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Über dieses Buch:

Ende des 19. Jahrhunderts kommt die junge Madelaine nach Riga: Wird es ihr hier gelingen, ihre tragische Vergangenheit zu vergessen? Die begabte Zuckerbäckerin macht sich mit ihren köstlichen Tortenkreationen und Trüffeln schnell einen Namen – noch dazu sind die lettischen Männer geradezu berauscht von der Schönheit des »Schokoladenmädchens«. Als sich Madelaine zum ersten Mal verliebt, scheint ihr Glück perfekt zu sein. Doch András ist ein ungarischer Graf – und geradezu unerreichbar für eine Bürgerliche …

Der Bestseller »Das Schokoladenmädchen« in neuem Gewand: »Wunderbar leicht geschrieben, flott und nie langatmig.« Mindener Tagblatt

»Sehr detailgetreu erzählt Katryn Berlinger die Geschichte des Schokoladenmädchens, so dass man nicht anders kann, als in das 19. Jahrhundert einzutauchen, um diese Geschichte mitzuerleben.« Lovelybooks.de

Über die Autorin:

Katryn Berlinger arbeitete lange Zeit als Direktionsassistentin, entschied sich dann aber für ein Studium der Literaturwissenschaften und Systematischen Musikwissenschaft. Nach ihrem Abschluss war sie in einem Hamburger Schallplattenunternehmen erfolgreich tätig. Für einige Jahre tauschte sie dann den Beruf gegen die Familie ein. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Norddeutschland.

Katryn Berlinger veröffentlichte bei dotbooks bereits »Die Zuckerbäckerin von Riga« und »Die Liebe der Zuckerbäckerin«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Mai 2020

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Das Schokoladenmädchen« bei Knaur und 2016 unter demselben Titel bei dotbooks

Copyright © der Originalausgabe 2004 bei Knaur Taschenbuch

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Urmas Haljaste, faestock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95824-618-8

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Katryn Berlinger

Die Zuckerbäckerin von Riga

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Im Winde auf und ab schwebend flogen Silbermöwen, Vorboten des heimatlichen Kontinents, dem Schiff entgegen. Neugierig umflatterten sie den Bug des deutschen Frachtdampfers Eleonora, der sich 1896 unter Führung von Kapitän Hilmar Pilar zügig der europäischen Küste näherte. Doch im Schiffsbauch, ohne Licht, ohne Frischluft, kämpfte die knapp 18-jährige Madelaine Elisabeth Gürtler mit jeder Seemeile gegen Seekrankheit und Albträume.

Wie mochte Alabaster aussehen? Madelaine delirierte seit Tagen. Trotz ihrer Übelkeit stellte sie sich weiße Blüten vor, so blendend weiß wie die in der chilenischen Sonne gleißenden Kristalle der Salpetersalze, die auf Ladebühnen in der Oficina, der verhassten Salpeterfabrik, zu riesigen Kegeln gehäuft wurden. Alabaster, umflort von einer selig machenden Kraft, die Wunden schloss, Schmerzen nahm und Trauer in Frohsinn wandelte. Madelaines Zähne knirschten, sie versuchte zu schlucken. Vage spürte sie den brackigen Lappen, den ihre Mutter ihr unters Kinn legte, und fühlte fiebernd die Nässe ihres verklebten Körpers. Doch die Erinnerungen drückten sie wie eine Ertrinkende zurück – in die Trauer um den toten Vater. Madelaines Seele war wund und flatterte wie ein verängstigter Vogel, der sich in einem fremden Haus verirrt hat.

Erst als die Eleonora sich der Küste des portugiesischen Festlands näherte, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

***

Kapitän Hilmar Pilar betrachtete nachsinnend ein bauchiges weißgraues Wolkengebilde, das backbords seines Dampfschiffs auftauchte – rund wie die Großsegel eines Windjammers, in die der kräftige Wind blies, rund wie Busen und Hüften einer Frau. Pilar schnalzte mit der Zunge und rief sich Figur und Gesicht eines weiblichen Passagiers in Erinnerung, der tief unten im Bauch seines Schiffs auf den harten Pritschen des Zwischendecks lag, nur durch eine Bretterwand von der kostbaren Salpeterladung und den Edelhölzern getrennt.

Eine schmucke Deern, das ist sie , dachte er, mit Augen, dunkel und schimmernd wie Südseemuscheln, Lippen …, er überlegte amüsiert … na ja, wie ein aufgeschlagener Granatapfel. Und unter den Lumpen ein Körper, der nach Zimt und Vanille duften könnte. Er runzelte die Stirn und fügte in Gedanken hinzu: Wenn sie gesund und sauber wäre … das arme Ding! Kam schon schmutzig und unglücklich an Bord.

Steuerbordseitig lag nur wenige Seemeilen entfernt die nordspanische Küste. Die Fahrt von Chile, rund ums sturmgepeitschte Kap Hoorn, quer über den Atlantik war ohne Zwischenfälle verlaufen. Der Wind blies von Nordwest, und hätte er, Kapitän Pilar, noch wie früher einen schönen Windjammer unter den Füßen, hätte er ohne Probleme mit vollen Segeln in den Ärmelkanal einlaufen können. Doch die Zeit der stolzen Großsegler, die als Frachtschiffe eingesetzt waren, ging zu Ende. Dieses war nun schon die sechste Fahrt von Hamburg nach Valparaíso, und er hatte mehr und mehr Gefallen an diesem modernen, technisch aufgerüsteten Dampfschiff und seiner Geschwindigkeit gefunden.

Mit der messerscharfen Kante ihres begradigten Klipperbugs durchschnitt die Eleonora die leichte Dünung der See, volle Kraft voraus. Vor gut zwei Wochen hatte sie in Valparaíso, Chiles berühmtestem Hafen, Salpeter, Tropenhölzer, Kisten mit Zigarren und Zigaretten, Post und Pakete geladen. Seitdem war sie unterwegs, hatte nur kurz in Lissabon Anker geworfen und fuhr jetzt weiter gen Osten, Zielhafen Hamburg.

