropfte, waren noch zu hören. Ich tat, als würde ich nichts bemerken, ging äußerlich ruhig und gleichmütig zu einem Platz in der Nähe des Kamins und setzte mich. Die wohltuende Wärme des Feuers durchflutete meinen durchgefrorenen Körper, bis jeder Nerv kribbelte und schmerzhaft stach. Langsam nur nahmen die anwesenden Männer ihre Gespräche wieder auf. Ich bemerkte erst jetzt, dass es außer mir nur noch ein weibliches Wesen im Raum gab. Die Bedienung, eine schlampig gekleidete Frau, die früher sicher einmal hübsch gewesen war, warf mir scheue Blicke zu. Rotgelocktes, verfilztes, grau werdendes Haar bedeckte ihren Kopf, gekrönt von einer früher sicher einmal weißen Haube. Sie hantierte hinter der grob gezimmerten Theke, trocknete sich schließlich die Hände an ihrer schmierigen Schürze ab und kam auf mich zu. Sie musterte mich verächtlich und raffte sich schließlich zu der Frage auf:

„Was willst du?“

Ihre Stimme klang rau und mürrisch, doch ich hörte, dass sie einst schönere Töne gesprochen haben musste. Was mochte diese Frau dazu gebracht haben, sich in dieser schmuddeligen Absteige als Bedienung zu verdingen?

„Ein Bett für die Nacht, etwas zu essen und zu trinken; was willst du dafür?“, fragte ich absichtlich grob.

Abschätzig sah sie mich an. „Fünf Kupferstücke“, meinte sie dann.

Das brachte mich fast aus dem Gleichgewicht. Ein Wucherpreis für diese Bruchbude. Und doch, ich war hier nicht mehr auf dem Lande, wo ich oft sogar umsonst hatte übernachten können.

Widerwillig erklärte ich mich damit einverstanden.

„Zahlbar im Voraus“, erklärte die Holde.

Ich zählte aus meinem schmalen Beutel fünf Stücke heraus, sah mit Bedauern meinen kleinen Vorrat schwinden, und drückte der Frau das Geld in die Hand.

„Ich möchte jetzt sofort essen“, sagte ich.

Die Frau verstaute die klimpernden Kupferstücke in einer Tasche unter ihrer Schürze und schlurfte davon. Es dauerte eine Weile, doch dann kam sie mit einem groben Brett zurück, auf dem ein ordentliches Stück Fleisch lag, es tropfte von Fett und Bratensaft. Ein Stück Brot legte sie mir dazu, und ich machte mich heißhungrig darüber her.

Was machte es schon, dass das Fleisch zäh und ungewürzt war, und das Brot altbacken und grob? Für mich schien es in diesem Moment wie das beste aller möglichen Festessen. Und als mir dann auch noch ein Becher heißer Würzwein hingestellt wurde, den ich durstig austrank, wurde mir so wohl wie seit langem nicht mehr.

Müdigkeit und angenehme Wärme durchfluteten mich, ich wurde schläfrig, und mein Kopf sank mir auf die Brust.

Ich schreckte auf, als sich eine derbe Hand auf meine Schulter legte und mich grob schüttelte. Dabei klang eine grölende Stimme an mein Ohr.

„He, mein Täubchen! Wer wird denn hier alleine schlafen? Komm, ich begleite dich in dein Bett, mein Schätzchen. Du sollst deine Freude an mir haben!“

Lautstarkes, schmutziges Gelächter erklang aus vielen Kehlen zu diesen zotigen Worten. Ich sprang auf.

„Du kannst es ja mal wagen, mich anzufassen“, erklärte ich ihm freundlich. „Der Letzte, der so wie du dachte, wird nächste Woche als Mastschwein geschlachtet.“

Der widerliche Kerl fuhr zurück. In seinem Ohrläppchen baumelte ein großer goldener Ring, seine Bartstoppeln waren grau und von Fett, Fleisch und Wein verschmiert. Sein dicker, schwabbelnder Bauch wogte unruhig auf und ab, während er schnell das Zeichen gegen den bösen Blick machte.

„Ich brauche weder dich noch deinesgleichen in meinem Lager“, fuhr ich ruhig fort. „Das verbietet mir schon mein Magiergelübde. Außerdem, wer dich in seinem Bett duldet, der muss schon arm dran sein. Ich bin es nicht. Gute Nacht, Bürger“, wünschte ich spöttisch.

Dann richtete ich mich zu voller Größe auf, half magisch ein wenig nach, um imposanter auszusehen und ging zur Theke, um die Bedienung zu fragen, wo ich schlafen konnte. Der Wirt selbst kam herangewatschelt, verneigte sich in übertriebener Ehrfurcht vor mir und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Treppe.

„Hier herauf, Herrin, wenn ich bitten darf. Es ist mir eine Ehre, dass die Herrin in meiner bescheidenen Herberge absteigt. Ich wünsche der Herrin einen angenehmen Schlaf.“

Dieses Verhalten widerte mich an. Auch dass alle Männer furchtsam zurückwichen, gefiel mir nicht. Ich war hier keine Herrin. Ich hatte mir nur einen widerwärtigen Trunkenbold vom Leib halten wollen. Aufsehen wollte ich keines erregen.

Doch nun war es geschehen. Nun gut, damit konnte ich leben!

Ich schleppte mich die Stufen hoch, betrat das Zimmer und fiel, so wie ich war, auf das schmutzige Bett.

Es war mir in diesem Moment egal, welche Sorten von Ungeziefer der Wirt hier züchtete, ich war nur müde. Zum ersten Mal nach langer Zeit schlief ich in dieser Nacht traumlos.


