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Die Kommissarin Cornelia Weber-Tejedor ermittelt in einer Serie von Expressentführungen in Frankfurt, sie macht sich kaum Sorgen, irgendwann machen diese Stümper einen Fehler und dann werden sie eingebuchtet, da ist sie sich sicher. Beim nächsten Lösegeldanruf wird sie verständigt, gibt Instruktionen, doch als plötzlich ein Schuss zu hören ist und dann viel zu lange nichts, ist sich die deutsch-spanische Kommissarin nicht mehr so sicher. Es folgen: interne Ermittlung, Entzug des Falls, Zwangsurlaub. Und um sich selbst zu retten, muss Weber-Tejedor auf eigene Faust ermitteln, in einer Stadt voller Geld und Menschen, die einfach alles dafür tun.

 

Rosa Ribas, geboren 1963 in Prat de Llobregat, studierte Hispanistik in Barcelona und lebt seit 1991 in Frankfurt am Main. Mit Kalter Main, dem Auftakt der Serie, gewann sie den spanischen Krimipreis für das beste Debüt.

 

 

Rosa Ribas

SONST IST ER TOT

Der vierte Fall für
Kommissarin Cornelia Weber-Tejedor

Kriminalroman

Aus dem Spanischen von
Kirsten Brandt

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Si no, lo matamos bei Grijalbo, Barcelona.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Rosa Ribas, 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: FinePic®, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

 

eISBN 978-3-518-74498-7

www.suhrkamp.de

SONST IST ER TOT

 

 

 

 

 

Für zwei wunderbare Freundinnen,
die ich mit der Kommissarin teile:
Pili und Cornelia

 

 

 

 

Frankfurt ist anders, jeden Tag. Wenn Sie das lesen,
hat es sich schon wieder verändert.
Auch das ist eine Art Verlässlichkeit.

Eva Demski

LOTS WEIB

 

Drei verschwommene Silhouetten. Drei Männer. Mehr sah er nicht.

Thorsten Hagendorf richtete seine ganze Aufmerksamkeit darauf, seine Hemden ordentlich auf der Rückbank seines Wagens abzulegen, nachdem er den wolkenlosen Himmel betrachtet und gedacht hatte, dass das Wetter sich an diesen ersten Frühlingstagen an den Kalender zu halten zu schien. Sie tauchten plötzlich auf. Drei Männer. Vielleicht hatten sie in einem Auto gewartet in der Seitenstraße, die um diese Uhrzeit üblicherweise menschenleer war und in der er immer parkte, wenn er auf dem Weg zur Arbeit seine Kleidung aus der Reinigung holte.

Mit einem kräftigen Stoß beförderte ihn einer der Männer bäuchlings auf die Hemden, während der andere die offene Wagentür nutzte, sich hinters Steuer zu setzen. Der, der ihn gestoßen hatte, setzte sich auf seine Beine, und noch ehe er begriff, wie ihm geschah, hatte der Mann ihm eine Kapuze übergestülpt und ihm geraten, sich nicht zu wehren oder gar zu schreien. In diesem Augenblick nahm der Dritte auf dem Beifahrersitz Platz und schloss die Tür.

Der Mann auf der Rückbank warf sich über ihn, damit er sich nicht aufrichten konnte. Gegen den Sitz gedrückt, spürte Thorsten Hagendorf, wie ihm die Luft ausging, und begann zu keuchen. Durch den Stoff der Kapuze hindurch nahm er den Geruch der dünnen Plastikfolie wahr, in der die Hemden steckten. Der Haken eines Kleiderbügels bohrte sich in seine rechte Schulter.

»Die Schlüssel«, sagte der, der ihn gestoßen hatte, und schlug ihm mit der flachen Hand ins Genick.

Hagendorf drehte den Unterkörper leicht zur Seite, um die Schlüssel aus seiner Hosentasche zu fischen. Seine Beine waren angewinkelt, die Füße stießen gegen die Wagentür, und der Mann saß schwer auf seinen Waden. Als er ein wenig den Kopf hob, stieß er gegen die Hand, die ihn geschlagen hatte. Endlich fand er die Schlüssel und händigte sie aus.

»Fahr los! Und du hältst schön still. Wo ist dein Handy?«

Ein erneuter Schlag in den Nacken.

»In meiner rechten Jacketttasche. Was wollen Sie? Was ist los?«

»Nichts ist los, und es wird auch nichts los sein, wenn du uns keinen Ärger machst.« Der Mann tastete ihn ab, bis er das Telefon gefunden hatte. Er nahm es an sich.

In dieser Enge war es Hagendorf unmöglich, sich vom Körper über ihm zu befreien. Ein dritter Schlag in den Nacken ließ ihn erstarren.

»Wie heißt deine Frau?«

»Elke.« Er wandte den Kopf zur Seite, wie ein Schwimmer, der Luft holt.

»Steht sie unter ihrem Namen hier drin?«

»Ja. Aber was wollen Sie?«

Die Antwort war ein Fausthieb in die Niere. Sein Schrei vermischte sich mit dem Rascheln der Plastikfolie unter seinem Körper. Trotz der Schmerzen und der Angst ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er seine Hemden zerknitterte. Der dritte Mann warf ein Stück Stoff über ihn, wahrscheinlich eine Jacke, um ihn vor anderen Autofahrern zu verbergen. Das Kleidungsstück roch nach Schweiß und Tabak. Er drehte den Kopf zu den Hemden hin, langsam, aus Furcht vor einem weiteren Schlag.

