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Über das Buch

Allein in der Serengeti

Für die 19-jährige Melissa beginnt das Abenteuer ihres Lebens, als sie ihr Praktikum in einer Lodge in Afrika antritt. Der zahme junge Elefant der nahen Tierstation und die Schönheit der Serengeti schlagen sie augenblicklich in ihren Bann. Und als sie dem gleichaltrigen Massai Sonyanga begegnet, ist es um ihr Herz endgültig geschehen. Doch Unheil droht. Bei einer Fahrt durch die Steppe beobachten sie eine weiße Löwin - für die Massai ist sie eine Botschafterin des Bösen! Tatsächlich geht auf einmal alles schief. Auf einer dreitägigen Safari sabotiert ein Unbekannter ihren Geländewagen und sie stranden in der Wildnis. Schaffen sie es, rechtzeitig Hilfe zu holen?

Inhalt

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Nachwort

Kaiserschmarren

Lachsfilets mit Erdnusskruste, Zuckerschoten und Wasabipüree

1

Melissa war froh, als die zweimotorige Maschine auf der Landepiste von Seronera aufsetzte. Während des einstündigen Fluges von Arusha hatte sich der hochgewachsene Afrikaner in der zweiten Reihe ständig nach ihr umgedreht und sie neugierig gemustert. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass es an ihrem hübschen Aussehen lag. Nach dem langen Flug von Frankfurt über Amsterdam nach Tansania und der lästigen Pass- und Zollkontrolle wirkte sie eher müde und abgespannt, und weder ihre hellen blauen Augen, die sonst so verführerisch strahlen konnten, noch ihre honigblonden Haare, die sie lediglich mit einem schmucklosen Gummiring gebändigt hatte, ließen sie im besten Licht erscheinen.

Doch als sie die Maschine verließ und einen Augenblick auf der Gangway stehen blieb, um die unendlich erscheinende Weite auf sich wirken zu lassen, war der Schwarze schon verschwunden, und sie verschwendete keinen Gedanken mehr an ihn. Für sie war es viel bedeutsamer, afrikanischen Boden zu betreten. Sie fühlte sich unwillkürlich an Bilder von der ersten Mondlandung erinnert. »Ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit«, hatte Neil Armstrong gesagt, als er aus der Landefähre gestiegen war. Für Melissa war die Ankunft in Afrika etwas Besonderes. Nicht so bedeutsam wie die Mondlandung, aber für sie ein Wendepunkt in ihrem Leben. Davon hatte sie immer geträumt.

Vor dem Terminal, der aus einer einfachen Lehmhütte mit einem Strohdach bestand, wartete ein Mann in Kakikleidung. Er hatte seinen breitkrempigen Hut in den Nacken geschoben und hielt ein Schild mit dem Namen der Lodge hoch.

»Jambo! Willkommen in der Serengeti!«, begrüßte er sie auf Englisch. »Miss Baxter, nehme ich an. Ich bin Jimmy Hutton, einer der Guides, und bringe Sie zur Lodge.« Er deutete auf den dunkelgrünen Geländewagen mit der Aufschrift Serengeti African Lodge. »Wir haben noch vierzig Kilometer vor uns, ungefähr eine Stunde, würde ich sagen. Um diese Jahreszeit sind die Straßen nicht im besten Zustand.«

Melissa schüttelte ihm die Hand und stellte ihren prall gefüllten Rucksack in den offenen Kofferraum. »Melissa Baxter. Ich bin schon sehr gespannt auf das Praktikum in Ihrer Lodge! Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Hutton.« Als Tochter eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter sprach sie beide Sprachen fließend.

»Jimmy«, verbesserte er sie, »wir sprechen uns mit Vornamen an.«

Inzwischen war auch das Ehepaar, das mit ihr aus Arusha gekommen war, eingetroffen. Sie waren ebenso gekleidet wie der Guide, in kakifarbenen Klamotten, nur sah man ihnen schon von Ferne an, dass sie keine Einheimischen waren.

»Paul Gerhardt«, stellte sich der Mann vor, schlank, etwas steif in seinen Bewegungen und mit Nickelbrille. »Das ist meine Frau Biggi. Wir kommen aus Verden, das liegt bei Hannover.«

»Wir unterrichten dort am Gymnasium, mein Mann Englisch und Deutsch und ich Biologie und Chemie«, ergänzte Biggi Gerhardt. Auch sie trug eine Brille, mit schwarzem Gestell, wie man sie von einer Lehrerin erwartet hätte, war in ihren Röhrenhosen und dem ausgeschnittenen T-Shirt aber sehr sexy gekleidet und versuchte anscheinend, den Guide mit ihrem Lächeln in den Bann zu ziehen.

Melissa verdrehte heimlich die Augen und war froh, als Jimmy sie zum Einsteigen aufforderte. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, die Gerhardts auf die Rückbank. Das Gepäck der beiden verstaute der Guide im Kofferraum. Wenige Minuten später waren sie unterwegs. An einigen Häusern und Hütten vorbei ging es auf die Straße nach Westen. Die Sonne stand über dem westlichen Horizont.

