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DAS BUCH

 

Erwin Grasmücke ist pensionierter Beamter. Zusammen mit Gemahlin Hilde könnte er eigentlich seinen Ruhestand genießen, doch Erwins Tage sind angefüllt mit der Organisation von Lexika und Aktenordnern; und auch sonst sieht er überall die Notwendigkeit, seine von lebenslanger Bürokratie geformten Erfahrungen im Haushalt seiner Frau einzubringen. Rätselhafte Post bringt zudem immer wieder Aufregung in das Leben von Erwin und Hilde und beschert ihnen Gegenstände, mit denen sie Abenteuer in Raum und Zeit erleben. Einer außerirdischen Künstlichen Intelligenz fällt die undankbare Aufgabe zu, darauf zu achten, dass der pensionierte Beamte die Ordnung aller Dinge nicht in seine ureigene (Un-)Ordnung verwandelt.

 

»Lustige SF, dein Name ist Erwin Grasmücke!«

- Corona Magazine

 

 

DER AUTOR

 

Der Hamburger Autor Uwe Sauerbrei begeistert sich als selbständiger IT-Berater nicht nur beruflich für die technische Seite der Science-Fiction. In seiner Freizeit veranstaltet er Pro­grammierworkshops für Kinder und organisiert die Java User Group in der Hansestadt. Seine Geschichten wurden bereits in verschiedenen Anthologien und auf Hörbüchern veröffentlicht.

Uwe Sauerbrei

 

 

ERWINS REISEN

Galaktische Abenteuer
eines pensionierten Beamten

 

 

Kurzgeschichtensammlung

 

 

 

 

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Originalausgabe

 

© 2016 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Stefanie Kurt

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Bettina Petrik

Lektorat und Vorwort: Armin Rößler

Korrektorat: Telma Vahey

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-95936-049-4

ISBN E-Book: 978-3-95936-050-0

INHALTSVERSZEICHNIS

 

 

Begegnung mit Erwin

Erwins Reise

Lektionen

Allmacht

Bringdienst

Betatest

Aussendienst

Casting

Duell

Klangeffekt

Schnellreparatur

Besuch

Umfrage

Küchenhilfe

Katzensprung

Luftschloss

Geschäfte

Mitten ins Herz

Mitbringsel

 

Erstveröffentlichungen der Einzelgeschichten

BEGEGNUNG MIT ERWIN

(oder: Ein Vorwort)

 

 

Erwin hatte es sich gerade in seinem Ohrensessel im Arbeitszimmer bequem gemacht, den ersten Band des Universallexikons aufgeschlagen und nur einige wenige Sätze gelesen, als ihn das Schrillen der Türklingel auch schon wieder aus seinen Studien riss.

»Hilde«, rief der kleine Mann mit dem kugelrunden Bauch und dem spärlichen grauen Haar. »Hilde!« Seine Frau, so sein Gedanke, musste doch ohnehin in der Küche sein, um einen Kuchen zu backen oder schon das Abendessen vorzubereiten, da konnte sie doch auch an die Tür gehen. Vermutlich war der Besuch ohnehin für sie, vielleicht war es Marie, ihre Tochter, oder eine Nachbarin. Seit Erwin in Pension gegangen war, beschränkten sich seine eigenen sozialen Kontakte weitgehend auf die wöchentliche Singstunde im Seniorenchor der Wohlfahrt.

Doch Hilde reagierte nicht. Sehr untypisch für sie. Und da klingelte es bereits erneut.

»Vielleicht ist sie im Keller, die Wäsche machen«, brummte Erwin, während er sich aus dem Sessel erhob und das Lexikon fein säuberlich zu den anderen neun Bänden legte. Sein Blick fiel auf die Broschüre, die er vorhin aus dem seltsamen Umschlag gefischt hatte, auf dem weder Absender noch Adressat standen. »Werden Sie ein Held«, hatte ihn die Schlagzeile in dicken leuchtenden Lettern aufgefordert, und das Bild darunter schien sich vor seinen Augen zu verwandeln, bis es einen Mann zeigte, der Erwin auf verblüffende Art und Weise glich. Einen deutlich jüngeren Erwin, wie sich das Original beim Betrachten des faszinierenden Bilds eingestehen musste, mit einem deutlich besser trainierten Körper, als er selbst ihn je besessen hatte. Der andere Erwin trug einen seltsamen Anzug, der an den eines dieser Astronauten erinnerte, hielt ein Gerät in der Hand, das eine futuristisch geformte Waffe sein mochte, und ein hübsches Mädchen im Arm. Erwin (der echte) hatte zweimal gezwinkert, trotzdem blieb es bei einer jungen, geradezu hinreißenden Ausgabe seiner Frau Hilde in einem knappen Etwas, das die echte Hilde nicht einmal im Traum getragen hätte.