Gemächlich fuhren sie durch die Straßen Frankfurts. Seine Entführer wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Als es Thorsten Hagendorf einfiel darauf zu achten, wie viele Abbiegungen der Wagen nahm, durch wie viele Schlaglöcher er fuhr und ob er vielleicht etwas Auffälliges hörte, hatten sie schon zu viele Abbiegungen und zu viele Schlaglöcher hinter sich. Und die einzigen Geräusche, die er außer dem Motorenlärm wahrnahm, waren das Scharren der Schuhe des Mannes auf der Fußmatte und das Rascheln des Plastiks bei jeder seiner Bewegungen. Er konnte nichts tun.

Die drei Männer schienen alles unter Kontrolle zu haben. Und doch passten sie einen Moment lang nicht auf. Der Wagen war eine steile Rampe hinuntergefahren und hatte angehalten. Während sie ihn grob aus dem Auto zerrten, gaben Hagendorfs Beine, die durch das auf ihnen lastende Gewicht des Mannes eingeschlafen waren, nach, und er fiel zu Boden. Als sie ihn aufhoben, verrutschte seine Kapuze ein wenig. Durch den Spalt, der sich aufgetan hatte, konnte er den Boden erkennen; offenbar befanden sie sich in einem Parkhaus. Einer der Männer packte ihn fest am rechten Arm und zog ihn zu einer Treppe. Sie ließen ihn zwei Stockwerke hinaufstolpern, bis sie an etwas anhielten, was die Rezeption eines Büros zu sein schien. Durch den Spalt, den die verrutschte Kapuze freiließ, konnte er den unteren Teil eines Tresens und das halb abgerissene Stück eines Firmenlogos erkennen. Sie durchquerten einen leeren Raum, der nicht länger nach Raumerfrischer, sondern nach Staub und Feuchtigkeit roch. Dann hielten sie an. Thorsten Hagendorf vernahm das Ächzen und Stöhnen eines der Männer, der offenbar unter großen Mühen etwas aufschob. Das nächste, was er spürte, war ein Stoß, der ihn gegen eine Metallwand schleuderte; dann erklang in seinem Rücken das Zuschlagen einer Tür. Noch bevor er Zeit hatte, sich die Kapuze herunterzureißen, hörte er die Stimme des Mannes, der ihn festgehalten hatte:

»Ganz ruhig, in ein paar Stunden bist du frei.«

Die Männer gingen und ließen ihn in der dunklen Kabine eines Fahrstuhls allein, ohne auf seine Bitten und sein Geschrei zu achten, mit dem er ihnen in wachsender Panik zurief, dass er unter Klaustrophobie litt. Er glaubte noch ein leises Lachen zu hören, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

 

***

 

»Ja, ja, ja.«

Die drängende Melodie des Handys setzte sie in Bewegung. Elke Hagendorf suchte überall dort nach dem Gerät, wo sie es üblicherweise ablegte: in ihrer Handtasche, auf der Kommode im Flur, auf der Lehne der Fernsehcouch, in der Tasche der letzten Jacke, die sie angehabt hatte. Dort fand sie es genau in dem Augenblick, in dem es verstummte. Sie betrachtete das Display. Ihr Mann. Noch bevor sie auf den grünen Hörer drücken konnte, begann das Telefon erneut zu klingeln.

»Hallo.« Sie dehnte das »a« in gespielter Ungeduld. Ein Anruf so früh am Morgen hatte wahrscheinlich irgendeinen banalen Grund; bestimmt wollte ihr Mann sie an eine Erledigung erinnern oder sie fragen, ob sie seine Lesebrille gefunden hatte.

»Frau Hagendorf?«

»Ja.«

»Nennen Sie Ihren Namen.«

»Wie bitte?«

»Nennen Sie Ihren Namen, wenn Sie ans Handy gehen.«

Der Anrufer legte auf.

Sie lehnte sich an die Wand.

Das Telefon klingelte wieder.

»Elke Hagendorf«, meldete sie sich.

Nun presste sie ihren Rücken so heftig an die Wand, dass sie fühlte, wie sich jeder einzelne Wirbel durch die Haut bohrte.

»Gut gemacht.«

Ihre Verwunderung wurde zu Angst, als sie den ausländischen Akzent der Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm.

»Wer sind Sie?«

»Wir haben Ihren Mann.«

Der Anrufer machte eine Pause, vielleicht um ihr Zeit für die Erkenntnis zu lassen, welche der zahlreichen Bedeutungen des Wörtchens »haben« hier gemeint war. Inzwischen hatte die Panik von Elke Hagendorf Besitz ergriffen und ließ sie verstummen.

»Aber ihm wird nichts geschehen, wenn Sie tun, was wir Ihnen sagen.«

Der Mann sprach schleppend. Elke Hagendorf öffnete und schloss geräuschlos den Mund wie ein gestrandeter Fisch.

»Haben Sie mich verstanden?«

Da rief sie ja, drei Mal und aus vollem Halse, während ihre Beine unter ihr nachgaben und sie an der Wand herunterrutschte, bis sie auf dem Boden im Flur saß.

»Ihm wird nichts passieren, wenn Sie Folgendes tun: Packen Sie sämtliche Wertsachen, die Sie im Hause haben, in eine Einkaufstüte aus Plastik.«

»Wertsachen?«

»Ja, Schmuck und Geld. Keine Handys oder elektronischen Geräte.«

Wieder sagte sie drei Mal ja, ein Mal für jeden Punkt auf der Liste.

