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Prolog

13. Juni 2014

Tief aus der Kiste der Erinnerungen habe ich diese Aufzeichnungen hervorgeholt. Beim Lesen war alles sofort wieder da, obwohl es ja nie richtig weg war. All die Jahre tauchte dieser Junge vor meinen Augen auf. Manchmal bin ich von seinem Wimmern aufgewacht. Beim Autofahren hab ich ihn auf dem Rücksitz des vor mir fahrenden Wagens gesehen. Manchmal habe ich gedacht, dass alles nur ein böser Traum ist, dass er lebt und vielleicht irgendwann auch wieder auftaucht.

Ich denke, wie alles anders geworden wäre, wenn es damals nicht passiert wäre. Warum habe ich da mitgemacht? Tausendmal habe ich mir diese Fragen gestellt. Warum hat mir der Mut gefehlt, einzugreifen, nein zu sagen? Mein ganzes Leben habe ich mir vorgestellt, wie es hätte anders verlaufen können.

Jetzt jammere ich wieder über mein verkorkstes Leben. Dabei konnte ein anderer sein Leben erst gar nicht richtig leben.

Ich sehe seine Augen vor mir. Sie schauen mich an. Warum tust du nichts für mich? Warum hilfst du mir nicht, warum lässt du alles einfach so geschehen? Warum lässt du mich zum Opfer werden? Ich bin schwach, zu schwach und zu ängstlich, heute wie damals. Ich schäme mich.

Den Jürgen hab ich seitdem nicht mehr gesehen. Aber vor ein paar Tagen hat er angerufen.

Er will mit mir reden. Der Parkplatz an der Autobahn wird saniert. Mensch, da kann etwas entdeckt werden, das will doch keiner von uns!

Ich habe nicht reagiert. Was Karl dazu gesagt hat, das weiß ich nicht. Aber der ist jetzt tot. Wie er gestorben ist, das passt ziemlich gut zu Jürgen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Es tut mir so fürchterlich leid.

Montag, 9. Juni 2014

Eine Woche Urlaub in Thüringen, in Meuselwitz an der Schnauder, das war sehr schön. Eine Einladung der Partnergemeinde unseres Ortes. Da sind wir alle hingefahren, na klar. Wir haben viel gehört von machthungrigen Herzögen, und als offizielle Besucher der Stadt wurden wir herumgereicht. Wir hörten Geschichten von Lehnsherren, Hexenpogromen und Braunkohleförderung. So ohne die Silke hat das aber alles keinen Spaß gemacht.

Nachdem ich im vergangenen Jahr den Brudermord in einer Millionärsfamilie gelöst hatte, bin ich oben geschwommen. Mit einer jungen Polizeischülerin ist es dann passiert. Für sie und für mich war es nichts Ernstes, aber Silke hat das ganz anders gesehen. Jetzt kann ich nur hoffen, dass sie mir noch eine Chance gibt. Ich sehne mich ziemlich nach ihr.

Statt Silke sind halt die Mutti und die Tante Jutta mitgefahren. Und sie hatten dort eine tolle Zeit zusammen mit ihren Liebschaften. Die blühten so richtig auf. Ich finde es amüsant, wenn sich Menschen um die siebzig aufführen wie Teenager. Aber ich gönns ihnen.

Der erste Tag nach dem Urlaub ist immer ein bisschen komisch. Viel Arbeit wartet, aber die Kollegen haben mir doch ein wenig gefehlt.

In der Polizeidirektion treffe ich gleich auf Biggi. Mit ihr hatte ich vor Silke eine Affäre. Wir haben aber beide beschlossen, dass ein Mal genug ist und wir trotzdem Freunde sein können. Sie ist auch gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen, sie war mit ihrem neuen Freund eine Woche auf Gran Canaria. Alles war toll, „nicht nur das Wetter”, zwinkert sie mir zu, und das freut mich, weil sie schon ein paar unglückliche Beziehungen hinter sich hat. Wir trinken Kaffee aus der sündhaft teuren Maschine von Polizeidirektor Dr. Roth. Der muss sich heute in Wiesbaden persönlich um den Fortgang seiner Karriere kümmern. Dr. Roth ist ein Karrieremensch, den sie aus Frankfurt nach Friedberg in die Provinz versetzt haben. Nachdem er in der Großstadt einigen Leuten auf die Füße getreten ist, bekam sein steiler Aufstieg einen Knick. Das wieder auszubügeln, fordert Roths ganze Energie. Aber dafür lässt er uns ziemlich in Ruhe.