Ein Held, hatte er da kurz gedacht, das wäre mal was.

Doch dann hatte er die Broschüre achtlos beiseitegelegt, um sich endlich wieder einmal seinen Studien zu widmen. Aber daran durfte er leider nicht lange seine Freude haben, denn nun befand er sich auf dem Weg zur Haustür, an der es inzwischen schon zum dritten Mal geklingelt hatte.

Erwin öffnete und betrachtete den Fremden misstrauisch, der die Hand schon wieder auf dem Klingelknopf hatte, bei seinem Anblick jedoch sofort freudig lächelte und auch gleich zu reden begann. »Erwin? Erwin Grasmücke?«, stieß er aufgeregt hervor. Dann fügte er noch ein halblautes »Wahnsinn. Dass ich das erleben darf« an.

Erwin war sicher, dass er den Mann niemals zuvor gesehen hatte, weder irgendwo hier im Ort noch in der guten, alten Zeit, als er noch auf dem Amt gearbeitet hatte. Der Besucher war deutlich jünger als er selbst, hatte allerdings auch schon einige graue Haare. Dass er unrasiert und eher leger gekleidet war, fiel Erwin besonders negativ auf. So hätte er nie das Haus verlassen, und auch keiner seiner ehemaligen Kollegen.

»Der bin ich«, bestätigte er, konnte seine Irritation aber nicht verbergen. »Aber es tut mir wirklich leid, ich fürchte, ich kenne Sie nicht.«

»Dafür kenne ich Sie umso besser«, erklärte der andere. »Nicht persönlich natürlich, aber ich habe schon eine ganze Menge von Ihnen gelesen.«

Gelesen? Erwin grübelte. Sollte der Fremde möglicherweise doch vom Amt kommen, seinem schlampigen Äußeren zum Trotz? Die Sitten verrohten ja allgemein, vielleicht auch auf dem Amt. War der Besucher vielleicht erst eingestellt worden, als Erwin schon seinen Ruhestand angetreten hatte? Und hatte er sich durch die vielen, vielen Akten gelesen, die Erwin mit der ihm eigenen Akribie erstellt und der Nachwelt hinterlassen hatte? Wollte er ihm jetzt seine Bewunderung durch einen persönlichen Besuch ausdrücken? Eventuell gar mit einem Geschenk?

Wie aufs Stichwort zückte der Mann einen länglichen Karton. »Das habe ich Ihnen mitgebracht. Eine gute Flasche Rauenberger Mannaberg. Die genießen Sie mal an einem gemütlichen Abend gemeinsam mit Ihrer Hilde.«

»Was wissen Sie von meiner Frau?« Erwin war ehrlich empört. Privates und die Arbeit hatte er immer strikt getrennt. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, mit einem seiner Kollegen über familiäre Angelegenheiten zu reden, schon gar nicht während der Arbeitszeit. Und daran hatte selbstverständlich auch sein Ruhestand nichts geändert.

»Ich weiß alles über Sie«, erklärte der Besucher. »Ich habe jedes einzelne Wort gelesen.«

Ein … Wie hieß das noch? Immer diese englischen Begriffe, niemand redete heutzutage mehr vernünftiges Deutsch. Ein Stalker?