»Dann gehen Sie mit allen Karten, die Sie haben, zur Bank und heben so viel Geld ab, wie Sie können.«

»Wie viel?«

»Alles, was Sie abheben können, das sagte ich doch. Es müssen keine kleinen Scheine sein. Wir nehmen auch große und mittlere.«

Sie stellte die ebenso verzweifelte wie überflüssige Frage.

»Warum wir? Wir sind doch nicht reich …«

»Frau Hagendorf.« Der Mann sprach mit ihr wie mit einem unartigen Kind. »Halten Sie uns für blöd? Glauben Sie, wir hätten uns für ein paar lumpige Euro all diese Mühe gemacht? Wir wissen, wo Ihr Mann arbeitet und welchen Posten er in der Anwaltskanzlei hat.«

Sie waren es! Es waren die gleichen! Das Hämmern des Blutes in ihrem Kopf machte sie einen Augenblick lang taub. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Sie wusste, was diese Typen ihrem Mann antun würden.

Der Mann fragte:

»Was, glauben Sie, wird Ihr Mann denken, wenn er erfährt, dass Sie versucht haben zu feilschen?«

Trotz seines ausgeprägten ausländischen Akzents sprach er fließend Deutsch.

»Aber nein. Ich wollte doch nicht …«

»Na, na, keine Sorge, von uns wird er es ganz bestimmt nicht erfahren«, sagte der Mann beinahe flüsternd, in vertraulichem Tonfall, als wären sie Freunde, die ein Geheimnis teilen.

Nun hatte die Panik sie endgültig gepackt.

»Was muss ich tun? Was muss ich tun?«

»Das mit der Tüte haben Sie verstanden, nicht wahr?«

»Ja, ja, ja!«

»Gut. Dann erkläre ich Ihnen jetzt das mit der Bank, denn da waren wir stehen geblieben. Sie gehen zur Bank und heben alles Geld ab.« Der Mann räusperte sich, dann fuhr er fort: »Und dass Sie nicht etwa auf die Idee kommen, die Bankangestellten um Hilfe zu bitten.«

»Nein, das tue ich nicht«, brachte sie heraus.

»Natürlich werden Sie das nicht tun. Und Sie werden auch nicht die Polizei anrufen.«

»Nein, ich werde nicht …«

»Nein, das werden Sie ganz bestimmt nicht. Und wissen Sie, warum?« Der Mann machte eine Pause. Er wartete auf ihre Antwort.

»Weil Sie meinen Mann haben.«

»Genau. Aber Sie kriegen ihn zurück, wenn Sie alles richtig machen.«

Der Mann schwieg. Ihr schneller Atem, den er sicher hörte, konnte ihm als Beweis dafür dienen, dass er sein Ziel erreicht hatte. Trotzdem hakte er nach:

»Soll ich deutlicher werden, oder haben Sie mich verstanden?«

»Alles klar.«

»Großartig, ich glaube, wir verstehen uns. Also packen Sie Ihre Wertsachen ein, gehen Sie zur Bank, heben Sie das Geld ab, stecken Sie es in dieselbe Tüte und fahren Sie dann mit dieser Tüte zum Supermarkt in der Ferdinand-Happ-Straße.«

»Ist das in Frankfurt?«

»Jawohl. Im Ostend. Ich sehe schon: Sie verirren sich nie in die ärmeren Viertel. So geht's weiter: Sie fahren zum Supermarkt, gehen aber nicht hinein, sondern setzen sich auf die Bank am Parkplatz und sehen die ganze Zeit auf die Tür. Stellen Sie die Tasche links von sich ab, nach wenigen Minuten wird jemand sie mitnehmen. Wenn das passiert, kommen Sie bloß nicht auf die Idee, sich umzusehen, wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Neugier Sie so teuer zu stehen kommt wie Lots Weib.«

»Wessen Weib?«

»Lot. Aus der Bibel. Altes Testament. Die Frau, die zu einer Salzsäule erstarrte, weil sie sich umwandte, um sich die Zerstörung von Gomorrha anzusehen. Oder war es Sodom?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht …«

»Ach, ist auch egal. Auf jeden Fall ist sie zur Salzsäule erstarrt. Und Sie werden zur Witwe. Wir sollten jetzt keine Zeit mehr verlieren. Sie wissen ja nun, was Sie zu tun haben. Und Sie wissen auch, dass wir Sie im Auge behalten.«

Der Mann legte auf. Langsam richtete Elke Hagendorf sich auf. Wie ein Roboter ging sie in die Küche, holte eine Plastiktüte, entfaltete sie und sah nach, dass sie keine Löcher hatte; dann nahm sie die Ohrringe mit den kleinen Perlen ab, die sie trug. Sie waren das erste, was in der Tüte landete.

 

***

 

Thorsten Hagendorf tastete umher, um die Maße seines Gefängnisses abzuschätzen, die von der Dunkelheit vergrößert, von seiner Klaustrophobie verengt wurden. Er berührte das Paneel mit den Knöpfen für die Stockwerke. Aber er wusste, dass sie nicht funktionierten und er daher keinen Notdienst würde rufen können.

Die erste Panikattacke ließ ihn gegen die Aufzugwände hämmern und brüllen, bis ihm von seinem keuchenden, abgerissenen Atem schwindlig war. Als ihn die Kraft verließ, sank er auf den staubigen Boden.