Als Melissa einige Männer am Straßenrand stehen sah, fiel ihr der Afrikaner aus dem Flugzeug wieder ein. »Haben Sie den Schwarzen gesehen, der vor mir aus der Maschine gestiegen ist?«, fragte sie den Guide. »Sah wie ein Basketballspieler aus.«

»Hier gibt es viele große Schwarze«, erwiderte Jimmy.

»Der in dem blau-weiß gestreiften Hemd.«

Jimmy kniff die Augen zusammen. »Das müsste Jomo gewesen sein. Der pendelt jede Woche zwischen Arusha und Seronera hin und her. Ein ehemaliger Wildhüter des Nationalparks. Soweit ich weiß, hat er sich einen Bürojob ergattert. Warum?«

»Reine Neugier«, wich sie ihm aus.

Melissa versuchte, das ungute Gefühl, das ihr der Afrikaner bereitet hatte, zu verscheuchen. Sie redete sich ein, dass er sie wegen ihrer blauen Augen angestarrt hatte, und blickte aus dem Fenster. Obwohl der winzige Flughafen erst wenige Kilometer hinter ihnen lag, befanden sie sich bereits mitten in der Wildnis, umgeben von der legendären Serengeti, die sich zu beiden Seiten der Straße bis zum fernen Horizont zog. Ein scheinbar endloses Grasmeer, das sich über vereinzelte Hügel in alle Richtungen erstreckte, nur hier und da unterbrochen von Schirmakazien, die sich dunkel gegen die rötliche Sonne abhoben.

Bisher kannte sie die Serengeti nur aus Filmen. Natürlich hatte sie »Serengeti darf nicht sterben« gesehen, den berühmten Naturfilm des ehemaligen Frankfurter Zoodirektors Bernhard Grzimek, aber auch Reportagen von National Geographic und spezielle Tierfilme über Löwen und die großen Tierwanderungen.

Aber die Wirklichkeit war wesentlich aufregender, das merkte sie schon jetzt, in einem klimatisierten Geländewagen und nur durch ein Fenster von der Natur getrennt. Kein Vergleich mit ihrem letzten Praktikum, das sie in einem Hotel in Belgien absolviert hatte, und nur möglich, weil ihr Vater als Pilot bei British Airways und ihre Mutter als leitende Angestellte bei einer Versicherung arbeiteten und einigermaßen bei Kasse waren. Vielleicht wollten sie sie auf diese Weise für den Stress und den Kummer entschädigen, den sie ihr mit dem jahrelangen Streiten und der Scheidung bereitet hatten.

»Genauso, wie wir uns das vorgestellt haben«, sprach Paul Gerhardt den Guide an. Seine Stimme klang in Melissas Ohren ein wenig selbstgefällig, beinahe arrogant. »Wir haben uns sehr genau über Tansania und die Serengeti informiert, wissen Sie? Wenn wir eine Reise unternehmen, überlassen wir nichts dem Zufall. Mit dem Internet wird einem das heute auch leicht gemacht. Wenn ich da an unser Studium zurückdenke … Wir waren noch Stammgäste in der Staatsbibliothek. Besonders die Tierwelt hat es uns angetan. Meine Frau unterrichtet Biologie in der Oberstufe und will nach den Sommerferien mit einer Arbeitsgruppe über die Tiere der Serengeti ins neue Schuljahr starten. Sie hat ihre Doktorarbeit über Wildkatzen geschrieben.«

»Und wenn wir uns eingelebt haben, würde ich mich sehr gerne einmal länger mit Ihnen unterhalten, Jimmy«, sagte seine Frau. Sie lehnte sich dabei weit nach vorn und lächelte den Guide im Rückspiegel an. »Als Guide für eine Wilderness Lodge haben Sie doch sicher schon einige Erfahrungen mit Wildkatzen gemacht. Vielleicht können wir uns bei Gelegenheit mal auf ein Glas Wein zusammensetzen?«

Jimmy blickte ebenfalls in den Rückspiegel und schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte. »Sonyanga kann Ihnen wahrscheinlich noch mehr über Wildkatzen erzählen als ich, vor allem über Löwen. Er ist ein junger Massai, der einige Safaris begleitet und Ausflüge ins Dorf seines Stammes organisiert. Die Massai haben eine ganz besondere Beziehung zu Löwen. Früher wurde ein Junge …«

»… nur zum Mann, wenn er einen Löwen erlegte«, ergänzte Paul Gerhardt. »Darüber haben wir natürlich gelesen. Er durfte nicht einmal heiraten, bevor er nicht das Fell und die Krallen eines Löwen nach Hause brachte. Inzwischen ist es verboten. Wenn ich richtig informiert bin, sorgen heute einige Massai dafür, dass sich die Löwen nicht aufs Farmland verirren und dort Kälber und Schafe reißen.«

Melissa beobachtete, wie Jimmy geringschätzig den Mund verzog. Wahrscheinlich ging ihm Paul Gerhardt genauso auf die Nerven wie ihr. Ein typischer Klugscheißer, der immer alles besser wusste.