*


Am nächsten Morgen erwachte ich noch vor der Dämmerung. Die Luft lag schwer und stickig im Raum. Taumelnd stand ich von meinem Lager auf und ging an das Fenster, eines der wenigen unzerstörten Relikte dieses Hauses. Hastig riss ich es auf und atmete tief die kühle, von Morgentau frische Luft ein. Langsam klärte sich mein benebelter Geist. Erst dann sah ich mich um. Was mir am Abend entgangen war, erschreckte mich jetzt. Mitten im Zimmer standen zwei weitere Betten, und dort lagen, schrecklich und abstoßend schnarchend, zwei Männer.

Wie kann er es wagen?, durchfuhr es mich empört, und ich meinte den Wirt. Doch gleich darauf schalt ich mich selbst. Ich hatte kein Zimmer für mich allein verlangt, nur einen Schlafplatz. Und den hatte ich bekommen. Hastig packte ich nun meine wenigen Habseligkeiten, die ich am Abend einfach hatte fallen lassen. Ich wollte nur noch fort von hier.

Alles widerte mich plötzlich an, der Schmutz, das Schnarchen, der Gestank. Leise ging ich die fürchterlich knarrende Treppe hinunter, durchquerte den Schankraum, der jetzt im fahlen Licht des anbrechenden Morgens einen abstoßenden Anblick bot, und verließ den „Roten Drachen“ durch die wurmstichige Vordertür, die schon lange nicht mehr abgeschlossen werden konnte.

Draußen empfing mich der junge Tag, von Ferne klangen vereinzelte Rufe herüber, die ersten Fensterläden wurden aufgeschlagen, irgendwo keifte eine Frau, ein Hund bellte laut und wütend, die ersten Karren rumpelten in die Stadt.

Ich lenkte meine Schritte stadteinwärts, dem großen Markt auf dem Vorplatz des Palastes zu. Dort hoffte ich, Neuigkeiten zu hören und vielleicht jemanden zu finden, der meine Dienste brauchen konnte.

Trotz der frühen Morgenstunde herrschte schon Gedränge auf dem großen Marktplatz. Früchte und Gemüse wurden ausgeladen, Vieh auf offener Straße geschlachtet, Feuer entfacht, um einen Hammel zu braten und stückweise zu verkaufen. Händler bauten wahre Türme aus Obst und Gemüse auf, eine Ölmühle knirschte und ein paar müde Gaukler jonglierten mit Keulen, was jedoch noch nicht so recht funktionieren wollte.

Der Duft frischen Brotes kitzelte mich in der Nase und brachte mich dazu, meinen geschrumpften Geldbeutel zu ziehen und meine verbliebene Barschaft noch einmal zu zählen. Ich musste etwas essen, also opferte ich noch eines der kostbaren Kupferstücke und erstand ein ofenfrisches, heißes Brot, von dem ich heißhungrig ein großes Stück abbrach, bevor ich es in meiner Tasche als Wegzehrung verstaute. Das Brot schmeckte wundervoll, und so ließ ich mich zufrieden von dem Menschenstrom durch die Menge treiben.

Das ging solange, bis etwas meine Aufmerksamkeit fesselte. Vier schwerbewaffnete Wächter in voller Rüstung bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge. Rücksichtslos stießen und schubsten sie die Leute beiseite. In ihrer Mitte führten sie einen gefesselten Mann mit sich. Ich blickte genauer hin. Trotz der Ketten, die schwer an ihm hingen, beugte sich der Mann nicht. Er war groß und schlank, blondes Haar hing ihm wirr in die Stirn, blaue Augen musterten die Leute abweisend. Dem Aussehen nach konnte es sich nur um einen der Hochländer handeln, die es hier in der Ebene selten gab. Und wenn einer kam, fiel er auf wie ein Hund mit zwei Köpfen. Die meisten Leute besaßen prachtvolles schwarzes Haar und dunkle Augen. Dieser hier fiel wirklich auf. Mit ruhigen Schritten ging er voran, als ginge ihn das alles gar nichts an. Dann begegneten sich unsere Augen. Mir war, als könne ich in diesem Blick ertrinken. Tief und durchdringend, aber leicht spöttisch, schaute er mich an, ich spürte eine Vertrautheit im Wesen, etwas Bekanntes, das ich nicht gleich einordnen konnte. Ich drängte mich näher, doch da wurde er unsanft vorangestoßen.

Ich wollte ihn nicht aus den Augen verlieren, er interessierte mich, denn er gehörte nicht zu den normalen Menschen. Es schien mir, als habe er ebenfalls eine magische Ausbildung erhalten und zöge mich nun unwiderstehlich an sich.

Ich kämpfte mich durch den Widerstand der Menge, immer hinter der Gruppe her, bis mir plötzlich zwei gekreuzte Hellebarden den Weg versperrten.

„Hier kommst du nicht weiter, Bürgerin“, schnarrte eine Stimme. Die Soldaten, die mich aufhielten, musterten mich, und einer leckte mit seiner Zunge über die Lippen.

„Wenn du dem Prozess beiwohnen willst, musst du ins Gerichtsgebäude gehen. Wenn du noch einen Platz findest“, meinte er spöttisch.

Ich war neugierig geworden und kümmerte mich nicht um die begehrlichen Blicke, die er mir zuwarf.

„Wessen ist der Mann denn angeklagt?“, wollte ich wissen. „Er sah mir nicht sehr schuldbewusst aus.“

Der Soldat lachte dreckig. „Wegen Zauberei! Bei dem Prozess wäre ich auch gern dabei. Aber ich habe Wache. Beeil dich, Bürgerin. Vielleicht bekommst du noch ein Plätzchen!“

Ich tat, wie er mir geheißen hatte, drängte mich durch die schwitzenden ungewaschenen Leiber, verschloss mich innerlich vor dem Gestank und stand doch kurz darauf eingekeilt zwischen den Menschen. Es ging nicht vor und nicht zurück. Verzweiflung erfasste mich. Ich musste zu diesem Prozess, koste es, was es wolle. Mir war, als hinge mein Leben davon ab.