Er hatte das Logo am Tresen erkannt und wusste, dass er sich in den ehemaligen Geschäftsräumen einer Sparkasse befand. Die Entführer hatten ihn allein in einem zwanzigstöckigen Gebäude zurückgelassen, das die neuen Bürogebäude, die beiderseits der Mainzer Landstraße sprossen – einer der Finanzarterien der Stadt – überflüssig gemacht hatten. Zwanzig Stockwerke leerstehende Büros, die demnächst abgerissen würden, um einem moderneren und teureren Bau Platz zu machen. Er stellte sich die Gesichter der Bauarbeiter vor, wenn sie nach zwei, drei, vielleicht sechs Monaten seine Leiche fanden. Das rief eine zweite Panikattacke hervor, und sein von Adrenalin durchfluteter Körper hörte nicht länger auf die schwachen vernünftigen Argumente, mit denen er sich zu beruhigen versuchte, und überließ sich ganz den frenetischen Zuckungen des verängstigen, von blindem Fluchtverlangen erfüllten Reptils, das in seinem Kleinhirn hauste.

Später würden seine blutigen Fingerkuppen den Beweis dafür liefern, dass er die beiden Metalltüren, die ihn gefangen hielten, mit bloßen Händen auseinandergedrückt hatte. Mit der gleichen, bei seinem eher schmächtigen Körper fast unerklärlichen Kraft war es ihm gelungen, die Glastür zur Straße mit einem schweren, fast einen halben Meter langen Zementaschenbecher einzuschlagen, der im Gebäude vergessen worden war. Hagendorf wankte auf die Straße hinaus, und als er endlich frische Luft atmete, verließen ihn die Kräfte. Zusammengekrümmt brach er vor einer Gruppe von drei Männern zusammen. Einer ließ seine Aktentasche fallen, kniete sich neben ihn und versuchte, ihn aufzurichten. Die anderen beiden zückten reflexartig ihre Handys. Der Mann zur Rechten rief einen Krankenwagen; der Linke verlangte nach der Polizei. Gebeugt wie Klammerzeichen flankierten sie eine männliche, mit Anzug bekleidete Version der Pietà.

 

ERZÄHLEN SIE

 

Thorsten Hagendorf berichtete ihnen zum zweiten Mal alles, was geschehen war, angefangen bei dem Hinterhalt bis hin zu dem Augenblick, als er es auf die Straße hinaus geschafft hatte. Nicht, weil Cornelia und Reiner ihn gebeten hätten, es zu wiederholen, sondern weil er nicht aufhören konnte zu reden und ihnen seine verbundenen Finger zu zeigen.

Zuvor, noch unter Schock, hatte er auf die Fragen des Arztes im Krankenwagen, der seine verletzten Hände verband, nur ein paar zusammenhanglose Substantive und Verben hervorgebracht. Den herbeigerufenen Polizisten hatte er schon eine grobe Fassung der Ereignisse schildern können. Und im Polizeipräsidium hatte er Cornelia einen ersten vollständigen Bericht geliefert.

Nun erzählte Hagendorf die Geschichte noch einmal Reiner, den Cornelia geholt hatte, damit er sie sich anhörte. Sie hatte schon beschlossen, dass dies ihr Fall war, dass sie ihn an niemanden abtreten würde.

Wie schon oft zuvor beobachtete Cornelia auch diesmal, welche beruhigende Wirkung ihr Untergebener auf die Opfer eines Verbrechens hatte. Vielleicht lag es an seinen leicht schläfrig wirkenden Augen unter den dichten Brauen oder am massigen Körper eines alternden Boxers, der sich trotz seiner scheinbaren Schwerfälligkeit mit der Leichtigkeit eines Kämpfers bewegte. Oberkommissar Reiner Terletzki war der gutmütige Bär aus den Märchen, der mit seiner Versicherung, alles würde gut, die schlimmsten Ängste vertrieb. Er hatte auf ihrer Seite des Schreibtischs Platz genommen, und ihr war bewusst, wie unterschiedlich sie auf Hagendorf wirken mussten, aber obwohl sie die Jüngere war, hatte Hagendorf nicht vergessen, dass Cornelia Weber-Tejedor die Vorgesetzte und Kriminalkommissarin war, die blonde Frau mit der leicht gekrümmten Nase, die ihm, die Arme auf einen Aktenstapel gestützt, aufmerksam lauschte. Bei Hagendorfs Ankunft hatte sie den Ordner geschlossen. Nun lehnte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf, wie um zu verhindern, dass ein Blatt herausrutschte oder er eines der Fotos des brutalen Elternmords zu sehen bekam, bei dem ein Kollege sie um Rat gebeten hatte. Der Inhalt dieser Akte war nichts für den Vierzigjährigen, dessen hagerer Körper in dem schmutzigen, zerrissenen Anzug winzig wirkte und dem sie nun ihre gesamte Aufmerksamkeit widmete; ihm und seinem wiederholten Bericht.

Sobald Hagendorf loslegte, hatte Reiner wie üblich seinen Notizblock gezückt und angefangen mitzuschreiben. Und er schrieb weiter, den Kuli fest in seiner gewaltigen Pranke, als Hagendorf zum zweiten Mal von vorne begann. Von Cornelia hatte er gelernt, dass Wiederholungen wertvoll waren, dass es sich lohnte, auf die kleinen Abweichungen zwischen den verschiedenen Versionen zu achten. Cornelia wusste das von Celsa, ihrer Mutter, die auf so typisch galicische Weise erzählte, mit zahlreichen Abschweifungen und Unterbrechungen, die aber stets in einen breiten Strom mündeten; eine Art zu erzählen, die sie gelehrt hatte, ihre deutsche Ungeduld im Zaum zu halten, bei der die Geschichte in einem geradlinigen Fluss direkt auf den Punkt kam.