Die Mehrzahl der gut 30 Erste-Klasse-Passagiere lag in Liegestühlen aus Teakholz auf dem Oberdeck und löffelte heiße Brühe. Es waren vornehmlich Techniker, Vertreter deutscher Handelshäuser, Kaufleute und höhere Beamte. Manche von ihnen kannte Kapitän Pilar von früheren Reisen. Allesamt eigentlich langweilige Leute. Interessanter waren da schon der Bankdirektor und der Naturforscher mit weißem Kakadu, am unterhaltsamsten aber war Urs Martieli, der Schweizer Konditor mit Hang zu Klavierspiel und flotten Liedern.

Alles ging seinen gewohnten Gang. Im Bauch der Eleonora fütterten Heizer in glühender Hitze die Kessel mit Kohle, und heißer Dampf trieb die malmenden Schiffsschrauben an. Der Rauch, der aus den beiden Schornsteinen qualmte, zerstob im Blaugrau des Himmels. Jedes Mal, wenn Krüger, der hagere Steward, seinen hölzernen

Servierwagen über das Deck rollte, zog ein leichtes Zittern über die Planken. Sich bückend und verbeugend verteilte er die stärkende Suppe nebst Servietten und weißem Brot. Die Passagiere plauderten unter einer aufgezogenen Markise. In den Duft der Brühe mischte sich der würzige Rauch von Zigarren, die zwei beleibte Herren in schwarzem Anzug und Zylinder mittschiffs an der Reling schmauchten.

»Ein Fraß ist das, was der Engländer Cunard auf seinen Schiffen anbot«, empörte sich Christian Voith, Banker aus Hamburg. »Stellen Sie sich einmal vor, dunkelgelb gekochte Hammelkeule. Und als Dessert ein verdorbenes Mischmasch aus Äpfeln, Trauben und Orangen. Scheußlich, sage ich Ihnen, scheußlich! Aber die Zeiten haben sich geändert.«

»Zum Glück«, pflichtete ihm Werner Strauss, Maschinentechniker aus Dortmund, bei. »Und der Collins aus Amerika hat’s ihm ja auch gegeben. Allein die Keller seiner Schiffe fassten schon 40 Tonnen Eis. Buntglasfenster, Spiegel überall, Brocatelli-Marmor und das Schiffsinnere aus Steineiche, Rosen- und Atlasholz. Und nun ist er pleite. Vorbei der Prunk. Doch Sie haben recht, wie beim Essen so auch sonst – alles ändert sich. Vorbei die Zeit der Segler. Charlie Parsons Dampfturbine macht 18.000 Umdrehungen die Minute. Das gibt Kraft. Unsere Schiffe pflügen jetzt geradezu durch die Meere. Ohne Bugspriet, dafür mit stolzen Schornsteinen.«

»Albert Ballin bringt ja beides unter einen Hut, Sicherheit und Luxus. Und ein gutes Verhältnis zum Kaiser hat er auch.«

»Na ja, wo er doch seine Passagierschiffe mit Doppelschrauben ausrüstet und nach des Kaisers Gemahlin getauft hat – Auguste Victoria und Columbia. Der Kaiser soll sogar mehrmals im Jahr privat zum Essen zu Ballin ins Haus kommen.«

»Ein schlauer Fuchs ist er. Residiert im Schloss an der Elbe. Und auf der Auguste gibt es eine Rokokotreppe über zwei Decks. Stellen Sie sich mal vor, was das gekostet hat. Und dann noch sternförmige Lampen, die von vergoldeten Cherubim gehalten werden.«

»Wissen Sie, worauf ich jetzt Appetit habe? Auf Schildkrötensuppe, Truthahn in Austernsoße, Gans in Champagner und Mandelpudding.«

»Oh, gegen gekochten Barsch in Sauce hollandaise plus Apfelbeignets in Gelee und Johannisbeertörtchen hätte ich auch nichts einzuwenden.«

Die beiden Herren lachten und winkten einen wohl 15-jährigen Schiffsjungen herbei. Barsch befahlen sie ihm, man möge ihnen einen Cognac bringen. Die Gläser kamen schnell. Rasch schoben die Herren ihren Zylinder in den Nacken und prosteten mit ausgestrecktem Arm dem Kapitän auf der Brücke zu. Pilar grüßte grimmig zurück. Noch mindestens 14 Jahre Seefahrt, dann würde auch er es sich gemütlich machen können. Plötzlich lauschte er. Tatsächlich, da spielte jemand im Salon Klavier. Er gab dem wachhabenden Offizier ein Zeichen und verließ die Kommandobrücke. Und wirklich, am alten Biedermeierflügel saß in grauem Cut und schwarz-grau gestreiften Hosen Urs Martieli, jener Schweizer Konditor, der in Valparaíso seinen Bruder besucht hatte. Es gibt sie eben auch, dachte Pilar mit Genugtuung, die erfolgreichen Aussiedler, die keine Probleme bereiten, weder im Heimatland noch im Gastland, noch an Bord.

Je näher er dem Salon kam, desto deutlicher hörte er die ihm vertrauten Worte, verpackt in eine schwelgende Melodie.

»… Ihr Fröhlichen, singt, weil das Lehen noch mait:

Noch ist ja die schöne, die blühende Zeit,

noch sind die Tage der Rosen,

die Tage der Rosen!«

Du Schwerenöter, dachte Pilar belustigt, denn der fröhliche Sänger mochte bereits die 40 überschritten haben. Nun hob dieser zur zweiten Strophe an.

»Frei ist das Herz, und frei ist das Lied,

und frei ist der Bursch, der die Welt durchzieht,

und ein rosiger Kuss ist nicht minder frei,

so spröd’ und verschämt auch die Lippe sei.

