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Ashley Carrington

Jane Winter –
Die weißen Klippen von Dover

Erzählung

hockebooks

1

Thomas Backhaus hörte die starke Brandung lange bevor er das Meer sah. Ein dumpfes, monotones Grollen erfüllte die Luft.

Der gut aussehende Mann beschleunigte seine Schritte. Ein schmaler ausgetretener Pfad schlängelte sich die grasbewachsene Anhöhe hinauf. Als Thomas wenig später auf der Hügelkuppe stand, lagen die Nordsee und die Steilküste von Dover vor ihm.

Sein Blick glitt über die aufgewühlte See. Schaumgekrönte Brecher rollten mit unvorstellbarer Wucht gegen die mächtigen Kreidefelsen. Er liebte dieses einsame Fleckchen Erde, das ein gutes Stück von der englischen Hafenstadt Dover entfernt lag. Die wilde, zerklüftete Küste, die tosende Brandung und die saftigen Wiesen und Hügelketten des Hinterlandes – all das faszinierte ihn.

Thomas Backhaus war knapp achtundzwanzig Jahre alt, von schlanker, hochgewachsener Gestalt, mit hellbraunen Haaren und markanten Gesichtszügen. Vor nicht ganz einem halben Jahr war er als frischgebackener Doktor der Rechtswissenschaften von der Universität Köln mit einem Forschungsauftrag nach Cambridge geschickt worden. Mit großer Begeisterung hatte Thomas sich in die neue Aufgabe gestürzt. Während der Wochenenden unternahm er längere Ausflüge, um das Land kennenzulernen. Diesmal war er nach Dover gefahren. Und nun stand er schon ein zweites Mal an dieser Stelle der Küste und sah über das aufgewühlte Meer. Er folgte dem Weg, der hoch über den Klippen an der Küste entlangführte.

Die Sonne neigte sich im Westen dem Horizont zu, als Thomas die dunklen Wolken bemerkte, die sich im Nordosten zusammenballten. Der junge Mann war froh, dass er festes Schuhwerk und unter dem beigen Regenmantel einen warmen Pullover trug.

Der Weg führte ihn um einen Felsbuckel herum. Plötzlich blieb Thomas Backhaus stehen. Im ersten Moment glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

Doch was er sah, war keine Täuschung: Eine junge Frau stand auf einem vorspringenden Felsen. Vor ihr fiel die Gesteinswand fast senkrecht in die Tiefe ab.

Gut fünfzig Meter unter ihr brodelte die See um eine Gruppe spitzer Klippen, die wie ein Bündel Nadeln aus dem Wasser herausragten. Und hinter der Frau zog sich ein recht steiler Geröllhang in die Höhe.

Die Fremde, die eine zierliche, beinahe zerbrechliche Figur besaß, trug ein blau-weißes Kleid mit kurzen Ärmeln, das im starken Wind flatterte. Um die Schultern hatte sie ein leichtes weißes Wolltuch gelegt. Ihr langes schwarzes Haar wehte um ihren Kopf.

Thomas Backhaus war einen Moment vor Überraschung wie erstarrt. Es war äußerst gefährlich, was die Frau dort tat. Eine starke Windböe hätte sie erfassen und über den Klippenrand schleudern können. Das hätte ihren Tod bedeutet.

Er zögerte kurz und rief die Fremde an, doch sie reagierte nicht. Vermutlich konnte sie ihn nicht hören. Das Toben der Brandung übertönte alles. Der junge Forscher hastete den Weg, der zu dem vorspringenden Felsbuckel führte, hinunter. Allein schon der Abstieg war nicht ohne Risiko. Aber in diesen Sekunden dachte er nicht an sich.

Er war noch einige Meter von der Unbekannten entfernt, als er ein merkwürdiges Geräusch vernahm. Er blickte sich unwillkürlich um. Oben am Hang hatten sich mehrere große Felsbrocken in Bewegung gesetzt.

Innerhalb von wenigen Sekunden entstand eine gefährliche Gerölllawine, die durch nichts mehr aufzuhalten war.

Die junge Frau auf dem Felsen war in höchster Gefahr.

»Achtung!«, schrie Thomas mit gellender Stimme, um sie zu warnen. »Eine Lawine!« Er rannte auf die Fremde zu, packte sie mit hartem Griff am linken Arm und riss die schlanke Gestalt mit aller Kraft aus der Gefahrenzone.

Ihr schmales, bleiches Gesicht verzerrte sich plötzlich, als sie die gewaltige Gerölllawine bemerkte. Sie begriff nun, worum es ging, gab ihren Widerstand auf und rannte den schmalen Weg zurück.

Thomas entdeckte den hüfthohen Felsen, der direkt neben dem Weg aus dem Boden ragte, gerade noch rechtzeitig. Mit einer jähen, kraftvollen Bewegung zog er die Frau zu sich heran und warf sich mit ihr hinter dem schützenden Felsvorsprung zu Boden.

»Pressen Sie sich ganz nah an den Felsen!«, rief er hastig. »Und schützen Sie Ihren Kopf mit den Händen, damit …«

Weiter kam er nicht. Die Lawine hatte sie schon erreicht. Über die Breite von gut zehn Metern fegten die Geröllmassen über den Weg hinweg.

»Mein Gott«, murmelte er und holte tief Atem. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er sich aufrappelte und den Schmutz von seinem Mantel klopfte. »Das war wirklich mehr als knapp. Sie sollten sich eine andere Stelle aussuchen, um auf das Meer hinauszublicken.«

Die Fremde drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn an. »Ich komme jeden Tag hierher. Ich liebe diese Stelle.«

Thomas hatte das Gefühl, etwas Heiteres sagen zu müssen. »Dann lieben Sie wohl auch die Gefahr«, meinte er.