Der Bericht über das Vorgefallene schien das Letzte zu sein, was Hagendorf noch gefehlt hatte, um wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, denn als er geendet hatte, sah er Cornelia und Reiner an, die aufmerksam jedes neue Detail registriert hatten, und fragte ängstlich:

»Haben Sie meine Frau gefunden?«

»Wir sind noch dabei, aber zu Hause haben wir sie nicht angetroffen.«

Als man ihn um kurz nach zehn ins Polizeipräsidium gebracht hatte, hatte Hagendorf seinen Namen nennen und seine Anschrift und Telefonnummer stammeln können. Sie hatten mehrmals bei ihm zu Hause angerufen, aber es war niemand drangegangen, obwohl seine Frau seiner Aussage nach um diese Tageszeit normalerweise zu Hause war. Cornelia hatte eine Streife losgeschickt, doch die war noch unterwegs.

»Erinnern Sie sich jetzt?«, fragte sie nun, bemüht, nicht drängend zu klingen. Ihre Mutter pflegte zu sagen: »Es wird dir schon wieder einfallen, wenn du aufhörst, daran zu denken.«

Hagendorf schüttelte den Kopf. Er konnte sich einfach nicht an die Handynummer seiner Frau erinnern.

»Das ist, weil ich sie in meinem Adressbuch hatte …« Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf.

Es hätte ihnen kostbare Minuten erspart. Für alle Fälle hatte Cornelia einen Beamten beauftragt, die Nummer über die Telefongesellschaft zu ermitteln. Indem sie alles organisierte und Anweisungen erteilte, machte Cornelia deutlich, dass das ihr Fall war. So verfuhr sie häufig: Erst handeln und anschließend die Erlaubnis einholen.

»Trinken Sie noch einen Schluck Wasser«, sagte sie zu Hagendorf.

Es fiel ihr schwer, den Blick von seinen Händen abzuwenden, von den Verbänden, die seine gebrochenen Nägel und aufgeschürften Fingerspitzen wie Fingerhüte umgaben.

In diesem Augenblick öffnete ein Beamter die Tür und winkte sie zu sich. Sie stand auf und verließ den Raum.

»Die Streife ist bei den Hagendorfs angekommen. Da niemand die Tür geöffnet hat, sind sie mit seinen Schlüsseln hineingegangen und haben die Wohnung durchsucht. Es war niemand da.«

»Gibt es Anzeichen von Gewalt?«

»Nichts. Aber am Wohnungseingang haben sie ein Handy auf dem Boden gefunden.«

Ein weiterer Beamter kam durch den Flur auf sie zu.

»Ich habe die Nummer, um die Sie mich gebeten hatten, Frau Weber.«

Ein Anruf bei der Beamtin, die in Hagendorfs Wohnung war, und ein zweiter bei der Nummer, die sie vom Telefonbetreiber bekommen hatten, bestätigten ihnen, dass es sich um Elke Hagendorfs Handy handelte. Vielleicht hatte sie in aller Eile das Haus verlassen und dabei vergessen es mitzunehmen.

»Bleiben Sie in der Wohnung und achten Sie auf Frau Hagendorfs Handy«, wies Cornelia die Streifenpolizistin an.

»Was mache ich, wenn es klingelt?«

Gute Frage.

Das Opfer war in Sicherheit, aber sie wussten nicht, wo seine Frau sich befand und wie es ihr ging.

»Dann gehen Sie dran und tun so, als wären Sie eine Freundin der Familie. Wenn die Entführer etwas sagen oder etwas fragen, können wir vielleicht irgendwelche Informationen aufschnappen. Und bringen Sie so schnell wie möglich den Wagen außer Sichtweite.«

Sie hoffte, dass sie nicht schon einen ersten Fehler begangen und durch den Streifenwagen vor dem Haus die Entführer gewarnt hatten.

Sie kehrte ins Büro zurück. Hagendorf wirkte etwas ruhiger, fast sah es aus, als würde er mit Reiner plaudern.

»Unsere Tochter ist in London auf Klassenfahrt. Am Freitagabend kommt sie zurück.«

Cornelia unterbrach das Gespräch, um ihnen mitzuteilen, dass sie das Handy hatten.

»Das darf doch nicht wahr sein! Immer lässt sie es irgendwo liegen«, erregte sich Hagendorf. »Sie verbringt mehr Zeit mit Suchen als mit Telefonieren.«

Plötzlich verzog er sein Gesicht in Angst.

»Und wenn sie sie auch haben?«

Obwohl diese Möglichkeit durchaus bestand, wiegelte Reiner ab:

»Wollen wir hoffen, dass sie Lösegeld gefordert haben – und das muss ja schließlich jemand überbringen.«

Bei jedem anderen hätte diese Bemerkung vielleicht sarkastisch geklungen, nicht aber bei Reiner.

Cornelia betrachtete ihren Kollegen. Reiners verschlafene Miene täuschte jeden, der glaubte, er sei manchmal geistesabwesend. Hinter den schweren Lidern verbarg sich ein hellwacher Verstand. Er sah alles und jeden. Sein Haar war schon grau, und seit er vor einem Jahr festgestellt hatte, dass seine Barthaare dunkel sprossen, hatte er sich einen Bart wachsen lassen, der zwar grau gesprenkelt, aber dunkel war. Seine athletische Figur bewahrte er durch eiserne Disziplin. Dass er mit über fünfzig zum ersten Mal Vater geworden war, half ihm dabei. »Ich will nicht, dass man mich für den Großvater der Zwillinge hält.« Seine späte Vaterschaft hatte die Gutmütigkeit des Oberkommissars noch verstärkt, und seine gelassene Art und sein gemächlicher Tonfall trugen dazu bei, dass Hagendorf sich wieder beruhigte.