Wo ein Lied erklingt, wo ein Kuss sich beut,

da heißt’s: Noch ist blühende, goldene Zeit,

noch sind die Tage der Rosen,

die Tage der Rosen!«

Auf die dritte Strophe verzichtete der temperamentvolle Alt-Jüngling und stimmte stattdessen einen Strauss’schen Walzer an, dem er, ohne Atem zu holen, eine flotte Polka folgen ließ. Pilar blieb hinter einem Pfeiler stehen, lächelte und summte leise mit. Leidenschaftlich schwang der Schweizer Konditor mit der Musik vor und zurück, bis er die Polka mit kräftigen Akkorden beendete. Kurz schaute er zur Decke, schüttelte die Hände seitwärts aus, um mit neuem Elan die Tasten zu bearbeiten. Pilar riss die Augen auf – das kannte er doch auch, diesen Gassenhauer und Schmachtfetzen.

Urs Martieli lehnte sich zurück und sang, wie es über den Noten stand, »Mit Feuer« und aus vollem Herzen.

»Mein Herz ist wie ein Bienenhaus,

die Mädchen drinnen sind die Bienen,

sie fliegen ein, sie fliegen aus,

grad wie in einem Bienenhaus,

in meines Herzens Klause,

hollia hoja, hollia hoja,

holliaho, holliaho, holliaho!«

Und da es ihm so gut gefiel, wiederholte er das Lied. Pilar brummte den Text mit und wunderte sich immer mehr über diesen seltsamen lockeren Vogel. Er wusste sich zu kleiden und war galant zu den wenigen Damen an Bord, obwohl diese verheiratet waren. Dabei beherrschte er sogar die Kunst, sich gleichzeitig die Sympathie der Ehemänner zu sichern – durch aufmerksames Zuhören, weitläufiges Wissen und derbe, intime Witze, die selbst erfahrenen Herren rote Ohren bescherten. Pilar betrachtete den lockigen Rundkranz seines Haars. Wahrscheinlich trug dieser Schwärmer bei der Arbeit eine gestärkte weiße Mütze, hoch wie ein perfektes Soufflé! Und das Haupthaar war darunter im Laufe der Zeit langsam verdorrt. Pilar grinste in sich hinein. Doch er fand, dass Martieli, selbstbewusst, wie er seinen Kopf trug, ungemein attraktiv wirkte. Ein Wink mit seinem Rührlöffel, und die Damenwelt lag flach. Verheiratet war er laut Passagierliste nicht, Geld aber musste er wohl besitzen. Er strahlte es einfach aus.

Mit Hingabe spielte Martieli einen Walzer von Suppé, und Pilar grübelte darüber nach, wie es angehen mochte, mit Zucker, Butter und Mehl Dinge zu zaubern, die einen wohlhabend machen konnten, ohne dass man seinen Platz verlassen musste. Doch die herbeieilenden Schritte eines seiner Offiziere rissen ihn aus seinen Gedanken.

»Schlägerei auf dem Zwischendeck!«, meldete ihm der Zweite Offizier.

»Verdammte Halunken!«, zischte Pilar verärgert. Unwillig riss er sich von seinem geheimen Lauschplatz los und folgte ihm. »Einsargen sollte man sie! Oder in Fässer stecken wie die Heringe!«

»Soll ich Folker befehlen, noch eine Trennwand zu nageln?«

»Kommt nicht infrage. Nägel und Bretter brauchen wir noch. Haut ihnen eine rein«, befahl Pilar ungeduldig. »Und so was kommt in unser schönes Europa, unser aufstrebendes Deutschland zurück.« Er schüttelte sich vor Widerwillen. »Verrecken hätten sie sollen da drüben!«

»Kommen ja nur wenige zurück«, sagte der Offizier und gab dem Unteroffizier einen Wink. »Raus aus Europa und dem Osten wollen viele, aber nur die Tüchtigsten schaffen es wirklich.«

»Die meisten sind sowieso nur Träumer und Tunichtgute. Unnützes Gewürm!«, schnaubte Pilar erneut, noch immer verärgert darüber, aus einer schönen Stimmung gerissen worden zu sein.

»Wie sieht es bei den Weibern aus?«

Der Offizier zuckte mit den Schultern. »Alles ruhig, meine ich.«

Kapitel 2

Kurze Zeit nachdem die Eleonora in den Ärmelkanal eingelaufen war, wachte Madelaine auf. Ihre Übelkeit war verschwunden. Beschämt merkte sie, wie erbärmlich sie roch. Doch sie war froh, wieder bei Sinnen zu sein und klar denken zu können.

Wo war sie? Richtig, sie lag hier unten im Bauch dieses Dampfschiffs im verrufenen Zwischendeck. In einem rau zusammengezimmerten Brettergestell, dessen Pritschen

ungefähr so breit wie ihr Unterarm lang waren. Zwischen ihrer Pritsche und der über ihr lagen nur wenig mehr Zentimeter. Sie hörte das Dröhnen der Schiffsmotoren durch Holzlatten und Wände. Es drang bis in den feinsten Nerv.

Doch sollte sie sich darüber beklagen? Was waren sie denn mehr als eine schäbige Horde von Aussiedlern, die in ihre Heimat zurückkehrten. Fast verhungert in der Alten Welt, waren sie nun auch noch in der Neuen Welt gescheitert. Und beladen mit der Schande, als Versager zurückkehren zu müssen – das Geld für die Rückreise gestohlen, von Krepierten geerbt oder wie auch immer.

Ihre Rückfahrt und die ihrer Mutter aber war mit ehrlicher Hände Arbeit verdient. Jedoch bezahlt mit Vaters Leben. Wie einen Hund hatte man ihn in fremder Erde begraben. Er lag nicht auf dem schönen mauerumsäumten Friedhof von Valparaíso, auf dem die leuchtend roten Bougainvilleen und vielfarbigen Rhododendren so herrlich dufteten. Nein, Vater nicht.