»Das wage ich doch sehr zu bezweifeln«, wehrte Erwin ab, griff aber trotzdem nach dem Weinkarton. Geschenkt war schließlich geschenkt. »Und überhaupt: Aus welcher Quelle speisen Sie Ihr angebliches Wissen?«

»Na, hauptsächlich aus dem Corona Magazine

Das sagte Erwin nichts. Zu seiner aktiven Zeit hatten die Informationszeitschriften für Beamte noch vernünftige Titel getragen. Aber inzwischen war wohl alles möglich. So sehr er seiner Arbeit manchmal hinterhertrauerte – wahrscheinlich war es besser, dass er sich damit nicht mehr herumärgern musste.

»Der Kurzgeschichtenwettbewerb«, sprudelte es aus dem Fremden hervor. »Barbara Jung und Olaf Brüschke, der ja leider viel zu früh verstorben ist, haben ihn damals ins Leben gerufen und betreut, die Idee hatte Mike Hillenbrand, der Corona-Chef. Und ich war tatsächlich von Anfang an dabei, gleich in der ersten Runde, 2003, wenn auch erst einmal nur als Gast-Juror.«

»Sie sprechen in Rätseln«, sagte Erwin. Langsam wurde ihm mulmig. Es schien sich wirklich um einen dieser Stalker zu handeln. Und er war offenkundig ziemlich verwirrt.

»Ihr Schöpfer hat die erste Runde zum Thema Urlaubsparadies Weltraum gewonnen. Mit Erwins Reise, der allerersten veröffentlichten Erwin-Geschichte.«

»Es gibt nur einen Schöpfer«, erklärte Erwin ernst. Es gab auch für diesen Irrsinn Grenzen.

Doch der andere ließ sich nicht beirren. »Ich weiß noch genau, wie begeistert ich schon damals war. Wissen Sie, wie mein Urteil lautete? Nein, natürlich nicht. Aber ich sage es Ihnen, ich habe kein Wort vergessen: ›Eine wirklich originelle Idee und eine klasse Umsetzung machen diese Story zur besten der ersten Runde. Nicht nur das, was dem armen Erwin passiert, ist höchst erheiternd, sondern auch und gerade seine permanenten persönlichen (und natürlich irrigen) Interpretationen des Geschehens – das macht einfach Spaß.‹«

Erwin verstand inzwischen nur noch Bahnhof. Armer Erwin? Irrige Interpretationen? Spaß? Was redete dieser Mensch nur?

»Und dann hat der Uwe Sauerbrei, Ihr Schöpfer, natürlich immer weiter geschrieben. Die Leser haben sich köstlich amüsiert, die Corona-Jury sowieso, und so kamen immer neue Geschichten dazu, über viele Jahre hinweg, von denen einige auch außerhalb des Coronas erschienen sind.«

»Und jetzt?«, fragte Erwin, während er verzweifelt überlegte, wie er den Verrückten wieder loswerden konnte. Wenn doch nur endlich Hilde auftauchen würde … Sie könnte vielleicht unauffällig die Polizei anrufen.

»Jetzt gibt es ein ganzes Buch mit diesen Geschichten. Und wer weiß, was da in Zukunft noch alles kommt.«

»Ich fürchte …«

Der Fremde ließ Erwin nicht ausreden, sondern packte seine freie rechte Hand und schüttelte sie. »Dafür wollte ich mich jetzt einfach mal bei Ihnen bedanken. Erwin Grasmücke: Ihre Abenteuer sind wirklich klasse, Sie sind ein echter Held!«

Ein Held?, durchfuhr es Erwin. Siedend heiß fiel ihm die seltsame Broschüre wieder ein. »Werden Sie ein Held«, hatte die Schlagzeile gelautet. Er seufzte. Das war also wieder einmal eines dieser Erlebnisse.

 

Die künstliche Intelligenz bemerkte die Anomalie mit einer unerklärlichen Verzögerung. Normalerweise berechnete sich ihre Reaktionszeit in Pikosekunden, doch in diesem speziellen Fall hatte sie, ohne dafür einen logischen Grund zu finden, die kleine Ewigkeit von zehn Minuten verstreichen lassen, ehe sie sich endlich zum Handeln entschloss.