»Bei welcher Bank haben Sie Ihr Geld?«, fragte Cornelia.

»Wir haben zwei Konten: eines bei der Commerzbank und eins bei einer Sparkasse.«

»Sehen wir nach, welche Filialen am nächsten an Ihrer Wohnung liegen«, sagte Cornelia und machte sich gleich am Computer auf die Suche.

Hagendorf verstand, worauf ihre Frage abzielte.

Cornelia fand die Adressen und forderte telefonisch mehrere Streifenwagen an, die sich so schnell wie möglich in der entsprechenden Gegend auf die Suche nach Frau Hagendorf machen sollten.

»Haben Sie ein Foto Ihrer Frau?«

Hagendorf öffnete seine Brieftasche und klaubte mit seinen verbundenen Fingern mühsam zwei Fotos hervor. Er gab ihnen das erste, das eine blonde Frau Anfang dreißig in einem Sommerkleid zeigte, unter dessen Ärmeln schmale, braungebrannte Arme hervorlugten. Sie umarmte ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen in T-Shirt und kurzen Hosen, dessen Lächeln und die breite, ein wenig platte Nase deutlich erkennen ließen, dass es sich um Mutter und Tochter handelte.

»Hier sehen die beiden sehr hübsch aus.«

Das stimmte, aber das Foto war schon ein paar Jahre alt, und das Gesicht der Frau war nicht gut zu erkennen, weil sie sich zu ihrer Tochter hinunterbeugte. Bevor Hagendorf das andere Foto wieder in die Brieftasche stecken konnte, bat Cornelia ihn darum:

»Ich glaube, das ist uns nützlicher.«

Es war ein biometrisches Passfoto.

»Das ist aber nicht sehr schmeichelhaft.«

Cornelia lächelte ihn an, während sie das Foto nahm, das er ihr zögernd entgegenstreckte.

»Es geht nicht darum, dass sie gut darauf aussieht, sondern dass wir sie wiedererkennen. Ich gebe es meinen Kollegen, die sollen es scannen und an die Streifen schicken, die auf der Suche nach ihr sind.«

Als ob sie ihm mit dem Foto auch die Seele aus den Händen gerissen hätte, sackte Hagendorf auf seinem Stuhl in sich zusammen.

»Ich möchte nach Hause«, sagte er, ängstlich und bedrückt wie ein kleiner Junge, der eine verhasste Schulstunde verlassen will.

»In ein paar Minuten«, entgegnete Cornelia.

Sie bot ihm an, es sich auf dem alten Sofa bequem zu machen, das Reiner und sie in ihrem Büro stehen hatten und auf das sie selbst oft nach stundenlangen Ermittlungen erschöpft gesunken war. Und Reiner hatte hier in den ersten Monaten schlafloser Nächte nach der Geburt seiner Kinder häufig mittags ein Nickerchen gemacht.

Sie ging hinaus, um die Suche nach Elke Hagendorf zu koordinieren, und ließ Hagendorf in Reiners Obhut. Er hatte ihnen die Namen mehrerer Freunde und Angehörigen genannt, aber bisher hatten sie niemanden ausfindig machen können. Der Mann schien mutterseelenallein auf der Welt zurückgeblieben zu sein.

 

***

 

Aus den Minuten, die Cornelia Hagendorf versprochen hatte, wurde schließlich eine Stunde, weil sie das Präsidium erst verließen, nachdem sie alles Nötige veranlasst hatte, um Elke Hagendorf zu schützen und die Entführer ausfindig zu machen. Mehrere Beamte überwachten das verlassene Gebäude, in dem Hagendorf im Aufzug eingesperrt gewesen war. Cornelia hoffte darauf, dass die Entführer – sollte Hagendorfs Frau das Lösegeld schon aufgetrieben haben und auf dem Weg zur Übergabe sein – ihr Versprechen hielten, den Gefangenen freizulassen, und dass man sie dort schnappen konnte. Die Leute von der Spurensicherung würden warten müssen, bis sie den Tatort untersuchen konnten. Diskretion war jetzt wichtiger.

Sie nahmen Reiners Wagen. Hagendorf, der hinter Cornelia saß, sprach während der ganzen Fahrt kein einziges Wort. Vom Beifahrersitz aus musterte sie ihn von Zeit zu Zeit im Rückspiegel, während er aus dem Fenster sah. Kurz darauf waren sie in Bockenheim, wo die Hagendorfs ganz in der Nähe des so genannten »Diplomatenviertels« lebten, einer Reihe ruhiger, baumbestandener Straßen mit niedrigen Häusern und Vorgärten. Von unterwegs aus hatte Cornelia die Beamtin angerufen, die sie in Hagendorfs Wohnung postiert hatten. Nein, Frau Hagendorf war noch nicht zurückgekommen. Es hatte sich auch sonst niemand der Wohnung genähert, und keines der beiden Telefone hatte geklingelt, weder das Festnetz noch das Handy. Der Kollege in Zivil, der mehrmals die Straße auf und ab patrouilliert war, hatte keinerlei Anzeichen dafür entdeckt, dass die Wohnung unter Beobachtung stand. Also betraten die drei das zweistöckige, von einem sorgfältig gepflegten japanischen Garten umgebene Haus, in dessen erstem Stock die Hagendorfs wohnten, durch den Haupteingang.

