Rolf Schneider

 

Die Seiltänzerin

 

Erzählung

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Lauter Heiligenbilder ... Es wäre interessant, eine Zeit unter diesen Menschen zu verbringen ... doch eine andre Welt. Wir wissen eigentlich so wenig von den andern.

Arthur Schnitzler, Der Reigen

Inhaltsverzeichnis

Die Seiltänzerin
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Blutmontag
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Leseprobe: Rolf Schneider »Die Reise nach Jarosław«
cover

Über das Buch

»Die Seiltänzerin« heißt diese Single-Auskopplung von Rolf Schneider. Sie dreht sich um ein Gemälde des russischen Künstlers Alexej Subkow: Die Seiltänzerin entsteht 1925, und es wird eine unruhige Reise durch die Jahrzehnte antreten, fast auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs landen, irgendwann aber wieder in seine Heimat zurückkehren. Rolf Schneider zeichnet kurze Porträts der wechselnden Besitzer des Gemäldes und beschreibt den Weg, der Die Seiltänzerin mitten durch die politischen Umwälzungen im ehemaligen Ostblock hindurchführt.

Und als B-Seite der Single gibt es die Geschichte »Blutmontag«: Was, wenn sich die DDR-Regierung im Oktober 1989 für das chinesische Modell entschieden und die friedlichen Demonstrationen blutig niedergeschlagen hätte? Rolf Schneider lässt sich auf dieses Gedankenspiel ein und dekliniert die Folgen durch. Eine ernüchternde Alternative zum Mauerfall.

Rolf Schneider setzt sich kritisch, ungewöhnlich und ironisch gebrochen mit der Geschichte des Ostblocks, der DDR und den tatsächlichen politischen Begebenheiten auseinander.

Über den Autor

Rolf Schneider wurde 1932 in Chemnitz geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Romanistik in Halle-Wittenberg und ist seit 1958 freier Schriftsteller. Nach Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurden seine Publikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt, 1979 folgte der Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband.

Rolf Schneider verfasste zahlreiche Romane, Bühnenstücke, Essays und Sachbücher, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen u. a. der Roman »Marienbrücke« (2009) und die Sachbücher »Das Mittelalter« (2010) sowie die Biografie »Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland« (2013). Rolf Schneider wurde ausgezeichnet mit dem Lessing-Preis der DDR, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden sowie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Er lebt heute als Autor und Publizist in Schöneiche bei Berlin.

Leseprobe:
ROLF SCHNEIDER »DIE REISE NACH JAROSŁAW«

1

Ich heiße Gittie und wiege einundneunzig Pfund. Das ist nicht zu wenig bei hundertneunundfünfzig Zentimeter Körperlänge, aber die Wahrheit ist, dass die Medizinmänner ihre Visagen in Falten legen, wenn sie mich abklopfen. Ich sage ihnen dann: Mann, ich fühle mich erstklassig, Tatsache. Die gruppieren daraufhin ihre Falten um und grinsen. Sie grinsen ausgesprochen affig, weil sie sowieso alles besser wissen.

Irgendwie habe ich es ihnen auch zu verdanken, dass ich beinahe acht war, als ich auf die Penne kam, und der Rest der Verantwortung ist reine Kalendersache. Ich bin Ende Juni geboren, und der Stichtag für die Einschulung ist, glaube ich, Ende Mai. Demnach hätte ich das erste Mal meinen Fuß in die Penne setzen müssen, als ich sieben war, aber dazu kam es nicht. Ich kriegte in diesem Jahr einen ganzen Haufen Krankheiten. Angina, Scharlach, Masern, noch mal Angina und Röteln. Ich war sieben Monate hintereinander buchstäblich ununterbrochen krank, und als ich es nicht mehr war, sah ich so furchtbar aus, dass der Schularzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug, als er mich sah. Er stellte mich schleunigst noch ein Jahr von der Schule zurück. Er verschrieb mir ungefähr dreihundert Stärkungsmittel, die alle überhaupt nichts halfen, und jedenfalls war ich acht, als. ich auf die Penne kam, Vieles wäre wahrscheinlich anders gekommen, wenn ich heute nicht achtzehn wäre, sondern beispielsweise zwei Jahre jünger. Dabei bereue ich überhaupt nichts: Ich stelle das alles bloß fest, sachlich.

Ich habe einen Personalausweis, mittelblau, mit Folie. Der Pass enthält eine Menge Angaben über mich, zum Beispiel dass ich in Berlin geboren bin und wann. Berlin ist groß, und kein Mensch kann ernsthaft behaupten, dass Grünau und Weißensee dieselbe Stadt sind, nicht mal dieselbe Welt. Ich persönlich bin Prenzlauer Berg aufgewachsen. Ich bin großzügig und schlag bisschen von Berlin-Mitte dazu, sagen wir: alles zwischen Alexanderplatz und Weidendammbrücke; mir reicht das als Berlin, und ich bin sowieso der Meinung, die Hauptstraße von Mitteleuropa ist die Schönhauser Allee.