Mutter und sie hatten es eines Tages in der Wüste bei Antofagasta, hoch im Norden von Valparaíso, nicht mehr ausgehalten. Eine Gegend, in der es so heiß war, dass Eisen nicht rostete, Fleisch nicht verfaulte und Leichen nicht verwesten, sondern vertrockneten. Sand, der immerzu Staub aufwirbelte, bedeckte die Straßen von Antofagasta, der reichen Salpeterprovinz. Es gab keine Bäume, keine Schönheit, kaum Feuchtigkeit, nur Kakteen, Hitze, dornige Algarrobos, ein paar Pfefferbäume und tägliche Mühsal. Und jene menschenverachtende Salpeterfabrik, wo Vater schuftete. Und sie zu dritt unter gewalttätigen Gesellen hausen mussten. Bis es Mutter zu viel wurde. Sie kehrte mit ihr, Madelaine, dem Salpeter und Vater den Rücken und ging nach Valparaíso zurück, in eine Holzhütte in den Hügeln jenseits der Stadt. Die Wäsche der anderen, die sie wusch, flatterte jedem schon von Weitem entgegen.

Vater blieb dort. Er schaffe es schon, hatte er ihnen versichert. Noch ein paar Jahre, dann habe er Geld genug, um wenigstens ein kleines Stück Land, Bauholz, einen Ochsen und Gemüsesaat zu kaufen.

Monate vergingen, ein Jahr, ein zweites. Selten bekamen sie ein Lebenszeichen von ihm. Doch Vater kehrte nicht zurück. Irgendwann hieß es, er sei gestorben. Immer wieder stellte sich Madelaine vor, wie die rauen Gesellen dort Thaddäus Gürtler in der trockenen Erde verscharrt hatten. Madelaine blinzelte im Halbdunkel zum Gestell gegenüber, wo eine ältere Frau in den Wehen lag. Das Kind wollte und wollte nicht kommen. Zu ausgezehrt war der verhärmte Körper der Frau. Ob das Kind ahnt, in welch aussichtslose Welt es gelangen wird?, dachte Madelaine. Sie bildete sich ein, dass ihm der mütterliche Schoß bereits zuraunte, wie unbarmherzig das Leben enden konnte.

Wie sehr hatte Vater sie geliebt. Mit wie viel Träumen hatte er sie aus dem feuchten Kellerloch des Hamburger Gängeviertels aufs Auswandererschiff gelockt. Valparaíso – welch ein Klang. Vater hatte von Gummi- und Mandelbäumen geschwärmt, Palmen, schmeichelnden Winden und einem eigenen bunten Häuschen und redlich verdientem Wohlstand. Valparaíso sei eine bedeutende Hafenstadt, in der aufstrebende Engländer und Deutsche in imponierenden Villen rund um den Hafen lebten. »Schiffsagenturen, Börse, Banken, Kontore, Wechselstuben – alle brauchen sie Arbeitskräfte und zahlen gut.« Aufsteigen würde man, hatte Vater gejubelt. Mit Fleiß und Ausdauer.

Doch das Pech hatte ihn in Valparaíso verfolgt, ein Spekulationsgeschäft hatte die Ersparnisse vernichtet. Als er dann noch verdächtigt wurde, Geld unterschlagen und einen Diebstahl begangen zu haben, musste er mit Frau und Kind ins verhasste Salpeterland fliehen.

Vergangen, alles vergangen.

Madelaine schnürte sich der Hals zu. Jetzt lag sie hier im stinkenden Zwischendeck eines Handelsschiffs neben kranken alternden Weibern. Und einer Mutter, deren Worte ihr seit frühester Kindheit in die Seele gebrannt waren: Du hast mein Leben zerstört.

Weil sie sich einmal mit dem im Gängeviertel allseits beliebten Thaddäus Gürtler eingelassen hatte – nach dem Tanz in den Mai, hinter einem Fliederbusch. Sie hatte ihn heiraten müssen. Statt ledig zu bleiben und Weißstickerin zu werden, musste sie ein Kind großziehen und nach Chile auswandern.

Madelaine wusste, dass ihre Mutter es nur als gerecht empfand, dass ihr Mann tot war und sie die Rückreise nach Hamburg antreten konnte. Sie presste die Faust auf ihren Leib. Ein abgewetzter Gürtel raffte ihre übereinander getragenen Kleider zusammen. An diesem Gürtel hing ein Beutel mit dem Ehering ihres Vaters und ihrer Geburtsurkunde. Der Ring war in buntes Schokoladenpapier gewickelt. Chocolata, die Speise der Götter. Wann immer es Vater möglich war, hatte er beim italienischen Kaufmann in der Pulperia Schokolade für sie gekauft. Chocolata ist gut für die Seele, sagte er mit den Einheimischen. Selbst die gewalttätigen Gesellen stimmten dem zu.

Wie oft hatte sie Vaters Hände dafür geküsst, seine zerschundenen, vom Salz verätzten Hände. Madelaine rief sich noch einmal in Erinnerung, wie Vater gearbeitet hatte. Erst musste Caliche, die eigentliche Salpeterschicht, mit dem Brecheisen gelockert werden. Dann wurde sie auf Karren gelagert, zur Fabrik gefahren, in Schächten zermalmt, mit riesigen Mengen Wasser ausgelaugt, in Kochkesseln gesiedet, in Pfannen, den Falcas, getrocknet, auf die Canchas, die Ladebühnen, gehievt und schließlich in Säcke geschaufelt – Säcke, wie sie jetzt im Laderaum dieses Schiffs lagen.

Madelaine sah, wie ihre Mutter sich erhob und energisch zwischen den Pritschen hin und her lief. Ein grimmiger Blick traf sie. Madelaine versuchte, ihm auszuweichen. Klein und ungeliebt kam sie sich im Bannstrahl dieser Augen vor. Zwar kannte sie es nicht anders, doch hier, auf dieser Pritsche, mit Schweiß und Erbrochenem am Leib, wirkte der Wille ihrer Mutter wie ein Todesstoß.