Die KI fühlte Ärger auf sich selbst, tröstete sich jedoch damit, dass der angerichtete Schaden wohl nur minimaler Natur sein würde. Schließlich hatten beide Individuen auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit derartigen Vorfällen gesammelt. Sie waren mit Seltsamkeiten vertraut und würden sich dadurch nicht weiter irritieren lassen. Der eine, weil sich in seiner Nähe ähnliche Anomalien bereits in bemerkenswerter, eigentlich nicht nachvollziehbarer Häufigkeit ereignet hatten. Der andere, weil er ohnehin mit überschüssiger Phantasie gesegnet zu sein schien.

Die KI setzte eine Subroutine in Gang, und die Anomalie war rasch nur noch Geschichte.

 

»Ich …« Der Besucher hatte Erwins Hand inzwischen losgelassen, und während er zu einem weiteren Wortschwall ansetzte, verklang seine Stimme, und seine Gestalt schien sich aufzulösen. Sie verschwand in einem feinen Nebel, und dann war da gar nichts mehr.

Erwin war wieder allein und für einen kurzen Moment verwirrt. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Er schaute auf seine linke Hand, in der er den Weinkarton hielt, als sichtbaren Beweis sozusagen. Offensichtlich nicht. »Wie sonderbar«, sagte er. Aber das war ja nicht das erste Mal. Die seltsame Broschüre würde er schleunigst zum Altpapier geben.

Er ging in die Küche, zog die Weinflasche aus dem Karton und betrachtete sie prüfend. Ein Spätburgunder, sicher kein schlechter Tropfen. Vielleicht jetzt genau das Richtige. Wo war nur der Korkenzieher? »Hilde«, rief er. Sie konnte einfach keine Ordnung halten, die Dinge in dieser Küche hatten keinen festen Platz, wie es beispielsweise in seinem Arbeitszimmer schon immer der Fall war.

Seine Frau tauchte aus dem Wohnzimmer auf. Sie wirkte ein wenig schlaftrunken. Hatte sie etwa ein Mittagsschläfchen gehalten?

»Der Korkenzieher«, drängte Erwin.

Sie förderte ihn mit einem einzigen Handgriff aus einer der Schubladen zutage. »Willst du am helllichten Tag schon Alkohol trinken?«, fragte Hilde verwundert. Das gehörte sonst tatsächlich nicht zu seinen Angewohnheiten.

»Das habe ich jetzt nötig«, sagte Erwin, öffnete die Flasche und schenkte sich ein. Er nahm einen kleinen Schluck. »Der ist wirklich gut«, stellte er verblüfft fest. Irgendwie hatte er etwas anderes erwartet, die nächste Seltsamkeit, wurde aber glücklicherweise positiv überrascht. »Der ist gut«, wiederholte er. Da hatte der seltsame Besuch ja doch noch etwas Gutes gehabt. Er nahm sich die Flasche mit in sein Arbeitszimmer, ohne Hilde auch ein Glas anzubieten. Es wurde wieder Zeit für seine Studien.

 

 

(ar)

ERWINS REISE

 

 

»Hilde!!!«

Natürlich ignorierte Hilde das Rufen ihres Mannes geflissentlich. Das war so ziemlich das Erste, was sie nach der Pensionierung von Erwin – das war ihr Mann – gelernt hatte. Seit seine Amtshierarchie aus dem täglichen Leben verschwunden war, wurde sie zum ersten und einzigen Anlaufpunkt all seiner Kritik und Probleme. Sie schob die Tür mit dem Fuß ins Schloss und widmete sich wieder der Illustrierten auf dem Küchentisch.