»Aber nicht alle Massai halten sich an das Verbot«, erwiderte Jimmy. »Die Löwenjagd wird wohl nie ganz aussterben.«

»Die Trophäenjagd der Weißen aber auch nicht«, sagte Melissa.

»Und was bringt Sie nach Afrika, junge Dame?«, wandte sich Paul Gerhardt an sie. »Allein reisende Damen findet man hier höchst selten, wenn ich mich nicht irre.«

Melissa hatte keine große Lust, sich mit ihm zu unterhalten, antwortete ihm aber pflichtbewusst: »Die Serena African Lodge hat mich zu einem sechswöchigen Praktikum in die Serengeti eingeladen. Ich gehe auf eine Tourismusfachschule in Österreich. Wir müssen jedes Jahr ein Praktikum vorweisen. In einem Hotel, Restaurant oder irgendeinem anderen Touristik-Unternehmen. Außerdem interessiere ich mich für Afrika. Das Land gehört seit langer Zeit zu meinen Traumzielen. Ich könnte mir sogar vorstellen, nach meiner Ausbildung hier in Afrika zu arbeiten.«

»Sie klingen gar nicht wie eine Österreicherin«, sagte Paul Gerhardt.

Sie musste lächeln. »Ich komme aus Hofheim im Taunus. Mein Vater ist Engländer und meine Mutter stammt aus Frankfurt. Englisch, Hochdeutsch und Hessisch, mehr habe ich leider nicht vorzuweisen. Aber wenn es die Zeit erlaubt, will ich ein wenig Kisuaheli und auch die Sprache der Massai erlernen. Sich ein wenig in der Landessprache auszukennen, ist unerlässlich, wenn man sich ernsthaft mit der Kultur eines Volkes auseinandersetzen will, sagt unser Erdkundelehrer immer.«

»Da hat er sicher nicht ganz unrecht. Und warum eine österreichische Schule?«

»Weil die Österreicher für ihre guten Touristikschulen bekannt sind und ich nach meinem Abschluss in mehreren Berufen arbeiten könnte: als Köchin, im Service und im Touristik-Management.« Sie erzählte ihm nicht, dass sie in erster Linie vor allem ihrem damaligen Freund nach Österreich gefolgt war, dass dieser die Schule schon nach einem halben Jahr wieder verlassen hatte und inzwischen in irgendeinem Restaurant jobbte. Erst recht verriet sie ihm nicht, wie froh sie vor drei Jahren gewesen war, im weit entfernten Österreich ihren ständig streitenden Eltern zu entkommen.

»Eine gute Ausbildung ist das A und O«, meldete sich Biggi Gerhardt mit einer Binsenweisheit. »Sie machen das schon richtig, Melissa. Ich darf doch Melissa zu Ihnen sagen? Ohne eine gute Ausbildung wären wir den Männern doch hilflos ausgeliefert. So wie meine Großmutter, Gott hab sie selig, die blieb ihr Leben lang bei ihrem Mann, obwohl sie ihn nicht ausstehen konnte. Da haben wir heutigen Frauen es doch leichter. Wir lassen uns nicht herumscheuchen.«

Melissa hatte keine Lust auf eine längere Unterhaltung mit den Gerhardts und drehte sich wieder nach vorn. Ein Bus kam ihnen entgegen, fuhr viel zu dicht an ihnen vorbei und verschwand im Rückspiegel. Jimmy war ein sicherer Fahrer. Er hatte meist beide Hände am Lenkrad und ließ sich durch die rüde Fahrweise einiger anderer Autofahrer nicht aus der Ruhe bringen. Dennoch zuckte Melissa jedes Mal zusammen, wenn ihnen ein Wagen entgegenkam. Sie musste sich erst an den Linksverkehr in Tansania gewöhnen. Die Straße war jedoch besser, als sie gedacht hatte, und entsprach so gar nicht dem Klischee der holprigen Sandpisten im wilden Afrika.

Langsam wurde sie müde. Der lange Flug und die anstrengende Zollkontrolle waren auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Auf der Rückbank lehnte Biggi Gerhardt bereits an der Schulter ihres Mannes und schnarchte leise, ein Bild, das sie Jimmy sicher gern erspart hätte. Sie schien einen Narren an dem Guide gefressen zu haben, zumindest hatte sie ihn wie ein Schulmädchen angehimmelt.

Melissa fand ihn weder attraktiv noch besonders aufregend. Er sah nicht wie die Guides und Ranger in den alten Hollywood-Filmen aus, wirkte trotz seiner Aufmachung eher langweilig und gehörte auch nicht zu der geschwätzigen Sorte wie manche Fremdenführer, die zu jedem Baum und jedem Stein eine Anekdote auf Lager hatten. Vielleicht hob er sich die für seine Safaris auf, wenn ihn die Teilnehmer mit satten Trinkgeldern für seine Dienste und Scherze belohnten.