»Ein Gutes hat es ja gehabt, die paar Jahre in Chile«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Er hat mir ja sonst was versprochen. Nichts ist geworden. Nichts. Doch ich habe wenigstens etwas gelernt, die Weißstickerei nämlich. Damit werde ich mir mein Geld selbst verdienen. Für mich leben. Nur für mich!«

»Was du nur wieder willst, Herta«, hörte Madelaine die Frau sagen, die unter ihr lag. »Dein Mann ist unter der Erde. Deine Tochter kann heiraten, gebären. Und du willst neu anfangen? Für die feinen Damen arbeiten? Gib’s auf. Du bist bald welk wie ich.«

Sie hustete und spuckte Blut in den schmutzigen Blecheimer, der am Brettergerüst festgebunden war. Die wenigen Frauen in den schmierigen und von Schmutz jeglicher Art stinkenden Brettergestellen tuschelten untereinander. »Das liegt nur an deiner Hurerei. Den Tod haben sie dir reingestoßen«, hörte Madelaine ihre Mutter, eine kräftige Frau Ende 30, erwidern. »Ich lasse mir von niemandem mehr etwas vorschreiben, weder von einem Mann noch von der da.«

Madelaine durchzog ein dumpfer Schmerz. Sie kam sich vor wie ein Beutetier im Würgegriff einer Anakonda. Was war sie mehr wert als Haut, Zähne und Knochen?

»Herta, versündige dich nicht«, hörte sie die Frau stöhnen, die in den Wehen lag. »Versündige dich nicht.«

Madelaine sah zu ihr hin und bemerkte das wehmütige Leuchten in ihren Augen. Doch von Schmerz durchpeitscht, sackte die Frau gleich darauf wieder in sich zusammen.

»Wie heißt sie noch mal, deine Tochter?«

»Madelaine. Ich wollt ja einen Jungen, wenn es denn schon sein musste. Hermann oder Wilhelm hätt ich ihn genannt.«

»Warum Madelaine?«, hakte die Gebärende angestrengt nach, als wollte sie das letzte Geheimnis des Lebens erkunden.

»Mir war es gleich. Aber ihr Vater hat 70/71 gegen die Franzosen gekämpft, wo er den Namen als Souvenir an eine Kokotte mitgebracht hat. Wie Männer halt so sind.« Mit welcher Verachtung Mutter wieder von Vater sprach. Mehr als einmal hatte er ihr gesagt, wie anmutig und weiblich sanft der Name in seinen Ohren klinge.

Sie erinnerte sich an einen besonders schönen Tag, an dem er sie mit einer ganzen Tafel Schokolade überrascht hatte. Sie saßen in Valparaíso im Schatten eines gewaltigen Trompetenbaums. Noch jetzt hörte sie ihn erzählen. »Damals im Krieg wurde ich am Kopf verletzt. Ich wurde bewusstlos. Und weißt du, wo ich aufwachte? In einem Ziegenstall. Ich lag auf Stroh und mein Kopf im Schoß eines französischen Bauernmädchens. Sie setzte mir eine Flasche an die Lippen. Etwas so Köstliches hatte ich noch nie zuvor geschmeckt – Burgunderwein. Sie sorgte für mich wie eine Schwester, brachte mir jeden Tag Brot, Käse und Milch. Sogar um meine Wunde kümmerte sie sich. Sie wusch sie mit einem Sud von Wermut und Lavendel aus, legte Blätter von Steinklee und Ringelblume darauf, bis sie sich geschlossen hatte. Dann musste ich gehen. Sie nahm mich an die Hand und geleitete mich in einer mondverhangenen Nacht bis über die Dorfgrenze hinaus. Nie werde ich das vergessen. Mutter darf es nie erfahren. Sie würde es nicht verstehen.«

Madelaine wollte sich erheben, doch sie stieß gegen die niedrige Decke der oberen Pritsche. Ihr kam es vor, als ob das Schiff zu schlingern beginnen würde. Selbst das monotone Stampfen schien einem malmenden Brausen zu weichen. Die Frauen starrten alle in eine Richtung. Die Gebärende hatte aufgehört zu atmen. Sie war tot, und ihr Kind starb in diesen Sekunden in ihrem Leib.

Kapitel 3

Als Kapitän Pilar die Kommandobrücke betrat, war er froh, sein Schiff frei von den heimtückischen Nebelbänken zu wissen, für die der Ärmelkanal berüchtigt war. Doch ein Blick auf das Barometer verhieß Sturm. Und gegen Mittag bereits schwoll der Wind, der vom Atlantik aus blies, so stark an, dass Pilar befahl, die Maschinen zu drosseln. Die Fahrt wird schwierig werden, dachte er verärgert. Regen hatte eingesetzt. Pilar warf sich seinen Mantel über und ging nach draußen an die Reling. Besorgt sah er nach achtern. Die rasch zunehmende Windstärke verursachte eine stürmisch nachlaufende See, die fast schon die Höhe der Heckreling erreichte. Zurück auf der Kommandobrücke, zündete er sich seine Pfeife an, schob sie sich nach einigen schmatzenden Zügen in den rechten Mundwinkel, kaute am Stiel und hoffte das Beste.

Madelaine und die übrigen Passagiere des Zwischendecks konnten nichts sehen, da die Luken mit Brettern zugenagelt waren. Die wenigen Laternen, die einen schwachen Schimmer verbreiteten, schwankten heftig gegen die Holzpfosten. Einige Frauen hatten die Tote in ihre Decke eingenäht. Da die Leiche von der Pritsche zu fallen drohte, banden sie sie mit Schnüren am Brettergestell fest. Keine von ihnen wagte einem der Matrosen zu sagen, dass jemand von ihnen gestorben sei. Eine merkwürdige Scheu hielt sie davon ab, eine soeben Verstorbene in die kalte Einsamkeit des Ozeans zu werfen.

Das Schlingern des Schiffs nahm zu. Wer auf den Pritschen lag, rollte immer stärker hin und her. Gleichzeitig hob und senkte sich der Bug des Schiffs beängstigend. Wer stand, musste sich mit beiden Händen festhalten, weil der Boden unter den Füßen schwankte, als wäre er ein Brett auf einer Kugel. Plötzlich kam es Madelaine so vor, als schlügen Wellen auf das Oberdeck.