Ich schob und schubste, drängte, bettelte und flehte. Es war zwecklos, ich kam nicht weiter. Vor Wut und Hilflosigkeit war ich den Tränen nah. Bis ich mich darauf besann, wer ich eigentlich war. Ich wob einen Zauber um all die Menschen um mich herum, und plötzlich war der Weg frei für mich. Ohne Schwierigkeiten kam ich durch, bis ich die erste Reihe und die Absperrung erreicht hatte.

Ich stand mit all den anderen in einem großen Saal. Etwas erhöht war ein Stuhl aufgestellt, rechts und links Wachen. An der rechten Seite stand der große blonde Mann, ebenfalls von Wachen eingerahmt. Links saßen sieben Männer, die sich bemühten, eindrucksvoll auszusehen, das mussten die Ehrenwerten Beisitzer sein.

Der Richter, für den der einzelne Stuhl bestimmt war, hatte das Gericht noch nicht betreten. Erwartungsvolle Stille herrschte ringsum. Der blonde Mann, dessen Namen ich nicht kannte, stand ungerührt zwischen seinen Wachen und schaute die Ehrenwerten Beisitzer scheinbar gelangweilt an.

Ich fragte mich, was diesen Mann so sicher machte. Es war eine schwere Anklage, die da gegen ihn erhoben wurde. Außer in den Gemeinschaften wurde Magie nirgends gern gesehen. Und Zauberei war in den Augen der einfachen Menschen Schwarze Magie, eine Beschwörung des Bösen. Ich sah das natürlich ein wenig anders, aber ich wusste ja auch mehr. Außerdem spürte ich von dem Mann keine bösartige Ausstrahlung.

Aber wie wollte ich ihm helfen? Gab ich mich zu erkennen, konnte es sein, dass auch ich angeklagt wurde, denn ich konnte nicht beweisen, dass ich zum Hellen Tempel gehörte.

Doch ich konnte nicht zulassen, dass ein Mensch, in dem ich eine geistige Verwandtschaft spürte, als Zauberer verurteilt wurde.

Was sollte ich nur tun?

In das Gesicht des Mannes trat gespannte Aufmerksamkeit. Er blickte zur Seite. Dort öffnete sich eine Tür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Und dort erschien eine mir absolut vertraute Gestalt. Mit Mühe unterdrückte ich einen Aufschrei. Das war doch - nein, wie konnte er - und doch, es war Darras.

Mein Lehrer und Mentor, mein Ausbilder und Freund - und mein größter Feind. Ich hatte nicht gewusst, dass er hier seine Herrschaft ausübte - ich war auf der Suche gewesen, ich wollte Ambrid erreichen. Nun, offenbar war ich angekommen, ohne es zu bemerken. Was wollte ich jetzt tun? Das war mir noch längst nicht klar.

Aber wie sah er aus? Nicht, dass sich in seinem Gesicht etwas verändert hatte. Nein, er sah ruhig und beherrscht aus, wie ich ihn kannte. Und doch, etwas schien anders.

Seine Augen waren es. Hatten sie früher oft spöttisch und amüsiert in die Welt geblickt, so war doch immer große Güte und Verständnis in ihnen zu lesen gewesen. Das war jetzt anders. Kalt und herrisch, brutal und böse musterte er die Menschenmenge. Jeder Laut verstummte. Dann fiel sein Blick auf den Angeklagten, und es schien mir, als trafen Feuer und Wasser aufeinander. Spöttisch und kühl schaute der blonde Mann auf Darras, in dessen Zügen sich plötzlich kalte Grausamkeit spiegelte. Mir lief es eisig über den Rücken.

Was war nur aus dem Mann geworden, der mich auf die ersten Schritte zur Priesterin geleitet hatte? Der mir mit Liebe und Respekt, Ironie und manchmal auch Grobheit beigebracht hatte, meine Kräfte sinnvoll zu nutzen? Ich erkannte ihn jetzt kaum wieder.

Wie konnte er so grausam gucken, fast als bereite es ihm Freude, einen Menschen zu zerstören.

„Er ist nicht er selbst“, sagte eine Stimme in meinem Innern.

Unwillkürlich nickte ich. Darras setzte sich auf den Richterstuhl. Jetzt erst bemerkte ich, dass er ganz und gar weltlich gekleidet war. Eine blaugoldene Robe umschloss den noch immer schlanken Körper, eine goldene Kette mit großen Gliedern und einem sicherlich wertvollen Edelstein zierte seine Brust. Hatte er der Gemeinschaft und ihren Zielen wirklich völlig entsagt?

War er ganz und gar abtrünnig geworden? Und was war jetzt meine Aufgabe?

Musste ich ihn töten, um das Böse zu besiegen?

Meine Knie gaben nach, und mit verzweifelter Anstrengung hielt ich mich aufrecht. Dann begann er zu sprechen, und mein Herz schien zu zerspringen. Noch immer war seine Stimme volltönend und kräftig, beherrschend und bezwingend. Den bösartigen Unterton bemerkte ich erst nach einiger Zeit.

„Du bist hier der Zauberei angeklagt“, wandte er sich zu dem blonden Mann. „Wie ist dein Name?“

„Ich bin Lymore, aus dem Geschlecht der Thysander. Und ich bin kein Zauberer“, entgegnete der Angeklagte mit einem spöttischen Unterton, aber sehr bestimmt.

„Darüber wird das Gericht heute zu befinden haben“, sagte Darras kalt.

Ich lauschte Lymores Stimme nach. Genauso hatte auch mein Mentor mich einst gefesselt, mit einem Klang, der bezwang und betörte. Wieder fragte ich mich, welche Ausbildung der Fremde haben mochte. Fast verpasste ich die nächste Frage von Darras.

„Wer spricht für diesen Mann? Wer übernimmt seine Verteidigung?“

Niemand rührte sich. Keiner hob seine Hand oder trat vor. Lähmende Stille herrschte. Darras blickte fragend in die Runde. Sein Blick blieb an dem einen oder anderen hängen, aber die Betreffenden schienen unter dem gestrengen Blick immer kleiner zu werden.