Thorsten Hagendorf lief durch die ganze Wohnung und rief immer wieder nach seiner Frau, als hoffte er, dass sie sich irgendwo versteckt hielt, außerhalb der Sichtweite der Beamtin, die er mit einem mechanischen Händedruck begrüßt hatte, bevor er sich in allen Zimmern auf die Suche machte. Cornelia folgte ihm unauffällig, und obwohl er bemerken musste, dass sie hinter ihm ging, öffnete er hemmungslos alle Schränke und lugte unter sämtliche Betten. Schließlich wandte er sich zu ihr um:

»Sie ist nicht da.«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn sanft ins Wohnzimmer, wo er sich erschöpft auf ein Sofa plumpsen ließ. Eine leichte Staubwolke stieg von seinem schmutzigen Anzug auf.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er plötzlich, doch sein vorgebeugter Oberkörper mit den auf die Schenkel gestützten Armen und sein halb in den Händen verborgenes Gesicht verrieten, dass es sich um eine reine Höflichkeitsfrage handelte.

Cornelia bot an, Kaffee zu kochen, und ließ Hagendorf mit Reiner allein. Als sie hinter ihm her durch die Wohnung gegangen war, hatte sie bemerkt, dass die Hagendorfs offenbar wohlhabend, aber keinesfalls reich waren, jedenfalls nicht reich genug, um sie zu einem lohnenden Ziel für Entführer zu machen. Eine riesige, blitzende Kaffeemaschine, die eher in ein Café gepasst hätte als in diese Küche, die zu klein für sie schien, bestätigte ihre Vermutung: Die beiden gaben sich reicher, als sie waren. Das Gerät erwies sich als so kompliziert, dass sie ihr Vorhaben beinahe aufgegeben hätte, wenn sie sich nicht an den Satz erinnert hätte, mit dem ihr Vater in seiner Zeit als Vorarbeiter bei Opel immer neue Kollegen willkommen geheißen hatte: »Keine Maschine ist so kompliziert, als dass man sie nicht mit gesundem Menschenverstand bedienen könnte.«

Sie betrachtete die Maschine, die Knöpfe, die Anzeigen für Druck sowie Kaffee- und Wasserstand und die Röhrchen, und als sie glaubte, alles verstanden zu haben, suchte sie eine Tasse und schaltete das Gerät ein. Das glänzende Monster begann zu brüllen, und kurz darauf war die erste Tasse Kaffee fertig.

Sie kam nicht dazu, ihn zu trinken. Durch das Fenster hindurch sah sie, wie jemand das Tor zum Vorgarten öffnete. Eine blonde Frau schritt rasch auf die Haustür zu. Das musste sie sein. Cornelia stellte die unberührte Tasse auf dem Küchentisch ab und ging ins Wohnzimmer.

Als Thorsten Hagendorf die Schlüssel im Schloss und die Schritte im Flur hörte, sprang er auf, rührte sich jedoch nicht vom Fleck, sondern wartete, bis seine Frau hereinkam. Sie betrat das Wohnzimmer, blieb stocksteif stehen und starrte verblüfft ihren Mann an, als wären die anderen drei Leute gar nicht vorhanden.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie und trat einen Schritt vor. Sie klang wütend.

»Ich bin abgehauen«, sagte Thorsten Hagendorf entschuldigend.

Ein nervöses Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht seiner Frau ab und erlosch sofort wieder, als sie die uniformierte Polizistin entdeckte, die an einer Seitenwand lehnte.

»Nein! Nicht die Polizei!« Ihre Stimme brach.

Thorsten Hagendorf, der begonnen hatte, ihr zu erzählen, was vorgefallen war, verstummte. Reiner ging auf sie zu, stellte sich vor und forderte sie mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Sie setzte sich nicht neben ihren Mann, sondern auf das Sofa, das dem anderen gegenüberlag, durch einen Couchtisch getrennt, auf dem wohl eher zu dekorativen Zwecken ein paar Kunstbücher lagen. Ohne den Blick von seiner Frau zu wenden, nahm Hagendorf wieder Platz, und Cornelia ließ sich neben ihm nieder. Reiner setzte sich neben Elke Hagendorf. Die Beamtin blieb in einiger Entfernung stehen, als wollte sie die Gruppe im Auge behalten. Einen Augenblick lang fühlte Cornelia sich in die Sitzung in der Anwaltskanzlei zurückversetzt, wo sie sich von Jan hatte scheiden lassen, aber sie riss sich gleich wieder zusammen und konzentrierte sich.

»Warum hast du die Polizei gerufen, Thorsten?«

Ihr Mann war über die Reaktion seiner Frau dermaßen verdattert, dass ihm keine Antwort einfiel. Cornelia beschloss einzugreifen:

»Das war nicht Ihr Mann, sondern die Leute, die ihn nach seiner Flucht gefunden haben. Man hatte ihn in einen Aufzug gesteckt …«

»Aber er hat doch Platzangst«, entgegnete Frau Hagendorf, immer noch im gleichen vorwurfsvollen Ton.

»Das interessiert Entführer im Allgemeinen wenig«, erwiderte Cornelia leicht gereizt.

»Aber sie haben von mir verlangt, dass ich die Polizei heraushalten soll … und jetzt sind Sie hier … und das wissen die ganz bestimmt.«

Mit einem Mal verstand Cornelia, dass Frau Hagendorfs scheinbarer Ärger in Wirklichkeit Angst war.

»Haben Sie dir was angetan?«, fragte Elke Hagendorf ihren Mann.

»Du meinst, abgesehen davon, dass sie mich entführt und in einem dunklen Aufzug eingeschlossen haben?«

Sie nickte; ihr Mann schüttelte den Kopf.