Ich komme hier nicht drum herum, fünf Worte über die Greise zu sagen. Mein Greis ist ein dürrer Typ mit Halbglatze und vierzig. Der Greis arbeitet irgendwas mit Biologie und Chemie und Pillen und macht das in Buch in irgendeinem Riesenstall, wo sie zweihundert oder zwei Millionen Eierköpfe eingesperrt haben, damit sie was mit Biologie und Chemie und Pillen machen. Abends ist der Greis still. Früher interessierte er sich für Fußball, aber seit ein paar Jahren ist er Sammler. Er hat ungefähr drei Dutzend Modelllokomotiven. Diesel und Dampf und elektrisch und alle möglichen Baujahre und Firmen. Aber Lokomotiven und eben auch Modelllokomotiven gibt es längst nicht so oft wie zum Beispiel Geldstücke, und deswegen sammelt der Greis zusätzlich Münzen. Zehn-Mark-Baden von achtzehnhundertzweiundsiebzig und Zwei-Mark-Lippe von neunzehnhundertsechs und so. Die Münzen hat er in einem kleinen dunkelbraunen Rollschrank mit lauter flachen Schüben. Oben auf dem Rollschrank stehen die Modelllokomotiven. Bis vor einem Jahr hätte ich gesagt, der Greis ist nicht umwerfend, aber er ist in Ordnung, Tatsache. Wahrscheinlich hätte ich vor einem Jahr auch dasselbe von der Greisin gesagt, und jedenfalls muss ich feststellen, dass sie ungeheuer rumort. Mann, die schafft sich! Zum Beispiel, die Greisin hält Vorträge, und gleichzeitig besucht sie Vorträge. Manchmal frage ich mich, warum sie Vorträge besucht, wenn sie selber welche hält. Die Greisin ist vierzig wie der Greis und will irgendeine Prüfung machen. Ihr Job ist Ingenieur. Irgendwas mit Kältetechnik. Ich kann mir nicht viel darunter vorstellen. Ich verstehe nichts davon. Interessiert mich auch nicht, sachlich.

Die Greisin behauptet, sie wäre als junges Mädchen so spillerig gewesen wie ich. Keine Ahnung, was sie mit solchen Sprüchen bezweckt. Mich schockt sie nicht. Vielleicht will sie sich selber trösten. Die Greisin hat Übergewicht und geht jede Woche für zehn Em in die Sauna am Alexanderplatz. Sie ist hinterher immer leicht violett um die Kiemen. Ich finde nicht, dass sich das Schwitzen bei ihr lohnt.

Ich war nie dagegen, dass die Greise bei jedem Anlass, der sich ergibt, Fahnen vors Fenster hängen, aber ich war schon lange dagegen, dass ihr Lieblingstyp im Fernsehen Lembke heißt, ein bebrillter Penner, der vier andere Penner raten lässt, was noch ein anderer Penner für einen Beruf hat, Knopfmacher zum Beispiel oder Rollmopsdreherin.

Ich kann nicht sagen, dass mich die Greise viel gestört haben, und ich kann nicht sagen, dass ich die Greise viel gestört habe, dazu war einfach zu wenig Gelegenheit, jedenfalls ungefähr siebzehn Jahre, und von denen gab es vierzehn Jahre schließlich Oma Hela.

2

Für Oma Hela muss ich ganz weit ausholen. Für Oma Hela muss ich mich ungeheuer anstrengen, damit ich Sätze finde, die ich sonst nicht brauche, weil es so was wie Oma Hela nicht noch mal gibt.

Ich fange damit an, dass ich sage, Oma Hela kam aus Jarosław. Auf Landkarten ist Jarosław eine kleine Stadt in Ostgalizien, auf der Strecke zwischen Krakau und Przemyśl. Für mich liegt Jarosław erst mal im Kehlkopf und in den Händen von Oma Hela.

Ich muss dazu sagen, dass ich mit vollem Namen Brigitte Marczinkowski heiße. Ich heiße Marczinkowski, weil mein Greis Marczinkowski. heißt. Oma Hela hieß mit Vornamen Halina und kam, wie gesagt, aus Jarosław. Jetzt wird ziemlich jeder kommen und sagen, Oma Hela aus Jarosław ist die Mutter von Günter Marczinkowski, meinem Greis. Das stimmt aber nicht, weil Günter Marczinkowski aus Döbeln in Sachsen kommt. Er redet auch so, bisschen. Oma Hela hieß mit Nachnamen Schroeter, wie die Greisin, ehe die Marczinkowski hieß. Oma Hela kam aus Jarosław, und also kam auch die Greisin aus Jarosław, so ist das.

Ich bin Prenzlauer Berg aufgewachsen und rede, wie die Leute Prenzlauer Berg reden. Bei mir endet zirka jedes dritte Wort auf a. Die Greisin rollt das r mit der Zunge, und wer scharfe Ohren hat, merkt hundertprozentig, dass die Greisin nicht aus Prenzlauer Berg kommt. Ich spreche gar nicht von Döbeln in Sachsen. Und wenn schon die Greisin nicht redet, wie die Leute Prenzlauer Berg oder Döbeln in Sachsen reden, so ist das noch gar nichts gegen die Art, wie Oma Hela geredet hat. Mann, das war Sprache! Das war nicht Sprache, das war Musik. Das war nicht Musik, das war großer Auftritt. So wie, wenn der berühmte Rocksänger Jimi Hendrix seine Gitarre röhren lässt in seinen größten Momenten, und falls ich mich damit nicht deutlich mache: Oma Hela hat genau so geredet, wie eben Leute aus Jarosław reden. Wenn die Greisin heute behauptet, sie hätte früher ausgesehen, wie ich inzwischen aussehe, was ich für eine glatte Lüge halte, so behaupte ich dagegen, dass ich aussehe, wie Oma Hela ausgesehen hat, ganz früher und ganz zuletzt. Oma Hela war keine einsneunundfünfzig groß, höchstens einssiebenundfünfzig. Oma Hela hatte schwarze Augen und rotblonde Haare, das wirkte ungeheuer. Oma Hela hatte weiße Zähne, die waren garantiert echt, und auch ihre Haare waren echt, ich meine die Farbe; Oma Hela hätte lieber sonst was mit dem Geld gemacht, als Frisörfarbe dafür zu kaufen, wie es beispielsweise die Greisin macht. Oma Hela war mager und ungeheuer kregel.


»Die Reise nach Jarosław«.