„Ist da niemand, der für diesen Mann spricht?“, fragte mein ehemaliger Mentor noch einmal.

Ich weiß nicht, welcher böse Geist mich in diesem Moment ritt, doch ich hob mit einem Ruck die Hand.

„Ich! Ich spreche für diesen Mann!“, rief ich laut aus.

Der Kopf von Darras fuhr herum. Erstaunen, Erschrecken, Ungläubigkeit, ich weiß nicht genau, welche Empfindungen sich für einen Augenblick in seinem Gesicht zeigten. Doch dann riss er sich zusammen, und setzte wieder seine gewohnt gleichgültige Miene auf.

„Tritt vor und erkläre dich!“, forderte er mich auf.

Geschwind kletterte ich über die Absperrung, die aus straff gespannten Seilen bestand, und stellte mich vor Darras auf. Er zeigte kein Zeichen von Wiedererkennen, er verbarg es perfekt.

„Ich bin Eorin von Delkagon, Tochter des Brianos, Priesterin des Hellen Tempels auf Wanderschaft“, erklärte ich geradeheraus.

Jetzt blickte er mich doch voll an, ein Anflug von Schrecken glitt über seine Züge, die ich so gut kannte wie wohl niemand sonst.

„Und was hast du mit diesem Mann zu schaffen?“, fragte er nach einer Weile.

„Nichts, Herr, ich kenne ihn nicht einmal. Aber ich glaube nicht, dass er ein Zauberer ist.“

Spott malte sich in den Gesichtern der Umstehenden. Auch Lymore sah mich an, aber sein Blick drückte plötzlich Angst aus.

Wovor hatte er auf einmal Angst?

Um seinen Kopf, um den es hier ging? Der war auch verloren, wenn ich ihn nicht verteidigte. Unverwandt ruhten seine Augen auf mir, und mit einem Mal verstand ich. Er hatte Angst um mich! Warum?

Kannte er Darras so gut, dass er für mich fürchten musste? Ich straffte meine Schultern. Ich kannte meinen Mentor, meinen ehemaligen Mentor. Auch jetzt noch war ich sicher, dass ich nichts von ihm zu befürchten hatte. Er hatte mich doch auch nicht getötet, als er die Möglichkeit dazu hatte.

Darras stand nun auf und ging ein paar Schritte hin und her, als habe er scharf zu überlegen. Dann wandte er sich mir mit einem Ruck zu und überraschte mich mit seinen Worten.

„Wenn eine Priesterin des Hellen Tempels für den Angeklagten spricht, dann bin ich gezwungen, ihr zu glauben, denn ihre Macht und ihr Wissen sind größer als das eines normalen Menschen. Auch wenn ich mich nicht als normalen Menschen bezeichnen will, so bleibt es doch als Tatsache bestehen, dass eine Priesterin als Bürge auftritt für diesen Mann, etwas, das ich nicht ignorieren kann. Lymore, ich weise die Anklage ohne weitere Beweisführung ab, du bist frei und kannst gehen, wohin du willst. Dich, Priesterin, bitte ich, mir einige Augenblicke deiner kostbaren Zeit zu schenken. Ich würde gern mit dir einige Worte reden.“

Trotz dieser scheinbar freundlichen Worte gefror mir das Blut in den Adern. Was wollte er von mir? Gab es keinen Ausweg für mich? Ich wollte nicht allein mit ihm reden. Nicht mehr mit ihm allein sein - seit damals.

Ruhig und gesittet verließen die Menschen den Saal, obwohl einige enttäuscht wirkten. Die Wachen befreiten Lymore von seinen Ketten. Er rieb sich die geschundenen Gelenke und kam auf mich zu.

„Herrin“, sagte er mit einer Verbeugung, „deine Hilfe war unnötig, wenn auch liebevoll gedacht. Du hast dich damit selbst in Gefahr gebracht. Aber ich will und muss mit dir reden und dir auch danken. Ich werde drei Tage auf dich warten. Vor der Stadt, bei dem kleinen Tempel. Bleib stark.“

Seine blauen Augen schienen mich zu durchdringen, wieder hätte ich darin versinken mögen. Sie gaben mir eine seltsame Kraft, gestärkt richtete ich mich erneut auf.

Darras stand noch immer vor seinem Stuhl, betrachtete mich wie ein seltenes Insekt und wartete, bis der Saal fast völlig leer war.

„Hier können wir nicht reden. Komm mit!“, befahl er, und ich folgte widerspruchslos. Er führte mich, von Wachen eskortiert, über den Vorplatz des Palastes in den Palast hinein. Durch hohe, kunstvoll eingerichtete Räume ging es, über spiegelnden Steinfußboden und durch feingeschnitzte Türen kamen wir endlich in einen großen vollkommen runden Raum. Vier Bogenfenster, bespannt mit fein gewirkten Tüchern, spendeten ein mildes Licht. Ein Springbrunnen in der Mitte plätscherte, Sitzkissen auf kleinen Podesten an den Wänden luden zum Ruhen ein. Die Wachen blieben draußen vor der Tür stehen, Darras und ich waren allein. Er bot mir mit einer Handbewegung einen Platz an, doch ich war auf der Hut und trat an eines der Fenster. Leises Lachen von Darras schreckte mich aus meinen Gedanken.

„Du hast wieder einmal gehandelt, ohne nachzudenken, Eorin. Habe ich dir das nicht oft genug gepredigt?“, fragte er mit dem leichten Sarkasmus, der mich in früheren Tagen schon oft zur Weißglut getrieben hatte. Auch diesmal verfehlte der Tonfall seinen Zweck nicht, obwohl ich mir vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben.

„Sollte ich den Mann deiner Willkür überlassen?“, sprudelte ich heraus.