Niemand reagierte, typisch. Erwin schnaufte vor Anstrengung, als er sich über seinen Kugelbauch bückte und in den Papierabfällen wühlte. Hilde hatte die unmögliche Angewohnheit, seine Post ohne Umwege in den Abfalleimer zu befördern. Sie versicherte zwar, dass es sich nur um Werbung handelte, aber dieser Mangel an Sorgfalt trieb Erwin jedes Mal die Zornesröte ins Gesicht. Auch heute war er wieder fündig geworden. Allein die Tatsache, dass der Briefkasten nach seinem Spaziergang leer war, führte ihn direkt von der Haustür in den Keller. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, und mit zwei bunt bedruckten Briefen in der Hand ließ er sich auf dem kleinen Schemel nieder, den er aus ebendiesen Gründen hier platziert hatte. Mit einem großen, sauber gefalteten Taschentuch wischte er sich zuerst den Schweiß von der Stirn, rückte die Brille auf der Nase zurecht, legte die Briefe vor sich ab und strich sorgfältig die Knickstellen glatt. Dann zog er aus der Innentasche seines Jacketts einen Brieföffner, das Geschenk seiner Kollegen zum zwanzigjährigen Dienstjubiläum, und trennte die Briefoberseite langsam auf. Es handelte sich um einen Gutschein für eine Enzyklopädie. Nachdem er kurz nachgedacht hatte, kam Erwin zu dem Schluss, dass die zehnbändige Ausgabe vom letzten Jahr noch ausreichend aktuell sei, und legte das Schreiben samt Kuvert nun endgültig in den Papiermüll. Der zweite Brief war aus einem merkwürdigen Material, ganz glatt, und dazu gab es noch nicht einmal einen Kleberand, an dem man den Brieföffner hätte ansetzen können.

»Immer diese billigen Umschläge«, seufzte Erwin, den Brief prüfend in alle Richtungen drehend und eine Öffnung suchend. Er fand zwar keine Öffnung, dafür aber einen Punkt, der, so hätte er schwören mögen, vor wenigen Augenblicken noch nicht existiert hatte. Seine Stirn legte sich in Falten, als er mit der Fingerspitze über diesen merkwürdig schimmernden Punkt fuhr und ein leichtes Kribbeln verspürte. Ein kühler Lufthauch strich durch den Raum. Erwin blickte über seine Schulter zum Fenster, das aber geschlossen war. Als er seinen Kopf zurückwandte, schwebte eine kleine bläulich schimmernde Kugel nur wenige Zentimeter vor seiner Nasenspitze entfernt.

»Himmel noch mal«, entfuhr es ihm, und er rutschte unsanft vom Schemel auf den Boden.

»Hallo, Erwin, schön, dass du mich gerufen hast, also deinen Gewinn in Anspruch nehmen möchtest.«

Die Stimme kam offensichtlich von der kleinen Kugel, die noch immer unbeweglich im Raum hing.

»Ich habe dich, ähm, Sie nicht gerufen!« Langsam drang der Sinn der Worte zu ihm durch. »Um was für einen Gewinn geht es?«, fragte er noch etwas zögernd. Eigentlich konnte er sich nicht erinnern, an einem Gewinnspiel teilgenommen zu haben. Oder sollte Hilde etwa …?

»Erwin«, die Kugel löste sich langsam von ihrer Position, umkreiste seinen Kopf und veränderte ihre Farbe in ein dunkles Purpur. »Erwin Grasmücke, du wurdest per Los ausgewählt und hast das große Vergnügen, an einem Tagesausflug teilzunehmen. Der Ausflug beinhaltet eine Reise durch ein Wurmloch zur Supernova XP772, die temporale Verschiebung ist schon im Preis inbegriffen. Danach gibt es zum Abschluss noch eine kleine kulinarische Spezialität und ein Abschiedsgeschenk.«

Erwin hatte sich inzwischen erhoben und rückte sein Jackett zurecht, dabei kein Auge von der nun grünlich leuchtenden Kugel lassend. Diese Werbefritzen hatten aber auch immer wieder neue Ideen; auch fühlte er sich noch mehr darin bestätigt, die Post nicht gleich dem Mülleimer zu überantworten. Da war wohl noch ein klärendes Gespräch mit Hilde zu führen.

Eine Reise, ein Essen und noch ein Geschenk, das hörte sich nicht schlecht an, auch wenn ihm diese Orte mit XP-irgendwas rein gar nichts sagten.

»Ich muss da auch nichts zuzahlen?« Irgendwie schrillte im Hinterkopf eine Alarmglocke, dass die Sache vielleicht doch noch einen Haken haben könnte.

»Nein, ist alles umsonst!«

Die Glocke verstummte augenblicklich.

»Dann nehme ich natürlich an dem Ausflug teil, wann geht es denn …« Noch bevor er den Satz beenden konnte, schien sich die Umgebung vor ihm aufzulösen, ein Windstoß fegte durch den Keller, und die Umrisse der Regale verschwanden, flossen einfach weg. Ein Gefühl der Übelkeit stieg aus der Magengegend empor, aber noch bevor es richtig zur Geltung kommen konnte, war der Spuk schon vorüber.