»Haben Sie schon das Lösegeld gezahlt?«, fragte Cornelia.

»Ja; wie sie gesagt hatten.«

Cornelia bat sie, ihr zu erzählen, was vorgefallen war.

»Der Anrufer war Ausländer«, berichtete Frau Hagendorf, sichtlich bemüht, alles richtig wiederzugeben.

»Haben Sie den Akzent erkannt?«

»Nein. Nur dass er ausländisch war. Ich habe kein gutes Gehör für so was.«

»Und Sie?«, wandte sich Cornelia an Thorsten Hagendorf.

»Der, der mir Anweisungen erteilt hat, hat mit Akzent gesprochen, aber ich könnte nicht sagen, mit was für einem. Er hat auch nicht viel gesagt.«

Cornelia wandte sich wieder an Elke Hagendorf.

»Und was haben Sie dann getan?«

Sie berichtete ihr in allen Einzelheiten von den Anweisungen, die sie erhalten hatte. Während sie sprach, ließ sie ihren Mann nicht aus den Augen, als erwarte sie, etwas in seinem Blick oder an seinem Körper zu finden. Er ließ sich mustern wie ein braver Patient.

»Haben Sie den Kassierern in der Bank nichts gesagt? War keiner von ihnen neugierig?«

»Na ja, beide haben fast den gleichen Witz gemacht. Ob ich mich aus dem Staub machen wolle. Der eine hat mich gefragt, ob ich nach Brasilien wolle, der andere nach Kuba.«

Jeder hat seinen eigenen Traumort, dachte Cornelia, dann fragte sie:

»Haben sie Ihnen große Scheine gegeben?«

»Ein bisschen von allem. Ich wollte um nichts Bestimmtes bitten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Wie viel Geld haben Sie abgehoben?«

»Vom Bankkonto zwanzigtausend, vom Sparkassenkonto zwölftausend. Den Rest haben wir in Fonds und Aktien angelegt.«

»Und du hast alles den Entführern gegeben?«, fragte ihr Mann. Cornelia hätte nicht sagen können, ob sein Tonfall ängstlich oder bewundernd klang.

»Natürlich. Ich konnte doch nicht feilschen. Schließlich warst du in Gefahr.«

»Du hast recht. Es ist ja bloß Geld.« Hagendorf lächelte seine Frau verzagt an.

»Und den Schmuck. Aber die guten Stücke sind versichert.« Zum ersten Mal lächelte Elke Hagendorf ebenfalls.

»Haben Sie Fotos davon?« Die Stimme Reiners, der die ganze Zeit über schweigend mitgeschrieben hatte, löste Cornelia für einen Augenblick ab.

»Die Versicherung hat welche.«

»Wir brauchen eine vollständige Liste und Kopien der Fotos, falls sie auf die Idee kommen, den Schmuck zu verkaufen.«

»Klar, klar«, sagte Thorsten Hagendorf und lehnte sich im Sofa zurück. Er war erschöpft, aber sie konnten ihn nicht ausruhen lassen, bis sie von beiden alles erfahren hatten.

»Wie sind Sie dorthin gekommen, Frau Hagendorf?«, fuhr Reiner fort. Er legte den Notizblock auf seine Oberschenkel und wandte sich ihr zu. Das leise Quietschen seiner Schuhsohlen auf dem dunklen Parkett lenkte Elke Hagendorfs Blick ab.

»Ich habe ein Taxi genommen. Ich war zu aufgeregt, um zu fahren.«

»Und was haben Sie dort getan?«

»Das, was man mir gesagt hatte. Ich habe mich auf die Bank gesetzt und gewartet.«

Nun, da der Blick seiner Frau nicht länger auf ihm ruhte, versank Thorsten Hagendorf immer tiefer im Sofa.

»Hat es lange gedauert, bis sie die Tasche geholt haben?«

»Fünf Minuten. Oder weniger. Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht gerührt, und ich glaube, ich habe nicht einmal mehr geatmet, als ich merkte, wie jemand hinter mir die Tasche an sich nahm.« Sie sah ihren Mann an, dann Cornelia, und sprudelte hervor: »Und was passiert jetzt? Was werden die tun, wenn sie merken, dass er nicht mehr im Aufzug steckt?«

»Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas tun werden. Sie haben ja, was sie wollten«, versuchte Reiner sie zu beruhigen.

Sie stand auf, ging so eilig um den Couchtisch herum, dass sie sich heftig das Knie an einer der spitzen Kanten anstieß und ihren Strumpf zerriss, doch der Schmerz ließ sie nur einen Moment lang wanken, dann schloss sie ihren Mann in die Arme. Cornelia stand auf. Thorsten Hagendorf legte den Kopf auf die Schulter seiner Frau.

»Ich habe getan, was sie gesagt haben, genau, was sie gesagt haben.« Sie strich ihrem Mann übers Haar. »Ich habe die Anweisungen haarklein befolgt, genau wie die anderen, und jetzt haben sie das Geld und alles, was sie von mir verlangt haben, sogar mein Geburtstagsgeschenk.« Sie lehnte sich zurück, um ihrem Mann die schmucklosen Ohrläppchen zu zeigen.

Thorsten Hagendorf hob den Kopf und sah sie mit Tränen in den Augen an. Sie nahm vorsichtig seine rechte Hand und begann, sachte die Verbände um seine malträtierten Finger zu küssen.

Reiner war gerührt. Cornelia nicht. Sie hatte zwei Wörter aufgeschnappt, die sie veranlassten nachzufragen:

»Wer sind die anderen, Frau Hagendorf?«