Ungefähr dreißig Kilometer hinter Seronera bogen sie auf eine Sandstraße ab. Die Piste wurde holpriger und zwang Jimmy, langsamer und bedächtiger zu fahren. In sanften Windungen zog sich der erdfarbene Trail durch das Savannengras, wich vereinzelten Akazien und Affenbrotbäumen aus, erklomm Hügel und führte durch tiefe Senken. Im Rückspiegel konnte Melissa die mächtige Staubwolke sehen, die hinter ihnen unter den Rädern aufwallte. Selbst durch die geschlossenen Scheiben glaubte sie, den Staub riechen und schmecken zu können. Ein unangenehmes Gefühl und doch so typisch für das Leben auf der weiten Savanne.

Noch würde es ungefähr zwei Stunden dauern, bis die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand, und sie brauchten keine Angst zu haben, im Dunkeln fahren zu müssen. Ein Risiko, das man unbedingt vermeiden sollte, wenn man auf eigene Faust durch die Serengeti fuhr, so stand es in jedem Reiseführer. Umso romantischer war das Licht, das die untergehende Sonne auf die Savanne warf. In sanften Goldtönen schimmerte das kniehohe Gras, während der laue Wind nur leise in den Halmen raschelte, als wollte er den frühen Abend nicht mit lautem Pfeifen stören. Bald würde der Gesang der Zikaden einsetzen, auch das wusste Melissa aus Filmen und Büchern, und den Soundtrack der nächtlichen Savanne bereichern.

Mit wachsender Begeisterung blickte sie auf die Savanne hinaus. Sie amüsierte sich über die aufgeregten Affen, als sie zu dicht an einer Akazie vorbeifuhren, sah eine Hyäne über die Piste huschen und glaubte in der Ferne sogar einen Leoparden entdeckt zu haben, war sich aber nicht sicher. Sie fuhren in eine andere Welt. Trotz aller Bemühungen des weißen Mannes, die Kontrolle über die Wildnis zu erlangen, regierte in der Serengeti immer noch die Natur. So musste es hier direkt nach der Schöpfung ausgesehen haben.

Eine Lampe am Armaturenbrett flammte auf und zwang den Guide, so plötzlich anzuhalten, dass Biggi Gerhardt aus dem Schlaf schreckte und nervös rief: »Was ist passiert? Wo bin ich? Sind wir schon da, Jimmy? Sind Sie da, Jimmy?«

Jimmy ließ sich durch das nervöse Geplapper der Frau nicht aus der Ruhe bringen. »Kein Grund zur Panik«, sagte er, »irgendwas ist mit dem Kühlwasser. Das haben wir gleich.« Er öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um. »Bleiben Sie am besten im Wagen sitzen. Wenn Sie sich die Beine vertreten wollen, dann gehen Sie höchstens ein paar Schritte.« Er stieg aus, öffnete die Motorhaube, und man hörte, wie er sich mit einem Messer an irgendetwas zu schaffen machte.

Seine Passagiere stiegen ebenfalls aus, blickten staunend über das weite Grasland und atmeten genussvoll die warme Abendluft ein. Melissa und Biggi Gerhardt blieben beim Wagen, wie es Jimmy empfohlen hatte, nur Paul Gerhardt widersetzte sich seinem Wunsch und lief mit gezückter Kamera auf eine ungefähr zwanzig Meter entfernte Akazie zu. Anscheinend hatte er ein Tier entdeckt.

»Geh nicht zu weit!«, bat ihn seine Frau ängstlich.

»Ich kenne mich aus«, antwortete er.

Melissa reichte es, neben dem Wagen stehen zu bleiben und die Aussicht zu genießen. So spektakulär, wie einige der Filme, die sie gesehen hatte, gewesen waren, so wenig hatten sie mit dem Gefühl gemein, tatsächlich in der Serengeti zu stehen und dieses Land hautnah zu spüren. Sie bückte sich, hob etwas Erde auf und ließ sie durch die Finger rieseln. Diese Steppe war etwas ganz Besonderes, die Wiege der Menschheit, wie manche Gelehrte behaupteten, und besaß eine solche Anziehungskraft auf sie, dass sie sich ihr kaum entziehen konnte. So wie man manchmal hofft, sein ganzes Leben mit einem bestimmten Menschen verbringen zu können, ging es ihr mit diesem Land. Sie hatte es schon immer instinktiv gespürt und wurde jetzt eindrucksvoll bestätigt, hier ihre Zukunft verbringen zu wollen.

»Paul! Wo gehst du denn hin?«, rief seine Frau nervös.

Melissa blickte in seine Richtung und stellte fest, dass er schon beinahe die Hälfte des Weges zu der Akazie zurückgelegt hatte. Und sie entdeckte jetzt auch, wie sich der Schwanz einer Raubkatze bewegte und für einen Augenblick von der Baumkrone abhob.