Erwin schaute sich um, und seine Augen wurden immer größer. Er schien sich in einer Kugel zu befinden, und sie war völlig durchsichtig, und der Blick nach draußen zeigte sehr merkwürdige Dinge, verschlungene farbige Spiralen, leuchtende Punkte, die auftauchten und plötzlich wieder verschwanden. So langsam machte sich die Erkenntnis breit, dass er sich definitiv nicht mehr in seinem Keller befand. Für einen Ausflug war er doch gar nicht richtig gekleidet, und er hatte ja noch nicht einmal Hilde Bescheid gesagt.

»Was ist das hier?« Sein Blick schweifte suchend durch die Sphäre, doch die kleine Kugel war nicht da. So viel zum Thema Betreuung. Erwin schnaufte. Er schaute sich ein wenig weiter um und entdeckte im Zentrum der Kugel ein paar seltsame Gegenstände, die einfach so im Raum zu schweben schienen. Er trat näher, sodass seine Nasenspitze fast einen der kleinen Kuben von leicht grünlicher Farbe berührte. Da gab es noch ein paar Pyramiden und Kugeln, alles bunt schillernd und völlig reglos. Vorsichtig näherte er einen Finger, stupste gegen die rote Kugel am rechten Rand und konnte sie, nachdem sie einen Moment Widerstand geleistet hatte, an einen anderen Platz verschieben. Erwin war schon zu Zeiten seiner Amtstätigkeit ein sehr ordnungsliebender Mensch gewesen und sah eine gute Möglichkeit des Zeitvertreibs im Sortieren dieses fliegenden Bausatzes. Völlig vertieft in die neue Tätigkeit, vergaß er alles um sich herum, und so entging ihm auch das immer heftigere Flackern der Farben und Formen und das abrupte Erstarren jeglicher Bewegung.

 

Es war das erste Mal seit ihrem Bestehen, dass die zentrale Intelligenz abstürzte und sämtliche Transportprozesse galaxisweit zum Stillstand kamen. Das war an sich kein Problem, allerdings startete sich das System im initialen Zustand und zeigte in Erwins Sphäre den Startort der Reise mit vollem Systemzugriff.

 

Urplötzlich verschwanden die Bausteine aus Erwins Gesichtsfeld, und ein holografisches Bild eines Sonnensystems erschien.

»Was soll das? Ich war doch noch gar nicht fertig!« Erwin rückte die Brille wieder zurecht und schaute sich diese neue Spielvariante an. Irgendwie erinnerte ihn das an etwas aus grauer Vorvergangenheit, es hatte etwas mit Schule zu tun. Da waren Planeten und in der Mitte eine Sonne, alles bewegte sich langsam und sah seltsam echt aus. Vorsichtig schob er die Hand in Richtung der Sonne und schwenkte sie vor dem Stern auf und ab.

»Au, verdammt, das ist ja richtig heiß …« Schnell zog er die Hand zurück und pustete auf die rote Stelle.

 

Zur gleichen Zeit auf der Erde …

Eine plötzliche totale Sonnenfinsternis überschattete die Nordhalbkugel und löste ein globales Verkehrschaos aus. Im Gegensatz zu sonstigen Ereignissen dieser Art fluktuierte die Dunkelheit in sehr schnellem Rhythmus, die Wissenschaft stand vor einem Rätsel.

 

Wieder fuhr eine kühle Brise durch den Raum, und die kleine Kugel tauchte direkt vor seinem linken Auge auf. Erwin fuhr zurück.

»Schön, dass sich mal jemand um mich kümmert. Ich warte schon eine Ewigkeit, und diese Computerspiele sind eher was für Kinder. Wann geht denn die Reise endlich los?«

»Erwin Grasmücke, die Reise kann leider nicht durchgeführt werden, es gab eine Störung im Transportsystem.« Die Kugel schwebte noch näher in Erwins Gesichtsfeld, nahm ein gefährlich leuchtendes Rot an, zog sich dann aber wieder zurück.