»Mutter, wir müssen nach oben!«, rief sie.

Auch die anderen Frauen drängten jetzt zur Tür, sich an den Wänden des schmalen Gangs abstützend, mal links, mal rechts, wie Betrunkene. Während das Schiff von Minute zu Minute stärker schlingerte, erreichten sie die Holztreppe, die nach oben führte. Von den Männern des Zwischendecks waren bereits etliche in die große Eingangshalle gestürmt, aus der die Matrosen sie schimpfend zurückzudrängen versuchten. Auch in dieser Notsituation galt es zunächst, den Passagieren der ersten Klasse zu helfen. Doch die wütenden Männer benutzten bereits ihre Fäuste und schlugen schließlich so heftig auf die Matrosen ein, dass diese die Flucht ergriffen.

Das Heulen des Winds und die sich gewaltig aufbäumende See wurden jetzt so Furcht einflößend, dass Madelaine wie alle anderen Frauen auch zu schreien begann. Sekunden später geriet die Eleonora in eine so heftige Schräglage, dass sich niemand mehr auf den Beinen halten konnte. Die Menschen beider Klassen stürzten übereinander und fanden sich im großen Speisesaal wieder. Doch ob Polstersessel, Tische, Bilder, Vasen, Geschirr, Spiegel – alles löste sich hier von seinem Platz, flog durch den Raum und verletzte oder erschlug etliche Passagiere. Einer der heftig schwankenden Kristalllüster löste sich aus seiner Aufhängung und schlug mit gewaltigem Getöse auf den Parkettboden. Glassplitter stoben durch die Luft.

Madelaine wurde wie ein Spielzeug herumgeschleudert. Sie konnte nichts anderes tun, als panisch um Hilfe zu schreien. Auf einmal bemerkte sie, wie Wasser auf das Deck flutete. Es drang durch geborstene Scheiben und Bullaugen ins Innere des Schiffs und stieg rasend schnell. Trotz des ohrenbetäubenden Tosens der Naturgewalten hörte sie, wie das eiskalte Seewasser in den Maschinenraum eindrang. Die glühenden Kessel zischten und brodelten, als würden sie im nächsten Moment explodieren.

Sie war sich sicher, dass die Wassermassen das Schiff jeden Augenblick zermalmen und in die tödlichen Tiefen des Atlantiks reißen würden. Ein ohrenbetäubendes Krachen gab ihr recht. Schemenhaft sah sie, wie die Masten des Schiffs auf die Reling schlugen und mit ihnen Lichter, Glocken und Nebelhörner über Bord gingen. Kapitän Pilar ließ Leuchtraketen abschießen und befahl brüllend, die wenigen Beiboote von den Davits loszubinden. Der Sturm war jetzt so gewaltig, dass sich am Heck des Schiffs die Wassertürme meterhoch aufbäumten. Doch mitten in der lebensgefährlichen Kletterei der Matrosen geschah etwas Furchtbares – das Schiff drehte sich, schlug quer und lag nun parallel zur gewaltig heranrollenden See. Mit ihrer Breitseite im Wellental, war die Eleonora ein wehrloses Spielzeug für die unbarmherzigen Sturmwellen. Wie ein Korken rollte sie hin und her. Matrosen und Passagiere wurden vom Oberdeck gespült. Als Madelaine die riesige Welle sah, die sie heckwärts wie eine gigantische Kobra in die Höhe reckte, wurde sie mit einem Mal ruhig. Dieser Wasserturm, der höher als ein Fabrikschornstein auf dem Campamento der Salpetersiederei schien, symbolisierte das Ende.

Jetzt kommt der Tod, dachte sie. Alles ist vorüber. Sie schloss die Augen und sah in einer einzigen Sekunde ihr Leben an sich vorüberziehen. Dann erfüllte ein Knacken die tosende Luft. Der Bug hob sich, aber trotzdem schleuderte die Welle Madelaine meterweit übers Deck und riss sie über Bord. Sie fand sich im tosenden Meer wieder, wo sie die Fetzen einer Stimme hörte, die ihr zurief: »Weg vom Schiff! Halt durch! Aber weg vom Schiff!«

Madelaine schaute sich um, sah jedoch in den auf und ab rollenden Wellen niemanden. Sie begann zu schwimmen, aber schon nach wenigen Zügen spürte sie einen mächtigen Sog. Luft holen, du musst Luft holen, sagte sie sich, dann waren da nur noch eisige Kälte und schwarze Nässe um sie herum.

Jetzt stirbst du.

Ihr Herz stach vor Todesangst, ihre Lungenflügel drohten zu bersten. Ich will nicht! Ich will nicht sterben! Und da passierte das Wunder. Sie spürte, wie sie plötzlich sacht nach oben trieb, wie die Luft unter ihren Kleidern sie emporschweben ließ wie einen Ballon. Kaum erreichte sie die Wasseroberfläche, riss sie Mund und Augen auf und schnappte unendlich erleichtert nach Luft. Rings um sie herum tobte und sprudelte die See. Wo Himmel war und wo Meer, war in den ersten Sekunden nicht zu erkennen. Trotzdem sah Madelaine, wie die Eleonora längsseitig umschlug, einen Augenblick lang kielaufwärts lag und schließlich mit dem Bug voran versank.

Hektisch versuchte sie, von der Stelle zu kommen, fiel aber bloß in tiefe Wellentäler und schluckte Wasser. Eine riesige Welle brach etliche Meter von ihr entfernt über einem der Schornsteine zusammen und drehte ihn wie eine Trommel. Madelaine strampelte gegen das Gewicht ihrer Kleider an, die jetzt mit Zentnerlast an ihr hingen – ein so gut wie aussichtsloser Kampf. Etwas Hartes streifte ihre Schulter. Ein Lukendeckel. Sie griff danach, doch in Sekundenschnelle trug die aufgewühlte See ihn davon. Verzweifelt und bereits ziemlich geschwächt, sah sie sich um. Planken, Liegestühle, Ruder aus den Beibooten – alles war in greifbarer Nähe, doch es gelang ihr einfach nicht, irgendetwas zu fassen.