»Jimmy!«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Jimmy! In dem Baum ist irgendwas! Eine Raubkatze, ein Löwe oder so was Ähnliches!«

Jimmy schloss die Motorhaube und drehte sich erschrocken nach Paul Gerhardt um. Er sah auf Anhieb, in welcher Gefahr sich der scheinbar ahnungslose Lehrer befand.

»Paul!«, rief er gerade so laut, dass dieser ihn hören konnte. »Drehen Sie um! Kommen Sie sofort zurück! Jetzt! Keinen Schritt weiter, Paul!«

»Ich will nur ein paar Affen fotografieren«, rief Paul Gerhardt zurück. »Ich glaube, da verstecken sich welche in der Baumkrone. Ich bin gleich zurück, Jimmy!«

»Das sind keine Affen, Paul! Das ist ein Leopard!«

»Ein Leopard?« Gerhardt blieb wie versteinert stehen. »Aber …«

»Ein Leopard?«, erschrak auch seine Frau. Sie lief zu dem Guide und klammerte sich an seinen Arm. »Tun Sie doch was, Jimmy! Sie müssen ihn da rausholen!«

»Kommen Sie zurück! Ganz langsam!«

Melissa glaubte, selbst auf die Entfernung zu erkennen, wie Gerhardt zitterte. Er konnte von Glück sagen, dass er seine Kamera umgehängt hatte, sonst hätte er sie sicher fallen lassen. Mit vorsichtigen Schritten, als könnte ihn jedes zu feste Auftreten verraten, kehrte er rückwärts zum Wagen zurück. Viel zu langsam für seine Frau, die sich verzweifelt an den Guide klammerte und nervös schluchzte.

»Haben Sie denn kein Gewehr? Wo ist Ihr Gewehr?«

»Wir dürfen keine Waffen tragen«, erwiderte Jimmy. »Im Nationalpark sind nur die Ranger bewaffnet.« Er ließ ihren Mann nicht aus den Augen, verfolgte jeden seiner Schritte. »Jetzt können Sie sich umdrehen. Aber rennen Sie nicht!«

Melissa behielt weiter den Leopard im Auge. Seine Tarnung war perfekt, und er war nur schwer von dem Laubwerk zu unterscheiden. Doch jetzt bewegte er sich mehrmals, hatte den Lehrer wahrscheinlich längst entdeckt und war glücklicherweise zu satt, um ihm nachzulaufen. Beinahe gelangweilt zog er sich zurück.

Paul Gerhardt war kreidebleich, als er seine Frau umarmte und mit ihr zusammen im Wagen verschwand. Wie zwei Ertrinkende hielten sie sich aneinander fest. Im Innenspiegel sah Melissa, wie beide vor Angst zitterten. Irgendwie geschieht es euch auch recht, dachte sie gehässig, hütete sich aber, etwas zu sagen.

»Machen Sie so was nie wieder!«, mahnte Jimmy ernst.

2

Die Seronera African Lodge bestand aus zwölf zweistöckigen Bungalows, die so perfekt in die hügelige Landschaft eingegliedert waren, dass Melissa sie auf den ersten Blick beinahe übersehen hätte. Versteckt zwischen einem Dickicht von zahlreichen Akazien, bedeckten sie eine steile Anhöhe, nur wenige Hundert Meter vom Grumeti River entfernt. Am Flussufer lag ein Außencamp der Lodge, das sogenannte Bush Camp, das lediglich aus einer Lehmhütte und einer eingezäunten Terrasse bestand.

»Vom Bush Camp kann man die Tiere bei ihrer Wanderung nach Norden beobachten«, sagte Jimmy, als er den Geländewagen vor dem Eingang parkte. »Sie kommen genau zur richtigen Zeit.«

Kaum hatte der Guide den Wagen angehalten, eilte ein Angestellter herbei und schnappte sich die Koffer der Gerhardts. Melissa trug ihren Rucksack selbst. In der Eingangshalle blieb sie stehen und blickte sich staunend um. Sie war geräumiger, als sie gedacht hatte, und passte mit ihren Wänden aus dunklen Balken und Natursteinen und dem gewölbten Strohdach perfekt zur Umgebung. Eine junge Massai, wie Melissa an der traditionellen Tracht erkannte, begrüßte die Gerhardts und auch sie mit fruchtigen Drinks, die glücklicherweise keinen Alkohol enthielten. Sie mochte keine scharfen Sachen, nicht mal in exotischen Fruchtsäften.

Aus einem Büro neben der Rezeption, deren Tresen ebenfalls aus dunklem und poliertem Holz gezimmert war, trat ein Mann in einem teuren Maßanzug, die bunte Krawatte sorgfältig gebunden und die Schuhe aus feinstem Leder und auf Hochglanz getrimmt. »Willkommen in der Seronera African Lodge«, begrüßte er Melissa und die Gerhardts in beinahe akzentfreiem Deutsch. Sein gekünsteltes Lächeln verriet, dass er diesen Satz vermutlich fast jeden Tag sagte. »Ich bin Martin Conroy, der Manager dieser herrlichen Anlage. Ich freue mich, dass Sie den Weg in dieses aufregende Land gefunden haben, und wünsche Ihnen einen angenehmen Urlaub. Wenn Sie sich bitte zur Rezeption bemühen wollen. Unsere Nalangu hält alle Informationen für Sie bereit, die Sie für Ihren Aufenthalt bei uns brauchen.« Er deutete auf die junge Afrikanerin hinter dem Tresen, ebenfalls eine Massai in historischer Tracht.