Darras lachte schon wieder, oder noch immer. „Ich hätte ihm ohnehin nichts tun können. Die Zeugen waren nur tölpelhafte und unwissende Bauern. Es gab keinen Beweis für Zauberei. Aber man muss dem Volk ab und zu ein Schauspiel bieten.“

Mutlos ließ ich die Schultern hängen. Ich hatte mich wieder einmal lächerlich gemacht, hatte mich damit selbst in die Gewalt des Menschen gegeben, der vom Bösen beherrscht war und mit seinen Untaten die Welt überzog wie ein Sturmwind. Ich war nicht vorbereitet auf eine Konfrontation mit Darras, wahrscheinlich würde ich es nie sein.

Also gut, jetzt oder irgendwann, ich konnte ihm doch nichts tun.

Leise trat er neben mich, bot mir in einer Schale Konfekt an. Ich rührte mich nicht.

„Hast du Angst, ich wollte dich vergiften?“, spottete er.

Ich fuhr auf und wusste im gleichen Augenblick, dass das wieder ein Fehler war.

„Kind, du wirst dich nie ändern. Den Göttern sei Dank“, lachte mein ehemaliger Mentor.

Ich sah eine Chance. Beschwörend blickte ich ihn an, legte all meine Kraft in diesen Blick.

„Kehr um, Darras“, bat ich. „Schwöre dem Bösen ab, leg das Schwert nieder, und komm zurück in die Gemeinschaft. Dies Leben hier ist nichts für dich. Komm mit mir zurück!“

Darras wich meinem Blick nicht aus, er hielt ihm stand. Doch meine Worte prallten von ihm ab wie Regentropfen vom Glas. Lange schaute er mich an, liebevoll, traurig und doch abweisend.

„Ich kann nicht, Kind. Ich kann einfach nicht.“ Er lachte einmal auf, kurz, bitter, böse. „Wie einfach das aus deinem Mund klingt. Komm mit zurück! Ich bin gebunden, gefesselt durch etwas, das stärker ist als ein Eid. Gefangen in den Banden des Bösen. Glaube mir, Eorin, ich habe das nicht gewollt. Lange Zeit dachte ich, ich hätte alles unter Kontrolle, könnte das Böse beherrschen und zurückdrängen. Doch da hatte es mich längst gefangen und getäuscht. Es gibt keinen Ausweg für mich. Es sei denn, jemand zerstört das Schwert. Aber wer könnte das schon schaffen?“ Seine Stimme klang wie ein Schluchzen und schnitt mir ins Herz. Ich wollte ihn trösten, ihm sagen, dass ich alles für ihn tun würde, doch die Worte blieben mir im Halse stecken.

Was konnte ich schon tun? Darras war nicht mehr Herr seiner Entschlüsse. Und wie sollte ich es schaffen, das verhängnisvolle Schwert zu zerstören? Ich wusste nicht, wie ich das tun sollte. Und anders konnte Darras nicht befreit werden. Tränen stiegen mir in die Augen.

„Das können die Götter nicht gewollt haben. Verdammt, es gab keinen besseren Oberen, keinen verständnisvolleren Mentor und keinen stärkeren Adepten als dich. Es muss doch eine Möglichkeit geben, dich von diesem Fluch zu befreien“, stöhnte ich auf. Hilflos hämmerte ich mit den Fäusten gegen die Wand. „Das Böse kann dich doch nicht ganz im Griff haben. Du hast mich nicht getötet, obwohl du es konntest.“

„Nein, Kind“, sagte er und legte mir schwer die Hand auf die Schulter. „Niemals könnte ich dir etwas tun. Es würde auf mich zurückschlagen, weißt du das nicht?“

Erstaunt und verwundert starrte ich ihn an, schüttelte schließlich wie in Trance den Kopf.

„Ich bin so eng mit dir verbunden, wie noch nie zwei Menschen zuvor. Ich warne dich, auch du kannst mich nicht einfach töten.“

Sollte das eine gutgemeinte Warnung sein, oder wollte er mich davon abhalten, ein Duell mit ihm zu beginnen? Dabei wusste ich gar nicht, ob ich ein Duell mit ihm wollte. Wie würde das ausgehen? Es konnte nur mit dem Tod enden, und ich zweifelte plötzlich nicht mehr daran, dass es der Tod für uns beide sein würde.

Hatte ich Angst vor dem Tod? Ich weiß es nicht. Ich wusste nur, dass ich nicht gegen Darras kämpfen wollte. Es wäre, als träte ich gegen mich selbst, oder eher noch gegen meinen Vater an.

Das konnte ich nicht! Nein, nicht noch einmal, schrie es in mir.

„Ich muss gehen“, sagte ich zu Darras.

„Nein, geh nicht“, bat er plötzlich. „Gib mir deine Kraft, dann kann ich es vielleicht schaffen, mich gegen das Böse zu wehren.“

Ich überlegte krampfhaft.

„Tu es nicht“, riet eine Stimme in mir. „Er wird dich mit hineinziehen in den Bann der Vernichtung. Dann haben die Menschen gar keine Möglichkeit mehr, sich zu wehren. Tu es nicht!“

Widerwillig hörte ich auf diese Stimme.

„Sag nichts“, sagte Darras. „Du kannst nicht bleiben, wenn du dich nicht zum Kampf stellen willst, ist es so? Ich verstehe dich, und es tut mir leid.“ Er senkte den Kopf.