»Na, das war ja klar, jetzt kommt mir nur noch mit dem Kleingedruckten. Ich will sofort mit Ihrem Vorgesetzten sprechen. An wen kann ich mich wenden, wenn ich einen Beschwerdebrief schreiben will? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mich so einfach mit diesen Ausreden abspeisen lasse! Besorgen Sie einen neuen Bus oder mit was Sie hier sonst fahren. Was ist mit dem Essen und dem Geschenk?« Erwin hatte sich richtig in Rage geredet. Wenn die glaubten, ihn einfach über den Tisch ziehen zu können, dann kannten sie Erwin Grasmücke noch nicht.

Die Kugel wechselte in kurzen Intervallen die Farbe und nahm dann ein verwaschenes Gelb an.

Wieder lösten sich die Konturen des Raums um ihn herum auf, und plötzlich erschien ein anderes Zimmer oder zumindest so etwas in der Art. Wände schien es nicht zu geben, dafür hingen mehrere bunte Ansammlungen von Gegenständen verschiedenster Farben und Formen frei im Raum. Hier wurde offensichtlich ziemlich an der Einrichtung gespart.

»Erwin Grasmücke, du kannst hier eine Mahlzeit zu dir nehmen. Der direkte Bereich vor dir steht zur Verfügung.«

»Wieso ist hier eigentlich niemand, wo speisen die anderen?«

»In dieser Dimension wurdest nur du vom Los ausgewählt. Alle anderen Gewinner befinden sich in ihren eigenen Dimensionen.«

Also auch noch eine Zweiklassengesellschaft, er war allein in der Touristenklasse, und der Rest feierte First Class. Typisch!

Erwin blickte auf den direkten Bereich vor ihm, da gab es ein paar erbsenähnliche Murmeln, etwas, das aussah wie ein Apfel und noch ein paar Kräuter. »Das ist alles?«, kam es ihm murrend über die Lippen. Seufzend griff er nach der apfelähnlichen Frucht und erspähte aus dem Augenwinkel ein paar Trauben, zumindest hatten sie damit eine große Ähnlichkeit. Dummerweise lagen diese Köstlichkeiten in einem anderen Sektor, der auch farblich in leichten Blautönen abgesetzt war. Aber wenn man schnell genug war … Erwin trat ein paar Schritte nach rechts und griff blitzschnell mit der linken Hand zu den Trauben hinüber. Die Kugel versuchte noch, den Zugriff zu unterbinden, aber sie kam zu spät. Erwins Hand traf auf eine gummiähnliche Membran, konnte sie aber durchdringen. Im gleichen Augenblick blitzte ein enorm heller Punkt auf, der sich rasend schnell ausbreitete …

 

Die künstliche Intelligenz griff noch in der ersten Pikosekunde ein, konnte aber das Loch im Kontinuum zwischen Materie und Antimaterie nicht mehr schnell genug schließen. Die oberste Priorität bestand in der Sicherung von Leben, also transportierte sie das organische Lebewesen in eine temporale Schleife. Die Explosion konnte sie zwar noch eindämmen, doch der angerichtete Schaden war immens. Diese Katastrophe war ein Novum, nie zuvor hatte jemand versucht, die Grenze zur Antimaterie-Ökosphäre zu überwinden. Das organische Lebewesen gehörte offensichtlich einer besonders gefährlichen Spezies an. Die KI analysierte noch einmal den Ablauf und setzte diese Lebensform dann auf die Liste vom Kontakt auszuschließender Rassen. Die organische Einheit wurde an den Ausgangpunkt der Reise zurückversetzt.

 

Erwin fühlte nur noch, wie ihn eine Kraft packte und nach hinten riss. Die Trauben hatte er natürlich nicht mehr erwischt. Dann versank die Welt um ihn herum in einem wabernden Nebel, bevor er hart auf dem Boden seines Kellers aufschlug.

»Was soll das?«, schrie Erwin, sich wütend aufrappelnd. »Ist das der Dank für meine Geduld? Kein Essen, und was ist mit dem Geschenk?!«

Niemand antwortete. Wutschnaubend packte der kleine runde Mann das Kuvert und stopfte es tief in den Mülleimer, dann stapfte er nach oben.

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