Die Kaffeemaschine schäumt die Milch so schön auf, das kriegen die sonst nur in Italien hin. Wenn der Roth weg ist, dann wollen alle an die Maschine. Und Biggi ist eben die Vorzimmerdame von Dr. Roth und darf die Maschine bedienen. Wie ich so meinen Latte Macchiato schlürfe, stürzt Edgar Schwatz rein. Das ist der Kripochef und nach Roth der wichtigste Mann in der Polizeidirektion.

„Wetz, wo treiben Sie sich rum? Ich hab Sie die ganze Zeit schon gesucht. Sie werden gebraucht. In Echzell hat man einen Toten gefunden. Sieht übel aus. Fahren Sie da mal hin! Und nehmen Sie Kramer mit, der braucht Praxis.”

Oh nee, ausgerechnet Kramer. Das ist der Neue, der einem so auf die Nerven geht, weil er mit seinen Mutmaßungen dauernd daneben liegt. Und die äußert er leider ziemlich oft. Der Bursche ist Mitte zwanzig, kann ganz gut schießen und schnell laufen. Der ist aber so dürr, dass selbst meine zierliche Silke den aus den Socken hauen könnte. Kramer hat Jura studiert und will sich für „künftige Aufgaben” qualifizieren. Ein Theoretiker, wie er im Buch steht. Der ist so schlau, er weiß nicht nur alles, er weiß alles sogar besser.

Kramer wartet schon im Hof bei unserem neuen Opel-Dienstwagen.

„Ich fahr lieber mit meinem Eigenen”, rufe ich.

Und so trabt er zu mir herüber. Über den Wagen lästert er: „Coole Karre. Noch aus dem letzten Jahrtausend?”

„Junger Mann, das ist ein Mercedes 280 S, Baujahr 1986. So eine Qualität wird schon lange nicht mehr gebaut, das ist ein Auto, von dem Staatsmänner träumen, und keine ‚coole Karre’.”

„Oh Entschuldigung, ich wusste ja nicht ... Ich bin übrigens der Robert.”

„Prima Robert, ich bin der Herr Wetz. Kannst aber auch ‚Chef’ zu mir sagen.”

Den Rest der Fahrt schweigen wir. Von der Polizeidirektion in Friedberg fahren wir über die Dörfer. Jetzt im Juni ist der Raps verblüht. Weizen und Roggen stehen noch saftig auf den Äckern. In drei oder vier Wochen färbt sich alles goldgelb, die Ernte beginnt. Das Gesicht der Wetterau hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Keine dreißig Kilometer sind es von hier in die Metropole Frankfurt. Viele Wetterauer verdienen ihr Geld in der Großstadt, und nicht wenige Großstädter sind hier aufs Land gezogen. Das Landleben behagt aber nicht jedem. Da werden schon mal die Kollegen von der Schutzpolizei angerufen, weil ein Bauer am Sonntag die Gülle ausfährt. Auch unsere Sprache hat sich verändert. Der Wetterauer Dialekt wird immer seltener gesprochen. Der Kreis kümmert sich jetzt darum, der Landrat hat sogar einen Wettbewerb ausgeschrieben. Im Alltag wird immer mehr geschliffenes Hochdeutsch gesprochen, auch bei uns in der Polizeidirektion; und Kramer ist dafür so ein ganz besonderes Beispiel. Der bringt es sogar fertig, alte Hasen bei der Dienstbesprechung zu verbessern, weil die den „hessischen Komparativ”, wie Kramer sagt, benutzen. Dabei heißt es bei uns schon immer „größer wie” statt „größer als”. Das ist nun mal unsre Sprache.