»Gefahr«, wiederholte sie mit seltsam abwesender Stimme. »Die Gefahr schreckt mich nicht. Im Gegenteil …«

Ihr Tonfall verwirrte ihn.

»Da bin ich aber anderer Meinung«, erwiderte er und spürte mit Verwunderung, wie sich sein Puls beschleunigte. »Was Sie gemacht haben, war lebensgefährlich!«

Ein trauriges Lächeln glitt über ihr schmales Gesicht. »Ja, Sie haben mir das Leben gerettet.«

Thomas Backhaus runzelte die Stirn und musterte sie scharf. »Das klingt aber nicht so, als würden Sie sich darüber freuen«, erwiderte er.

Ihr Verhalten berührte ihn auf merkwürdige Weise. Hatte sie die Gefahr vielleicht ganz bewusst gesucht?

»Sie haben Ihr Leben für mich aufs Spiel gesetzt«, meinte die junge Frau, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Die Lawine hätte auch Sie mitreißen können. Ich … danke Ihnen.«

»Das war doch eine Selbstverständlichkeit«, sagte er mit Nachdruck und lächelte sie an. »Jeder andere an meiner Stelle hätte genauso gehandelt.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach sie leise mit einem schwachen, wehmütigen Lächeln, das nicht für ihn bestimmt zu sein schien.

Thomas Backhaus legte seinen Arm spontan um ihre Schultern. »Sind Sie erkältet? Tut Ihnen etwas weh?«, fragte er besorgt.

Sie schüttelte hastig den Kopf, und ihr Körper straffte sich wieder. »Nichts Besonderes. Es ist schon wieder gut. Wir kehren besser nach oben auf den Hauptweg zurück.«

Thomas Backhaus nickte und ließ sie vorgehen.

»Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte«, sagte er unterwegs. »Solch eine Lawine muss doch eine Ursache haben! Wenn es stark geregnet hätte und das Erdreich weggerutscht wäre, könnte ich das als Erklärung gelten lassen. Aber so …«

Sie drehte sich zu ihm um. »Die Natur ist nun mal unberechenbar. Sie zerbrechen sich besser nicht den Kopf über den Vorfall. An manchen Dingen kann man einfach nichts ändern.«

»Die Natur unterliegt Gesetzen«, widersprach er ihr mit ungewollter Heftigkeit. »Ich werde zudem das dumme Gefühl nicht los, als wäre die Lawine mit Absicht ausgelöst worden.«

»Wer sollte sich diese Mühe machen? Und weshalb? Sie haben sich gewiss getäuscht.« Sekundenlang schwieg sie. Dann fragte sie scheinbar zusammenhanglos: »Sie sind nicht von hier?«

Thomas Backhaus schüttelte den Kopf. »Ich wohne seit einem halben Jahr in Cambridge. Ich bin Deutscher, Köln ist meine Heimatstadt. Backhaus … Thomas Backhaus ist mein Name.«

»Oh!«, stieß sie überrascht hervor. »Für einen Deutschen hätte ich Sie nicht gehalten! Ihr Englisch ist fast akzentfrei.«

Thomas schmunzelte. »Meine Mutter ist gebürtige Londonerin. Ich bin sozusagen zweisprachig aufgewachsen.«

Sie lachte verhalten auf, und Thomas bemerkte mit Erstaunen, wie sehr sich dabei ihr Gesicht verschönte. Er konnte seinen Blick kaum von ihr wenden.

Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Ihr schwarzblaues Haar umrahmte ein blasses Gesicht mit dunklen Augen, die Thomas an ruhige, tiefe Bergseen erinnerten.

»Ich heiße übrigens Jane … Jane Winter.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Jane«, sagte Thomas, »aber ich würde mir die Stelle drüben am Hang gern einmal ansehen. Begleiten Sie mich?«

Jane Winter zögerte, nickte aber dann. Wenig später hatten sie die Stelle erreicht, wo die Lawine ausgelöst worden war.

Thomas kam sich selbst ein wenig lächerlich vor, als er sich einen Weg durch das verfilzte Gebüsch bahnte. Er wusste ja noch nicht einmal, wonach er suchen sollte. Es war nur ein dunkles, unerklärliches Gefühl, das ihn dazu veranlasste, sich ein wenig umzusehen. Er fand jedoch nichts.

Als er zu Jane zurückkehrte, blickte sie gerade gedankenverloren nach Nordosten, von wo das Gewitter kam.

Sie fuhr erschrocken zusammen, als Thomas sie ansprach.

»Ich muss jetzt gehen!«, stieß sie hervor und schwankte plötzlich. Sie stützte sich kurz bei Thomas ab. »Ich bin sehr müde«, murmelte sie, als sie seinen erstaunten und zugleich besorgten Blick bemerkte.

»Wohnen Sie in Dover?«, erkundigte sich Thomas. Der Gedanke, sie einfach gehen zu lassen und sie möglicherweise nie wiederzusehen, beunruhigte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte.

Jane Winter nickte. »Ja«, antwortete sie einsilbig. Sie schien wie verwandelt. Vor wenigen Augenblicken hatte Thomas noch das Gefühl gehabt, die Barriere des einander Fremdseins niedergerissen zu haben. Nun war diese Mauer zwischen ihnen wieder da.

»Ich muss denselben Weg zurück wie Sie«, sagte Thomas. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gern begleiten.«

Jane Winter antwortete nicht. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders.

Besorgt blickte Thomas zum Himmel. Die Gewitterfront hatte die Steilküste inzwischen erreicht. »Wir müssen uns beeilen, Jane!«