Während die Gerhardts zur Rezeption gingen, wandte sich Conroy an Melissa: »Und Sie sind sicher Melissa Baxter, unsere neue Praktikantin, nicht wahr?«

Sie bejahte und wurde von dem Manager in sein Büro gebeten. »Nehmen Sie Ihren Drink ruhig mit«, sagte er, als sie zögerte. Er bot ihr den ledernen Besucherstuhl an und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Anscheinend hatte er ihre Akte vor sich liegen. »Sie sind sicher todmüde, Melissa«, wechselte er ins Englische, »deshalb will ich es kurz machen. Wie ich sehe, sind Sie zweisprachig aufgewachsen, das ist schon mal ein großer Vorteil. Die meisten unserer Gäste kommen aus England, Deutschland und den USA. Und Ihr Zeugnis kann sich ebenfalls sehen lassen. Ihre Schule hat einen hervorragenden Ruf, wussten Sie das? Aber ich schweife schon wieder ab. Sie werden in den sechs Wochen bei uns alle Abteilungen durchlaufen, für die Sie in Österreich ausgebildet werden, das heißt, Sie werden im Servicebereich, dem Housekeeping, der Küche, an der Rezeption sowie auf den Safaris arbeiten. Auf diese Weise profitieren Sie am meisten von Ihrem Aufenthalt und haben auch genug Zeit, die Gegend kennenzulernen. Einverstanden?«

»Natürlich, Sir. Ich freue mich sehr, dass Sie mich genommen haben. Mein Traum ist es, später einmal auf Dauer in Afrika zu arbeiten.« Sie nippte an ihrem Drink und versuchte, trotz ihrer Müdigkeit einen fröhlichen Eindruck zu machen.

»Dann sind wir uns ja einig. Sie werden sich eines unserer Angestellten-Apartments im Anbau mit Malaika teilen, einer jungen Massai. Sie absolviert eine dreijährige Lehre in unserer Lodge. Unser Bestreben ist es, die Massai auf nachhaltige Weise in unsere Aktivitäten einzubinden.« Mister Conroy stand auf und forderte sie mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. »Kommen Sie, ich stelle Sie unserem Koch vor. Otto Werner oder Werner Otto, genau weiß das nicht mal er. Ein Deutscher aus dem Sauerland. Sie haben doch sicher Hunger. Die nächsten Tage werden Sie ihm unterstellt sein, zuerst im Service und dann in der Küche.«

Otto war ein fröhlicher Kerl um die Vierzig, der seinen Bierbauch mit einem gewissen Stolz vor sich herzutragen schien.

»Freut mich«, sagte er, als der Manager verschwunden war. »Ich bin Otto und der lebende Beweis dafür, dass nicht alle Sauerländer griesgrämige Sauertöpfe sein müssen.« Wie zum Beweis grinste er über beide Backen. Er reichte Melissa einen Suppenteller mit Eintopf und deutete auf die offene Tür neben der Essensausgabe. »Malaika isst auch gerade. Hab schon gehört, dass Sie zusammenwohnen. Sie zeigt Ihnen alles. Wir sehen uns morgen früh um fünf Uhr. In der Küche und im Service geht es schon vor Sonnenaufgang hoch her. Gefrühstückt wird nebenbei. Schaffen Sie das, Melissa?«

»Unter Druck arbeite ich am besten, Otto«, erwiderte sie lächelnd.

Sie ging mit ihrem Teller in den Nebenraum und sah Malaika am Kopfende des langen Esstisches sitzen. In ihrer Massai-Tracht, dem leuchtend roten Umhang und den schwarzrot gemusterten shukas über ihren Schultern, sah sie wie eine exotische Prinzessin aus. Ihr Kopf war bis auf ein paar Stoppelhaare kahl rasiert und mit Ockerfarbe bemalt, ihre Ohrläppchen nach alter Tradition durchstochen und mit Perlenkettchen beschwert. Um ihren Hals hing ein perlenbestickter Reifen, um ihre Hand- und Fußgelenke wanden sich spiralenförmige Kupfergebilde. Ihr Gesicht war kantig, aber attraktiv, vor allem wegen der ausdrucksstarken Augen, die in dem kahlen Schädel besonders gut zur Geltung kamen.