Verändert hat sich auch die Landschaft. Noch vor einigen Jahren war die Zuckerrübe die vorherrschende Ackerpflanze, in Friedberg gab es sogar eine Zuckerfabrik. Heute wachsen überall Energiepflanzen auf den Feldern.

Gestern hat es geregnet, die Luft ist klar, der Turm auf dem Feldberg, dem höchsten Berg des Taunus, ist im Westen deutlich zu erkennen. Vor mir liegt im Norden der Vogelsberg, der den Ruf der Rauheit hat. Ganz zu unrecht. Zumindest jetzt im Sommer präsentiert er sich mit dem Auf und Ab seiner geschwungenen Linien irgendwie lieblich.

Ich heiße eigentlich Karl-Heinz, so nennt mich aber niemand. Meine Freunde sagen Kalli zu mir. Das muss sich Kramer aber erst noch verdienen. Wir fahren jetzt auf der „Hohen Straße”. Kilometerlang führt die alte Handelsstraße aus dem Mittelalter nach Echzell. Rechts und links liegen fruchtbare Äcker, hier hat sich die Wetterau ihren Ruf als Kornkammer erhalten. Tausendmal bin ich schon hier gefahren. Den Weg finde ich im Schlaf, und immer wieder erwische ich mich dabei, dass ich träume und an andere Dinge denke als an die Straße vor mir. Wenn ich dann in die Bachgasse komme, bin ich manchmal richtig überrascht. Echzell ist meine Heimat, hier bin ich geboren und hier würde ich niemals weggehen.

Schwatz hat mir die Wegbeschreibung zum Steinbruch Rupp mitgegeben, dabei kenne ich mich hier ziemlich gut aus. Der befindet sich in Bingenheim, einem Ortsteil von Echzell. Wie an vielen Stellen in der Wetterau liegt auch hier das Vulkangestein des Vogelsbergs direkt unter der Oberfläche. Vogelsbergbasalt ist erstklassiges Material für den Straßenbau und wird in unserer Region an vielen Stellen gewonnen. Der Betrieb von Rupp ist einer der größten in der Region.

Der Steinbruch liegt am Rande des Dorfes, die Zufahrt führt über eine Anhöhe. Dort steht ein Polizeiwagen, und die Kollegen der Schutzpolizei regeln den Verkehr. Vor allem versuchen sie, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, dass es hier nichts zu sehen gibt. Ein Kollege schiebt die Schranke hoch, als ich mit meinem Benz ankomme.

Der Schupo kennt mich, und ich kenne den Steinbruch. Ich habe im Steinbruch oft als Kind gespielt, auch wenn es verboten war. Mein Kumpel Jockel ist dabei einmal übel gestürzt und hat sich den Arm gebrochen, da waren wir beide zwölf. Dabei hat er vor Schmerzen das Bewusstsein verloren, ich bin zum nächsten Haus gerannt und habe Hilfe geholt. Danach gab es nicht nur mächtig Ärger zu Hause, sondern auch das Versprechen, nie mehr in den Steinbruch zu gehen.

An dieses vor fünfundzwanzig Jahren gegebene Versprechen denke ich, als ich mich mit dem Wagen wie in einer lang gedrehten Spirale nach unten schraube. Fast vierzig Meter tief haben sich die Bagger und Sprengmeister in das Vogelsberggestein gegraben. Am Grund des Steinbruchs schaue ich auf das, was vor mir liegt. Ich glaube, in den nächsten fünfundzwanzig Jahren werde ich auch nicht mehr herkommen.

Auf dem geschotterten Boden liegt etwas, was einmal ein Mensch gewesen sein muss. Davor steht eine große Straßenwalze, mit der der Teer und der Aufbau von Straßen verfestigt und geglättet wird. Der Geruch, den dieses Etwas verströmt, ist übel. Der Todeszeitpunkt muss schon ein paar Tage zurückliegen. Dicke Schmeißfliegen verrichten überall dort, wo Blut und Fleisch liegen, ihre Arbeit.