Ich trat näher an ihn heran. „Kämpfe dagegen an“, beschwor ich ihn noch einmal. „Werde wieder zu dem, was du einmal warst, zu dem Menschen, den ich geliebt und dem ich vertraut habe. Darras, komm zurück in die Gemeinschaft!“

Er riss mich plötzlich in seine Arme, drückte mir einen heftigen Kuss auf die Lippen und starrte mich dann an. Sein Gesicht war so dicht vor mir, dass ich jede kleine Falte erkennen konnte, aber auch seine gequälten Augen, in denen sich seine ganze Angst zeigte. Für einen kurzen Augenblick war er der Alte. Doch dann erschien wieder der grausame Ausdruck, ein satanisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Nein, du nicht, Eorin. Du wirst nie dieser Macht verfallen. Trotz deiner Weichheit, deiner Impulsivität und deines vorschnellen Handelns. Und eines Tages, Eorin, werden wir uns gegenüberstehen, als Feinde. Wir werden kämpfen, mein Kind, und wir werden beide untergehen, wenn du es nicht schaffst, das zu zerstören, was zwischen uns steht. Doch bis dahin lass uns, zumindest manchmal, einen Waffenstillstand schließen.“

Ich war völlig überrumpelt. Niemals hatte mein Mentor in mir die Frau gesehen, das war vollkommen unmöglich. Noch schmeckte ich den Kuss auf meinen Lippen, sickerten seine Worte langsam in mein Bewusstsein, als er mich abrupt losließ. Ich taumelte und wäre fast gefallen.

„Geh jetzt, Eorin, geh. Es tut mir weh, deine Nähe zu spüren und doch nicht bei dir sein zu können. Kehre zurück in den Hellen Tempel und beschließe dort deine Tage. Vergiss mich!“

„Das kann ich nicht“, stieß ich hervor. „Wie sollte ich vergessen, was du der Natur und den Menschen antust. Du, der mich die Achtung vor jedem Lebewesen gelehrt hat, zerstörst heute Seen, Flüsse, Wälder und Felder. Du hetzt die Menschen gegeneinander auf, lässt Bruder gegen Schwester und Mann gegen Frau kämpfen. Du bringst das Chaos in die Welt der Menschen. Wie sollte ich sicher und geborgen im Hellen Tempel sein und dich vergessen?“

Seine Augen nahmen einen harten Ausdruck an. „Das werde ich nicht ändern können und du auch nicht. Also geh, bevor es mir leid tut. Ich weiß nicht, was ich dann mit dir mache.“

Ich gab es für diesmal auf. Allein mit Worten konnte ich ihn nicht überzeugen. Mutlos ließ ich die Schultern hängen und wandte mich zum Ausgang.

Zwei Wachen brachten mich aus dem Palast. Draußen auf dem Vorplatz holte ich tief Luft. Es stank noch immer, der Lärm war noch immer schrecklich, aber ich lebte. So schnell ich konnte, verließ ich die Stadt.

Jemand wartete auf mich.


*


Lymore lag im Gras, kaute an einem Halm und schaute gedankenverloren den Wolken nach, die sich im Licht der untergehenden Sonne rötlich gefärbt hatten. Als er mich kommen sah, sprang er auf.

„Das ging aber schnell, Herrin. Es war also nicht der Kampf, wie ich befürchtet hatte?“

Ich ließ mich niedersinken. Ich würde diese Hochländer nie verstehen. Hatte er hier nicht gefroren? Wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, würde ich mich sicher nicht niedersetzen.

Lymore schien eine praktische Ader zu besitzen. Mit wenigen Handgriffen hatte er Reisig und Holzstückchen gesammelt und zu einem Häufchen geschichtet. Feuerstein sprühte auf, Funken stoben, und erste Flämmchen fraßen sich in die trockenen Reiser, bildeten einen kleinen Glutherd und leckten begierig am Holz. Aus seinem Rucksack holte Lymore einen Kessel, füllte ihn aus dem Bach, der am Tempel vorbeifloss und hängte ihn an Stöcken über das Feuer. Als das Wasser heiß wurde, warf er ein paar Kräuter hinein, und bald verbreitete sich ein aromatischer Duft, der meine Lebensgeister weckte.

Lymore hatte bis dahin noch kein Wort gesprochen. Er füllte zwei Becher mit dem Gebräu, gab mir einen davon und wartete.

Ich trank. Belebend rann die heiße Flüssigkeit durch meine Kehle, wärmte den ganzen Körper und ließ mich endlich wieder klar denken.

„Woher hast du all das gewusst?“, fragte ich schließlich.

Blaue Augen musterten mich. „Kannst du es dir nicht denken, Herrin?“, fragte er dann. Seine Stimme klang wie ein Streicheln, doch ich wehrte mich dagegen.

„Nenne mich nicht Herrin. Ich habe kein Recht darauf“, sagte ich unwillig. „Denken kann ich mir viel, aber ich habe dir eine Frage gestellt. Würdest du die Freundlichkeit besitzen, mir darauf zu antworten?“, forderte ich.

Lymore lachte leise, ich fühlte mich an Darras erinnert, wollte aber nicht an ihn erinnert werden. Es tat so weh.

„Lach nicht“, fuhr ich ihn an.

„Verzeih, Herrin. Ich bin natürlich aus dem Hellen Tempel. Die Herrin Mortuin will wissen, wie es dir geht.“

Ich war verblüfft. Stand mir so viel Fürsorge zu, nachdem ich so schmählich versagt hatte?

„Dann bestell der Herrin, es geht mir gut“, sagte ich mühsam.

Lymore lachte schon wieder. „Das geht nicht. Ich soll dich einige Zeit begleiten.“

Das konnte doch nicht wahr sein. Ich fuhr auf. „O nein, das kommt gar nicht in Frage. Ich gehe meinen Weg allein. Und ich werde meinen Kampf allein kämpfen, wenn es an der Zeit ist. Kehr heim“, sagte ich.

Wieder lagen seine blauen Augen auf mir, und ich kämpfte gegen das Verlangen, mich darin zu versenken und zu entspannen. Es war jetzt nicht an der Zeit Ruhe zu finden. Ich hatte noch so viel zu tun. Doch da war auch noch seine beruhigende, sanfte Stimme, die mich einlullte. Es war fast unmöglich, dagegen aufzubegehren. Und was sollte es auch? Er kam von der Herrin, er sollte doch helfen, unterstützen. Was konnte daran falsch sein? Ich hatte an diesem Tag schon mehr mitgemacht, als gut für mich war. Ich war nur müde, wollte schlafen, mich ausruhen.