»Darf ich?«, fragte Melissa, bevor sie sich zu ihr setzte. Sie stellte sich vor und freute sich, dass Malaika ihren Gruß so freundlich erwiderte. »Ich hab gehört, wir teilen uns ein Apartment. Du siehst sehr eindrucksvoll in der Tracht aus.«

Malaika war schon fertig mit dem Essen und tunkte gerade einen Weißbrotrest in die übrig gebliebene Soße. Das Kompliment hörte sie bestimmt nicht zum ersten Mal.

»Aber arbeiten kann man darin nicht besonders gut. Bei der Feldarbeit tragen unsere Frauen auch nicht alle Tücher und den ganzen Schmuck, aber hier besteht Mister Conroy darauf. Die Gäste wollen Massai in traditioneller Kleidung sehen, deshalb soll ich mich während des Essens und auch auf der Terrasse und am Pool so oft wie möglich in meiner Tracht zeigen und mit den Gästen für Fotos posieren.« Sie lächelte ein wenig verlegen. »Dabei trage ich viel lieber Jeans und T-Shirt. Ich bin auf die Missionsschule in Arusha und später auf die öffentliche Schule gegangen und habe mein Leben im Enkang schon längst hinter mir gelassen. So nennen wir unsere Dörfer. Ich spreche Englisch, hab ein Handy und benehme mich wie jede andere moderne Afrikanerin. Aber dass wir in der Gegenwart angekommen sind, wollen die Touristen nicht sehen. Aber was soll’s, ich bin froh, Geld mit diesem Job verdienen zu können. Ich unterstütze meine Mutter. Sie lebt in unserem Dorf am Duma River und will auf keinen Fall von dort wegziehen.« Sie versank für einen Augenblick in Gedanken. »Aber ich rede zu viel. Du bist sicher müde und musst morgen früh raus. Komm, ich zeig dir unser Quartier im Anbau.«

Nachdem auch Melissa ihr Essen beendet hatte, stellten sie Geschirr und Besteck in die Spülmaschine, bedankten sich bei Otto und gingen in den Anbau, der wesentlich nüchterner als die restliche Lodge eingerichtet war und nur eine Aussicht auf den nahen Parkplatz bot. Aber sie hatten jede ihr eigenes Zimmer, über den Betten hingen Moskitonetze und es gab ein Bad mit Dusche. Melissas Dienstkleidung, dunkelgrüne Blusen und T-Shirts mit dem Logo der Lodge und ein breitkrempiger Strohhut, lagen in ihrem Schrank. Einen dunklen Rock und dunkle Hosen hatte sie selbst mitgebracht.

»Wir sehen uns morgen«, verabschiedete sich Malaika, als Melissa ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. »Ich bin diese Woche auch für den Service eingeteilt.«

Obwohl die Sonne gerade erst untergegangen war, schlief Melissa sofort ein. Die zahlreichen Eindrücke, die sie schon vor ihrer Ankunft gewonnen hatte, vermischten sich zu einem seltsamen Traum, den sie am nächsten Morgen schon wieder vergessen hatte. Um vier Uhr morgens wachte sie von ganz allein auf, auch ohne den Wecker, den sie in ihrem Smartphone gestellt hatte. Sie hatte über acht Stunden geschlafen und war einigermaßen munter. Nach einer heißen Dusche fühlte sie sich wie neugeboren.

Zusammen mit Malaika, die es in erstaunlich kurzer Zeit schaffte, ihre Tracht anzuziehen und sich zurechtzumachen, meldete sie sich bei Otto, der seine Helfer bereits lautstark herumscheuchte.

»Guten Morgen, die Damen!«, begrüßte er sie auf Englisch, der Amtssprache auch in der Lodge. »Alle fünfzehn Tische. Teller, Besteck, Zucker und Süßstoff, Kondensmilch … Malaika weiß, wo alles liegt.«

Melissa studierte seit zwei Jahren an der Tourismusschule und hatte perfektes Servieren gelernt. Sie wusste genau, welche Teller und welches Besteck für welches Essen benötigt wurden und wie alles auf den Tischen zu liegen hatte. Die Servietten im Lodge-Grün steckten in polierten Holzringen, die Speisekarten mit den Angeboten »Pilzomelett mit Rosmarinkartoffeln«, »Frische Grapefruit«, »Cereals mit Waldbeeren« und dazu »Toast mit Butter und Marmelade« waren in großer Schreibschrift auf hellgrüne Papierrollen gedruckt. Dank ihrer Routine arbeitete sie so schnell und sorgfältig, dass selbst der Koch anerkennend nickte.

Die eigentliche Arbeit begann allerdings, als die ersten Gäste um kurz nach sechs Uhr eintrafen. Melissa und Malaika hatten gerade noch Zeit für einen Becher Kaffee und einen Toast mit Marmelade, dann setzten sich die Gerhardts an den Ecktisch, und Melissa wurde gleich richtig gefordert.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, wünschte sie dem Ehepaar. »Ich hoffe, Sie haben sich gut von der langen Anreise erholt. Was darf ich Ihnen bringen? Kaffee? Tee?«

Beide bestellten Kaffee, doch als sie mit der Kanne zurückkehrte und ihnen einschenkte, wurde es schon schwieriger.