Praktikant Kramer verabschiedet sich mit würgenden Geräuschen, und auch mir ist der Appetit vergangen. Ich blicke auf den zweiten Kollegen von der Schutzpolizei.

„Ich hab die Spurensicherung und den Pathologen aus Gießen schon bestellt.”

„Oben an der Bürobaracke”, er zeigt in Richtung Ausgang, wo in zweihundert Metern Entfernung zwei zu Büros umfunktionierte Baucontainer stehen, „wartet Herbert Winkler. Der ist Vorarbeiter hier im Steinbruch, er hat den Toten gefunden und uns verständigt.”

„Wann war das?”, frage ich, nur um überhaupt etwas zu sagen, denn das könnte ich auch im Bericht nachlesen.

Mich macht das jedes Mal fertig, wenn jemand so plötzlich ums Leben kommt. Man möchte vielleicht glauben, dass man sich an den Tod gewöhnt. Aber das ist nicht so. Ich gewöhne mich nicht daran, und den Kollegen geht es nicht anders. Man könnte selbst das Opfer sein oder vielleicht sogar der Täter. Die meisten Morde werden nicht von gefühlskalten Bestien verübt. Oft ist Töten ein Ausdruck von Schwäche, von der Unfähigkeit, mit einer Situation fertig zu werden. Die Folge eines lange aufgestauten Hasses, von dem der Getötete vielleicht nicht einmal was gewusst hat.

Wenn ein alter Mensch nach einem erfüllten Leben stirbt, vielleicht nach langem Leiden, empfinde ich Mitgefühl mit den Angehörigen. Tritt aber der Tod so plötzlich durch einen Unfall oder ein Verbrechen ein, wirft er alle Pläne, die dieser Mensch noch hatte, über den Haufen. Das ist meine Angst, die bei jeder Begegnung mit dem Tod in mir hochkommt. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es in diesem Jenseits eine Strafe für das Böse, was man hier auf Erden tut? Hoffentlich ist es so. Ich kenne einige Gauner, die deutlich mehr als nur ihre Gefängnisstrafe verdient hätten.

Ich stelle mir das Leben als eine Menge von Möglichkeiten vor, die wir mehr oder weniger nutzen. Was aber passiert mit den ungenutzten? Bekommt man sie für ein neues, für ein anderes, höheres Leben zurück?

Mit diesen Gedanken gehe ich zum Vorarbeiter Winkler, den der Kollege wieder zum Tatort geschickt hat und stelle mich vor. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. So ein Anblick kann auch den stärksten Bauarbeiter umhauen.

„Ich kenn Sie doch, Sie waren doch früher immer mit ihrem Kumpel Jockel in Günnis Kneipe.”

Da trifft mich der Mann an meiner empfindlichsten Stelle. Der Günther, den alle Günni nennen, betreibt meine Stammkneipe, aber seit Silke nicht mehr dort arbeitet, sondern für ein halbes Jahr bei ihrem Bruder an der Ostsee, gehe ich da nur noch selten hin.

„Ja, stimmt”, sage ich und frage, um abzulenken: „Sie kennen den Toten?”

Er zuckt mit den Schultern.

„Das Audo vom Scheff steht hier, un die Hos kommt mer bekannt vor. So ne ähnlische hatt unsern Scheff aach. Also der Herr Rupp. Aber des kann auch en Zufall sein.” Seine Stimme klingt zittrig.

Zu erkennen ist von dem Menschen, der mit dem Gesicht im Asphalt liegt und von einer zehn Tonnen schweren Straßenwalze überrollt wurde, rein gar nichts mehr. Seine Identität können nur noch die Forensiker klären. Ich frage ihn deshalb, ob es hier in der Vergangenheit irgendwelche Auseinandersetzungen gegeben hat. Spuren eines Kampfes sind auf den ersten Blick nicht zu sehen.