„Sag mir noch eins“, bat ich erschöpft. „War es vorgesehen, dass du mich triffst, oder solltest du im Hintergrund bleiben und beobachten?“

Wieder das leise Lachen, es beruhigte mich merkwürdigerweise.

„Ein schöner Gedanke, Herrin. Es lag in meinem Ermessen. Jetzt ließ sich meine Anwesenheit nicht mehr vertuschen, weil mich ein paar abergläubische Bauern beobachtet hatten, als ich auf magische Weise Feuer machte. Ich wollte dich nicht zwingen, dich deinem Feind zu erkennen zu geben, Herrin. Es tut mir leid.“

„Er ist nicht mein Feind“, erklärte ich langsam. „Aber das verstehst du vielleicht nicht. Ich bin eigentlich froh, mit ihm gesprochen zu haben. Obwohl es sehr schwer war. Aber ja, ich glaube, es war gut so. Ich würde jetzt gern ein wenig schlafen. Ich bin so müde...“

Ich hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da fielen mir die Augen zu. Ich spürte noch undeutlich, dass Lymore mich in eine warme Decke hüllte, dann wusste ich nichts mehr.


*


Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Stets begleitete mich Lymore, er kochte morgens als erster Tee, legte abends als letzter Holzscheite auf, wenn wir Rast für die Nacht einlegten. Nie beschwerte er sich über die Länge meines Weges, nie klagte er, wenn wir nur wenig zu essen hatten. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt ein Mensch war. Er schien nur wenig Schlaf zu brauchen, fand immer ein wenig Holz und besaß einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Kräutern und Tees, die er mir immer wieder gab. Eine seltsame Hilfe war das, die die Herrin Mortuin mir da geschickt hatte.

Lymore hatte auch nie schlechte Laune, stets waren seine leuchtenden blauen Augen fröhlich und aufgeschlossen, beruhigte mich seine seidenweiche Stimme, wenn ich müde und erschöpft war.

Einige Zeit, nachdem wir zusammengetroffen waren, erklärte ich ihm, dass wir einen Ort finden müssten, an dem wir meinen schmalen Geldbeutel durch irgendeine Arbeit wieder etwas auffüllen konnten. Wortlos packte er das Nachtlager zusammen, das aus zwei wärmenden Decken, einem Wasserkessel und zwei Bechern bestand und erklärte sich bereit für den Aufbruch.

Wir wanderten fast den ganzen Tag, bis wir gegen Abend ein Gehöft fanden. Lymore fragte im Hause, und wir durften im Heuschober übernachten. Wir erhielten frische Milch und altbackenes Brot zum Frühstück, doch dann mussten wir weiter.

Auf den Gräsern lag der erste weiße Frost, unsere Atemwölkchen standen lange als dichte Nebelgebilde in der Luft, und ich zog meinen dünnen Umhang fester um meinen Körper. Vor uns lag ein weiterer Tag Wanderschaft, eigentlich ohne Sinn, wie mir manchmal schien. Und doch hatte ich keine Möglichkeit, heimzukehren in den Hellen Tempel oder in die Geborgenheit der Gemeinschaft. So lange nicht, bis ich das Böse endlich besiegt hatte. Und wie an jedem anderen Tag würde sich keine Möglichkeit ergeben, das Böse auszurotten, ich konnte wieder einmal nur die Symptome lindern.

Langsam veränderte sich die Gegend um uns herum, wurden die Bäume spärlicher und weniger belaubt. Fast kahl sahen sie aus, obwohl es noch mitten im Herbst war und allgemein das Farbenspiel verwirrend schön. Doch hier reckten die Äste sich kahl in den Himmel, anklagend hoben sie wie mahnende Finger die leeren Zweige empor, und ich schüttelte mich. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich, fast, als könnte ich das Böse, das hier am Werke war, greifen. Zögernd suchte ich Lymores Blick. Ernst schaute er zurück.

„Herrin, hier geht etwas Schreckliches vor. Wir sollten es untersuchen.“

Damit sprach er mir aus der Seele. Doch wo sollten wir anfangen?

In unserer unmittelbaren Umgebung bebte plötzlich der Boden. Haltsuchend klammerte ich mich an Lymore fest. Sein starker muskulöser Arm gab mir Kraft, strahlte eine feste Sicherheit auf mich aus.

Ein Donnerschlag dröhnte durch die kühle Luft, die hier merkwürdig roch, wie faulende, absterbende Bäume. Modriges Brackwasser stand in einem kleinen Tümpel, glitschiges Moos bedeckte den Boden.

Auf einer kleinen Anhöhe stand eine halb verfallene Hütte, aus der plötzlich ein greller Blitz in den Himmel hineinschoss. Sprachlos starrte ich auf dieses Phänomen. Automatisch versuchte ich, mit meinen Gedanken die Person zu sondieren, die sich zweifellos in der Hütte aufhalten musste. Es waren bekannte Mentalimpulse, die ich auffing, doch ich konnte auf Anhieb nicht sagen, wem sie gehörten. Langsam ging ich näher, Lymore dicht an meiner Seite. Ich fasste ihn am Arm.

„Du bleibst hier, das ist meine Sache“, sagte ich.

„Ich begleite dich überall hin, Herrin“, widersprach er.

„Du wirst hierbleiben. Und wenn mir etwas passieren sollte, kehrst du zurück zur Herrin Mortuin. Sie soll dann wissen, dass ich alles getan habe, um meine Schande auszulöschen“, befahl ich.

„Du gehst nicht allein“, sagte die sanfte Stimme Lymores mit einem Unterton, der mich frieren machte. Unbeugsame Härte sprach daraus, eiserne Entschlossenheit und - unverhüllte Sorge um mich. Dabei wusste ich mittlerweile längst, dass er nicht annähernd so viel Kraft besaß, wie er andere gern glauben machen wollte. Doch allein die Illusion von Stärke war manchmal schon hilfreich.