»Ich hätte gern das Omelett«, sagte Paul Gerhardt, »aber bitte nicht zu kross und vor allem nicht so stark gesalzen.« Er blickte seine Frau an. »Weißt du noch, auf der Studienreise nach Athen? Die meisten Speisen waren versalzen, dabei weiß doch jeder, wie ungesund Salz ist. Dazu bitte Toast, nur leicht angebräunt, und gute englische Orangenmarmelade.«

»Für mich bitte die Grapefruit und die Waldbeeren ohne die Cerealien oder wie man Cornflakes neuerdings nennt. Den Toast bitte ebenfalls nicht zu braun und dazu Erdbeermarmelade.« Sie lachte. »Marmelade muss rot bei mir sein, wissen Sie? Und wenn Sie noch etwas Schlagsahne für meinen Kaffee hätten, Fräulein?«

Otto verdrehte die Augen, als Melissa ihm die Sonderwünsche der Gerhardts mitteilte, schaffte es aber tatsächlich, die meisten Wünsche zu erfüllen. »Nicht vergessen«, ermahnte er sie, »der Kunde ist immer König.«

Den Satz hatte Melissa auch in der Tourismusschule gelernt. Sie brachte die Speisen zu den Gerhardts und erntete ein dankbares Lächeln. Aber sie wären nicht die Gerhardts gewesen, wenn Biggi nicht noch einen Sonderwunsch gehabt hätte. »Hätten Sie vielleicht Stevia?«, fragte sie. »Auf dem Tisch stehen nur die gängigen Süßstoffsorten.«

»Ich werde gleich mal nachfragen«, versprach Melissa. Sie eilte in die Küche und fand tatsächlich ein Päckchen mit dem angeblich biologischen Süßungsmittel. »Ich hoffe, wir haben noch eine Packung davon!«, rief sie Otto lachend zu.

Die meisten anderen Gäste waren weniger anspruchsvoll und hatten kaum Sonderwünsche, außer einem englischen Industriellen und seiner Freundin. John Lowell verlangte eine Bloody Mary und eine kubanische Zigarre zum Frühstück.

»Bei den Lowells müssen Sie besonders vorsichtig sein«, ermahnte sie Otto. »Ein stinkreicher Immobilienmakler aus London; der verdient mehr Geld an einem Tag als die komplette Belegschaft hier in ihrem ganzen Leben. Ich glaube nicht, dass der nur hier ist, um ungestört mit seiner hübschen Freundin … na, Sie wissen schon. Wie ich den einschätze, will er bestimmt investieren, also fassen Sie ihn bitte mit Samthandschuhen an. Malaika hat ihren Rüffel bereits weg, weil sie gestern zu lange mit der Bloody Mary unterwegs war. Ab sofort übernehmen Sie ihn.«

John Lowell war ein Unsympath ersten Ranges. Mitte vierzig, schätzte Melissa, schütteres Haar, leichter Bauchansatz, sündhaft teure Kleidung.

»Sie sind neu hier, was?«, sagte er, als sie ihm die Bloody Mary brachte. »Wurde auch höchste Zeit. Dem Massai-Mädchen musste ich erst mal erklären, was eine Bloody Mary ist.« Er trank einen Schluck und schien sich erst jetzt daran zu erinnern, dass seine Freundin bei ihm war. »Ach ja, und bringen Sie Edith doch einen Prosecco. Und zum Frühstück … was meinst du, Edith? Zwei gekochte Eier, nicht zu hart, und etwas von dem guten Kaviar, den wir gestern hatten? Und frischen Toast.«

Otto hatte den Kaviar bereits vorbereitet und grinste nur, als sie mit der ausgefallenen Bestellung kam. »Ich glaube, der mag gar keinen Kaviar, so wie der jeden Morgen darin herumstochert. Den bestellt er nur, um sein blondes Häschen zu beeindrucken. Die ist doch höchstens halb so alt wie er. Na, was soll’s, geht mich ja nichts an. Meinetwegen soll er glücklich werden mit seinem Kolibri.«

»Kolibri?«, wunderte sich Melissa.

»So nennt er sie. Kolibri.«

Die Arbeit war anstrengender, als Melissa erwartet hatte, und forderte sie ähnlich stark wie das belgische First-Class-Hotel, in dem sie ihr letztes Praktikum absolviert hatte. Denn kaum hatten sie die Frühstückstische abgeräumt, standen schon die Vorbereitungen für den Lunch auf dem Programm, der zwar wesentlich sparsamer als das abendliche Dinner ausfiel und als Büfett angeboten wurde, ihnen aber dennoch sehr viel abverlangte. Für ihr eigenes Mittagessen blieb ihnen gerade mal eine Viertelstunde, bevor die ersten Gäste kamen. Zum Lunch erschien nicht einmal die Hälfte aller Lodge-Bewohner, weil die meisten an Ausflügen oder einer Safari teilnahmen, dennoch waren sie danach reif für einen Mittagsschlaf.