Stattdessen hörte sie die Schreie Ertrinkender, die rasch vom Sturm und der See verschluckt wurden. Von ihrer Mutter keine Spur. Du hast mein Leben zerstört – wieder klang dieser monströse Satz in ihrem Kopf, während sie auf eine Leiche starrte, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb.

Erbarmungslos rauschte eine Welle über sie hinweg und tauchte sie unter. Madelaine kämpfte sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte wieder an die Wasseroberfläche, prustete und wischte sich die brennenden Augen. Da schlug ihr ein Rundholz gegen den Kopf. Der Schmerz mobilisierte neue Kräfte. Fass zu!, schrie es in ihr. Fass zu! Doch es war wieder zu spät. Ihre vor Kälte klammen Finger rutschten ab.

»Halt durch! Halt durch!«, hörte sie erneut die heisere männliche Stimme.

Sie war ganz nah, aber schlagartig verließen Madelaine jetzt die Kräfte. Sie hielt sich noch wenige Sekunden auf der Stelle, dann bäumte sich vor ihr eine neue Welle auf – doch bevor diese über ihr zusammenschlug, spürte sie, wie sie von hinten ein kräftiger Arm umfasste.

Der Griff des Mannes war so fest, dass ihre Brüste schmerzten, doch wenigstens war sie jetzt nicht mehr allein. Endlich einer, der ihr half. Sie machte wieder Schwimmbewegungen, war sich aber nicht sicher, ob sie und ihr Retter von der Stelle kamen.

»Hier!«, schrie er. »Festhalten! Festhalten!«

Er lockerte seinen Griff, damit sie sich drehen konnte. Madelaine konnte kaum glauben, was da vor ihr schwamm, es war einfach zu verrückt. Der Biedermeierflügel, dessen Klänge jahrelang die Gäste der Eleonora unterhalten hatten, schwamm wie ein Floß, ganz so, als wäre er einzig dazu gebaut worden, einstmals als Rettungsinsel zu dienen – eine Rettungsinsel, die mit unwirklich schöner Form der See trotzte und zu sagen schien: Ich habe Geduld.

Als Madelaine in das angestrengte Gesicht des Mannes schaute, dachte sie im ersten Moment: Wie gut er aussieht. Sein Vollbart passt zu den grauen Augen. Dabei verzerrte sich sein Mund vor Anstrengung, und zwischen seinen Augenbrauen waren zwei tiefe senkrechte Falten.

Da das Instrument verkehrt herum im Wasser lag, klammerten sie sich beide an seine Beine und schaukelten mit dem Wellenschlag mal meterweit in die Höhe, dann wieder meterweit in die Tiefe.

»Warum sinkt der Flügel nicht?«, rief Madelaine nach einiger Zeit.

»Zu alt«, schrie ihr Retter, »kein Stahlrahmen!« Schwappend klatschte der Flügel gegen eine Welle. Gischt spritzte in ihre Gesichter. Nach einer Weile rief er: »Merkst du’s? Der Sturm lässt nach!«

Als die Wellen kaum höher als einen Meter waren, konnte

Madelaine erkennen, dass nur noch wenige Trümmer um sie herumschwammen. Ein wenig von ihnen entfernt entdeckte sie drei weitere Passagiere, die sich an Plankenstücke klammerten. Als sie sich noch etwas drehte, kamen vier Seeleute in ihr Blickfeld, die sich abmühten, eines der kieloben treibenden Beiboote umzuwenden. Einer von ihnen stützte sich ein paarmal auf dessen Längsseite, um es zum Umschlagen zu bringen, aber das Boot war zu schwer. Und so blieb den Männern nichts anderes übrig, als sich weiterhin an der umlaufenden Rettungsleine des Bootes festzuhalten.

Irgendwann muss es vorbei sein, tröstete sich Madelaine immer wieder. Irgendwann.

Es mochte wohl eine Stunde vergangen sein, da ebbte der Sturm so weit ab, dass die See nur noch weich dümpelnde Wellen beherrschte.

»Boot in Sicht!«, schrie plötzlich einer der jungen Matrosen, der sich auf den Kiel des Rettungsbootes gearbeitet hatte, und winkte. Segel und Rumpf eines weißen Fischerbootes kamen zum Vorschein – sie waren endlich gerettet. Das Boot fuhr eine Wende, fierte die Segel und legte bei. Madelaine las seinen Namen: La Perle. Laut rufend beugte sich eine Handvoll Fischer über die Reling und ließ Taue ins Wasser gleiten. Zwei Rettungsringe folgten. Einer der Fischer sprang sogar über Bord und schwamm auf den Flügel zu.

»Mein Gott! Welch ein schönes Mädchen!«, rief er, und im nächsten Augenblick fühlte Madelaine, wie sie unter den Armen gepackt wurde. Selig, doch starr vor Kälte, ließ sie den Flügel los.

Du bist in Frankreich, jubelte sie innerlich. Lieber Gott, du bist zurück in Europa.

Mit dem Gefühl, endlich sicheren Boden unter den Füßen zu haben, gaben ihre Beine an Bord nach. Erschöpft und halb erfroren sank sie in sich zusammen. Mühsam öffnete sie die Augen, hinter der Stirn ein schmerzhaftes Pochen. Um sie herum standen Körbe voller Langusten, Hummer, Taschenkrebse und zappelnder Fische. Ihr Blick begegnete dem des Kapitäns. Neugierig musterte er sie. In seinen Händen, die so groß wie eine Crêpe-Pfanne waren, hielt er eine Schafwolldecke.

»Haben Sie keine Angst. Alles wird gut.«

Er hockte sich vor ihr nieder und wickelte sie in die Decke. Anschließend reichte er ihr ein Glas mit einer schäumenden hellbraunen Flüssigkeit.