„Ach wisse Se, geredt werd viel. Gesehe un gehört habb ich selber nix. Wenden Sie sich bitte an die Geschäftsleitung, die wird Ihnen mehr sagen können”, sagt er plötzlich auf Hochdeutsch.

So leicht lasse ich mich aber nicht abwimmeln.

„Herr Winkler, so einfach können Sie sich das nicht machen. Da ist ein Mensch gestorben. Wenn Sie etwas wissen, das zur Aufklärung des Verbrechens beitragen kann, müssen Sie das jetzt sagen.”

„Ich sach ihne doch, dass ich nix weiß ...”

„Aber ...?”

„Sie kriegens ja sowieso raus. Die Firma steckte in Schwierigkeiten. Der letzte Lohn steht noch aus.”

„Woran liegt das?”

„Keine Ahnung! De Scheff hat gesagt, er steckt in einer Ligwididätsklemme, also er hatt en finanzielle Engbass.”

„Und das haben Sie so einfach hingenommen?”

„Ei, was bleibt uns dann anneres übbrisch, finne Sie hier mal en Jobb mit übber Fuffzisch.”

„Ist so eine Walze schwer zu fahren?”

„Eischentlich net. Mer steckt den Schlüssel ins Zündschloss un los gehts.”

„Und wer fährt diese Walze?”

„Des macht normalerweise de Bruno Bauer, un wenn der ma net da ist, dann mach isch des ebe, odder de Scheff, also der Herr Rupp selber.”

„Wo finde ich Herrn Bauer?”

„Ach der, der hats mit der Bandscheibe und ist jetzt in der Reha in Bayern irgendwo.”

„Wieso steht diese Straßenwalze hier unten?”

„Die brauche mer hier, damit mer uff dene Wege mit dene schwere LKW fahrn kann”, gibt Winkler zurück.

Die Spurensicherung ist mittlerweile eingetroffen. Ich bitte sie, Fingerabdrücke und Speichelproben von Winkler zu nehmen. Die DNA-Probe von Bruno Bauer sollen die Kollegen in Bayern besorgen. Vielleicht haben wir ja Glück und finden eine Spur, die nicht den beiden und dem Ermordeten zuzuordnen ist. Lange muss ich nicht auf den Pathologen warten. Professor Burkhardt Klein kommt mit seinem nagelneuen Sechser-BMW-Coupé aufs Gelände gefahren. Während sich alle anderen nach einem ersten Blick auf diese unglaubliche Sauerei entsetzt abwenden, freut sich der Professor aus der Gießener Rechtsmedizin auf einen spannenden Fall.

„Wussten Sie, Herr Wetz”, ruft er mir zu, „dass in Deutschland jedes Jahr 1200 Morde übersehen werden? Ich hatte gerade einen Fall, da hat der Hausarzt bei einer Frau Herz-Kreislaufversagen nach starkem Alkoholmissbrauch als Todesursache festgestellt und dabei die deutlichen Würgemale übersehen. Da wollte der liebe Ehemann wohl künftig lieber alleine trinken. Das wird er jetzt wahrscheinlich im Gefängnis machen müssen, allerdings muss er sich da mit Pfefferminztee begnügen. Aber hier liegt der Fall ja ziemlich klar”, sagt er mit Blick auf den Toten und ist schon in seinen weißen Overall geschlüpft. Während er seine Gummihandschuhe anzieht, holt sein Assistent den Arztkoffer aus dem Wagen.

Weiß wie eine Wand steht eine Frau am Rande der Bürobaracke. Es ist Frau Rupp, die ich vom Sehen kenne. Wahrscheinlich hat Winkler sie angerufen.

„Frau Rupp, zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts Definitives zur Identität des Toten sagen.”

„Das ist der Karl, das ist mein Mann, der da liegt.”

Inzwischen beginnen die Leute von der Spurensicherung, den Tatort mit transportablen Wänden abzuschirmen.

„Wann haben Sie ihren Mann denn zum letzten Mal gesehen?”