„Verdammt“, schimpfte ich wütend. „Wärst du doch da geblieben, wo du hergekommen bist. Ich will dich nicht dabei haben. Ob es dir passt oder nicht.“

Lymore fasste mit eisernem Griff meinen Arm und hielt mich zurück. Ein leises Lachen erklang.

„Tut mir leid, Herrin. Du wirst mich nicht los. Wir werden zusammen gehen oder gar nicht. Ich kann dich nicht allein lassen“, erklärte er.

Mit einem heftigen Ruck befreite ich meinen Arm, baute ein Schutzschild auf und wollte Lymore zurückschleudern. Doch er schien mit meiner Aktion gerechnet zu haben. Mein Schlag ging ins Leere, und wieder erklang sein scheinbar amüsiertes Lachen.

Widerwillig schüttelte ich den Kopf, ließ es aber zu, dass er mich begleitete.

Langsam, Schritt für Schritt näherten wir uns der Hütte, aus der fürchterliche Gerüche uns entgegenschlugen. Verkohltes Holz, verschmortes Fleisch, angebrannte Kräuter sandten uns ein bestialisches Aroma entgegen. Ich atmete ganz flach, um nicht mehr als unbedingt nötig von diesem Gestank einatmen zu müssen.

Dann standen wir dicht vor der windschiefen Tür. Mit einem Fußtritt warf Lymore das morsche Gebilde aus den Angeln. Ein Aufschrei kam von drinnen. Ein heller, empörter Aufschrei. Diese Stimme kannte ich. Und schlagartig wusste ich, wer sich dort im Halbdunkel befand.

Morigan, die kleine Hexe.

„O nein“, stöhnte ich auf. Lymore fasste mich stützend. Er erschrak, als er in mein Gesicht schaute.

Mühsam straffte ich mich, trat dann entschlossen über die Schwelle.

„Hör auf“, schrie ich. Ein Chaos breitete sich vor mir aus. Unordentlich in einer Ecke aufgeschichtet lagen Decken und Felle, mit denen sich das Mädchen scheinbar nachts zudeckte. Wild durcheinander lagen abgestorbene Holzknüppel, mit denen sie das Feuer genährt hatte. Über der Feuerstelle, die an einer Wand angebracht war, hing ein schmutziger Kupferkessel, aus dem der entsetzliche Gestank kam. Es brodelte und blubberte in dem Kessel. Alles war schmutzig und unordentlich, auch das Mädchen. Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, konnte ich erkennen, wie verwahrlost sie war. Wirr und verfilzt hingen ihr die Haare um den Kopf, ein zerrissenes, schmutzstarrendes Kleid bedeckte den Körper nur unvollkommen, sie schien sich außerdem seit Ewigkeiten nicht mehr gewaschen zu haben.

„Was willst du von mir?“, hörte ich ihre Stimme mit einem bösartigen Unterton fragen. „Eorin, die Unfehlbare, der Liebling der Götter, die absolute Priesterin. Die Frau, die andere im Stich lässt, wenn es Probleme gibt.“

„Wie kommst du hierher, Kind?“, wollte ich wissen.

„Das geht dich nichts an. Du wolltest dich ja nicht um mich kümmern. Und so bin ich geworden, was ich bin.“

„Du weißt genau, dass ich mich um dich kümmern wollte“, erwiderte ich tonlos. „Was machst du hier? Bist du ganz allein?“

„Geh“, schrie sie mich an. „Ich will nichts mit dir zu tun haben. Ich brauche dich nicht.“

„Experimentierst du hier wild herum?“, fragte ich mühsam beherrscht und musterte die Unordnung.

„Ich schaffe es allein“, sagte sie stolz. „Ich beherrsche die Kräfte, die in mir sind.“

„Darras hatte dich doch geblockt“, überlegte ich bestürzt. „Wie hast du deine Kräfte wiederbekommen?“

„Er hat mich auch wieder befreit“, sagte sie triumphierend.

Der Schlag saß. Ich rang nach Luft. Wie hatte er das tun können?

Wieder lachte Morigan, bösartig und schrill. Ihre Augen wurden etwas starr, sie konzentrierte sich. Und plötzlich schien ein Druck in meinem Kopf zu sein, verstärkte sich, schien meinen Geist zu sprengen. Ich presste die Hände gegen die Schläfen, ein Schrei entrang sich meiner Brust, ging in ein Stöhnen über.

Es dauerte etwas, bis ich mich gefasst hatte und zurückschlagen konnte. Morigan flog gegen die Wand, ich presste sie heftig dagegen, bis endlich der Druck von meinem Kopf wich.

„Du bist eine Mörderin“, schrie Morigan. „Hör auf, du bringst mich um.“

Doch im Augenblick war ich nicht zu bremsen, die Wut hatte die Oberhand in mir gewonnen, verletzt wollte ich jetzt an Morigan alles das auslassen, was ich an Darras nicht tun konnte.

Kräftige Hände zerrten mich von der Stelle, jemand schlug mir ins Gesicht, langsam klärte sich mein Blick. Lymore beugte sich über mich und sprach auf mich ein. Ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft.

„Was ist los?“, fragte ich.

„Du hast sie fast umgebracht, Herrin. Beruhige dich bitte.“

„Wo ist sie?“, flüsterte ich.

„Sie ist bewusstlos und liegt am Boden. Was willst du mit ihr tun?“

Mutlos ließ ich die Schultern sinken, fuhr mir müde mit der Hand über die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.

„Ich weiß nicht. Hast du einen Vorschlag?“, fragte ich meinen Begleiter.

Er wurde einer Antwort enthoben, als draußen Hufschläge aufklangen. Mit einem raschen Schritt war Lymore draußen und schaute nach, wer da kam. Ich hörte murmelnde Männerstimmen, dann klang einmal laut Lymores Stimme auf.

„Das wirst du nicht tun!“ Dann herrschte wieder Stille. Ich stand mühsam auf, hielt mich an der Wand fest, taumelte noch ein wenig und ging dann auf die Tür zu.