Die Frau ist völlig außer sich und fängt an, hemmungslos zu weinen. Wenn da tatsächlich ihr Mann liegt, dann braucht die Frau einen Arzt und ein Beruhigungsmittel. Als Zeugin kann ich nicht allzu viel mit ihr anfangen, ich bestelle sie für morgen aufs Präsidium. Bei der Befragung weiterer Steinbruch-Mitarbeiter habe ich nicht viel rausgekriegt. Eigentlich haben sie nur bestätigt, was mir Winkler schon gesagt hat.

„Wie kommt man an die Schlüssel für diese Walze und wer hat in den letzten Tagen wie lange gearbeitet?” Die Antworten auf diese Fragen soll Kramer beschaffen, der mir jetzt etwas erholt und ein wenig grinsend entgegenkommt.

„Die lassen die Schlüssel immer in einem Schlüsselkasten im Büro hängen. Einbruchsspuren gibt es aber nicht an der Tür. Das heißt also, dass Karl Rupp, wenn es sich bei dem Toten um ihn handelt, noch da gewesen ist, als sein Mörder kam. Entweder hat er den reingelassen oder wurde von ihm überrascht.”

„So viel kriminellen Spürsinn hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Wenn Sie so weiter machen, haben Sie eine große Karriere vor sich …”

Kramer lächelt und drückt die Brust raus.

„Aber im Ernst, er muss ja wohl anwesend gewesen sein. Sonst würde er kaum hier liegen!”

Ich schicke Kramer mit dem Polizeiwagen zurück in die Polizeidirektion, um alles zu protokollieren. Ich fahre nach Hause. Am ersten Arbeitstag sollte man es nicht übertreiben. Ich brauche noch etwas Zeit für meine privaten Recherchen.

Am Abend sitze ich wieder mal mit Jockel in Günnis Kneipe beim Bier. Der Jockel ist mein Freund, seit ich denken kann. Schon im Kindergarten waren wir unzertrennlich. Die ganze Schulzeit waren wir zusammen bis zum Abitur. Dann habe ich begonnen, Jura zu studieren, habe aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist. Jockel hat sich für Soziologie eingeschrieben und ist dabei geblieben. Nur leider hat er später keinen Job gefunden. Lange war er arbeitslos und hat immer mal wieder irgendwelche Aushilfsjobs gemacht. Seit ein paar Monaten ist er so eine Art Privatsekretär von Helene Finkernagel. Als junges Mädchen ist sie mit ihren Eltern vor den Nazis geflohen. Mit über neunzig kam sie schwerreich in ihre Heimatstadt zurück, um hier zu sterben, wie sie sagt. Jockel schreibt an der Geschichte ihrer Familie, die bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreicht. Da hat er noch lange zu tun.

Beim Günni haben wir uns heute einiges zu erzählen. Die heimelige Atmosphäre dieser urigen Kneipe ist genau das Richtige dafür. Über den grausigen Fund redet mittlerweile das ganze Dorf. Außer dem spektakulären Mord im letzten Jahr, bei dem ein Radfahrer aufgespießt wurde, passiert im Dorf nicht viel. Hier gieren doch alle nach Neuigkeiten und Abwechslung. Wahrscheinlich haben die Arbeiter des Steinbruchs geplaudert.

Es gibt so was wie eine Gier nach dem Schrecken. Der Tod macht neugierig. Der Unfall auf der Autobahn verursacht einen sanften Schauder, ein flaues Gefühl im Bauch, das man getrost mit dem Wissen verdrängen kann, dass es einen ja selbst nicht getroffen hat und nach irgendeinem selbstgestrickten, haarsträubenden Gesetz der Wahrscheinlichkeit jetzt auch nicht treffen könne: Zwei solcher Unglücke geschehen nicht unmittelbar hintereinander. Und ich glaube, bei Mord ist dieser Irrtum genauso verbreitet: Die wenigsten Mordopfer haben vermutlich mit dieser Art ihres Ablebens gerechnet.

„Ich habe gelesen, dass sechzig Prozent der Mörder aus dem Umfeld der Getöteten kommen”, sagt Jockel in meine Gedanken hinein.

„Das ist doch auch verständlich. Überleg mal, was es braucht, einen Menschen nicht nur zu verletzen, sondern ihm das Leben zu nehmen. Das ist das Äußerste. Das weiß auch der Mörder, ihm ist klar, dass er sich damit außerhalb der Gesellschaft stellt.”

„Meinst du, dass ein Mörder so was reflektiert?”

„Ich glaube schon. Zumindest, wenn er nicht vollkommen spontan handelt.”

„Und was sind die Motive, ein Leben zu nehmen?”

„Das ist vor allem Hass. Jahrelang angestauter Hass, der sich in einer Tat entlädt. Außerdem Verzweiflung und Angst. Und der Versuch eines Verbrechers, mit dem Mord eine andere Straftat zu verdecken. In der organisierten Kriminalität spielt auch die Abschreckung eine große Rolle.”

„Und was hast du bei deinen Befragungen der Arbeiter im Steinbruch rausgekriegt?”

„Gut ging es der Firma nicht. Die letzten Gehälter sind noch nicht gezahlt, und Rupp war oft unterwegs, ohne dass man genau wusste, wo. In seinem Bauunternehmen war er jedenfalls nicht. Einige Arbeiter haben vermutet, dass die Firma verkauft werden sollte. Dabei hat er sich doch erst im letzten Jahr vergrößert. Aber wir wissen ja noch nicht einmal hundertprozentig, dass es sich bei dem Toten um Rupp handelt.”

„Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Rupp soll schon seit dem letzten Freitag verschwunden sein”, sagt Jockel, und ich frage mich, woher er das nun schon wieder hat.

„Feinde hatte er einige. Allein wie der den alten Schäfer beim Verkauf von dessen Firma über den Tisch gezogen haben soll. Muss übel abgelaufen sein. Das hat mir Freddy erzählt, der Bruder von Sabine. Der hat viele Jahre im Bauunternehmen von Schäfer gearbeitet. Sofort nach der Übernahme hat Rupp der halben Belegschaft gekündigt, auch Freddy. Das gab ziemlich viel Stress und böse Drohungen. Vor der Entlassungswelle wurden alle schweren Maschinen vom Hof des Bauunternehmens geklaut. Das hat so manchen misstrauisch gemacht, weil Rupp kurze Zeit vorher neue Versicherungen für den Fuhrpark abgeschlossen hatte. Dann waren alle Fahrzeuge weg, und die Versicherung hat ganz schön blechen müssen. Rupp bekam einen nagelneuen Maschinenpark, und damit stand das Bauunternehmen schon ganz anders da als zu Schäfers Zeiten. Zufall? Vielleicht, aber du solltest mal mit Freddy sprechen, der kann dir sicher mehr erzählen.”

Für heute hab ich genug, und ich blende mich in die Gespräche des Fachpublikums ein, das am Tresen sitzt. Nächste Woche beginnt die Fußballweltmeisterschaft und da werden die Chancen der Nationalmannschaft ganz unterschiedlich betrachtet.

Auf dem Riesenbildschirm verfolgen wir einen Nachbericht über die Länderspiele gegen Polen und Kamerun, mit denen sich die deutsche Nationalmannschaft auf die WM vorbereiten wollte. Zweimal nur Unentschieden, 0:0 gegen Polen und 2:2 gegen Kamerun, zwei Tore der Afrikaner kassiert, meine Güte, das wird ein Debakel bei der WM geben. Das sagen hier alle Fußballexperten.

Nur Jockel setzt auch nach diesen miesen Vorbereitungsspielen voll auf Sieg.

„Du wirst sehen, Deutschland ist eine Turniermannschaft, die steigern sich von Spiel zu Spiel und bis hin zum Endspiel, entweder gegen Holland oder Argentinien.”

„Du bist und bleibst ein Träumer”, sagt Günni und schenkt noch mal nach.