»Cidre«, sagte er.

»Cidre«, wiederholte Madelaine für sich. Er schmeckte wunderbar erfrischend nach Apfel und neuem Lebensgefühl und löschte den quälenden Durst. Mit dem Bild eines starken Baumes vor Augen sank sie in einen leichten Schlaf.

Nach einer Stunde wachte sie auf, reckte sich und spähte über die Bordwand. Das Fischerboot hatte sich der Küste genähert. Überall waren Felsen, die wie vom Himmel auf die Erde geschmetterte Gesteinsbrocken ausschauten, wild und wüst. Schaudernd sah sie, wie die See wogend gegen den Stein schäumte. Aber sie entdeckte auch kleine romantische Buchten, die nur vom Meer aus zugänglich waren. Landeinwärts dehnten sich weite grüne Flächen aus, auf denen vereinzelte Steinhäuser standen. Zwischen ihnen waren lila Flecken und gelbe Punkte, wie von Grasnelken und Stechginster.

Die Menschen hier müssen mutig sein, dachte Madelaine. Beklommen schaute sie zu einem gewaltigen Felsbrocken, auf dem ein Leuchtturm Gischt und gefräßigen Wellen trotzte.

Sie näherten sich dem Hafen eines Fischerstädtchens. Die Häuser hier waren genauso grau wie die Felsbrocken an der Küste. Sie waren mit dunklem Schiefer gedeckt und aus demselben Granitgestein wie die Felsen der Küste. Madelaine fand sie unheimlich und düster, doch auch stark und wie geschaffen, es mit Blitz und Donner aufzunehmen. Ihre Neugier erwachte.

Wie Strohhalme schwankten im Hafenbecken die von den Segeln befreiten Masten der Fischerboote. Auf der Mole herrschte reges Treiben, es war Markt. Die Frauen an den Ständen schwatzten und feilschten, Männer rauchten und diskutierten in kleinen Gruppen. Beim Näherkommen der Perle jedoch hielten sie inne. Madelaines Herz klopfte vor Aufregung. Es kam ihr vor, als ob die Menschen schon länger auf das Boot gewartet hätten. Als es an der Kaimauer anlegte, strömten bis auf die Marktfrauen, die ihre Stände bewachten, alle zur Anlegestelle. Madelaine sah in die neugierigen wettergegerbten Gesichter, die sie beäugten wie einen fremden Fang.

»Wir haben Schiffbrüchige!«, rief der Kapitän.

»Wie viel?«

»Acht und eine Meerjungfrau!«

»Mit der Meerjungfrau bist du gemeint«, hörte sie hinter sich die Stimme eines der Überlebenden.

Noch einmal schwankte das Deck unter ihr, als ein Fischer auf die Mole sprang und das Tau am Poller befestigte. »Kommen Sie, Mademoiselle!«, rief ihr der Kapitän aufmunternd zu und hob sie über Bord – geradewegs in die Arme des Fischers, der diese schon nach ihr ausstreckte. Wie ein vielstimmiges Orchester brachen jetzt die Stimmen über sie herein – helle, alte, dröhnende, schrille, alle aufgeregt und besorgt, aber auch neugierig und sensationshungrig. Der Kapitän, der ihr nachgesprungen war, gab nach allen Seiten laut Antworten. Schnell befand Madelaine sich in einer kleinen Traube von Lebensrettern und Überlebenden, umspült von der lärmenden Menschenmenge des Fischerstädtchens. Man schob sie ein Stück an der Kaimauer entlang und dann quer über den Markt.

Neugierig schaute sie an den Köpfen neben sich vorbei. Die Frauen trugen weiße Spitzenhäubchen, die Männer flache runde Kappen, wollene Fischermützen oder schwarze Hüte. Wenige Meter vom Hafen entfernt lud eine Familie Seetang in einen Handkarren. Daneben wartete geduldig ein Pferd mit einem Fuhrwerk.

Manch einer der jüngeren Männer blitzte ihr aus übermütigen Augen zu und murmelte etwas, das andere spitzbübisch grinsen ließ. Waren es Anzüglichkeiten oder Komplimente? Denkt doch, was ihr wollt , rief Madelaine ihnen im Stillen zu, mir ist es gleich. Sie zog ihre Schafwolldecke fester um sich. Aber es gab auch andere Blicke, liebevolle, aufmunternde, die sich wie wärmende Sonnenstrahlen anfühlten. Es tat gut zu spüren, dass man um sie besorgt war, an ihrem Schicksal Anteil nahm. Und dieses beschauliche, friedliche Treiben hier durchströmte ihren unterkühlten Körper mit einem Glücksgefühl.

Wie gut musste es diesen Menschen hier gehen. Madelaine kam sich vor, als wäre sie im Schlaraffenland. Austern, Jakobsmuscheln, Wolfsbarsch, Steinbutt, Schinken, Käse, Eier, Marmelade und Berge von Artischocken, Hühnern und Kartoffeln. Wie üppig, wie appetitlich, wie frei alles angeboten wurde.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte der Kapitän.

Sie fühlte seine schwere Hand ihren Ellbogen fester drücken. Noch immer antwortete er nach allen Seiten den Stimmen, die Ratschläge gaben, sich empörten, einluden.

Eine Frau mit gestreifter Schürze lief auf sie zu, strich ihr übers nasse Haar und rief mit hoher Stimme etwas, woraufhin der Kapitän nickte. Madelaine sah ihr erstaunt nach, wie sie mit Schwung einen Wassereimer gegen die Kaimauer ausgoss und zu einem Haus mit blau gestrichenen Fensterrahmen an der Hafenpromenade eilte.

Au bon heure las Madelaine von Weitem.

Was immer es heißen mochte, der Gasthof sah gemütlich aus. Sie versenkte sich in den Anblick der beiden dicken rosa blühenden Hortensienbüsche neben dem Eingang, bis sie wildes Stimmengewirr hinter sich hörte. Während das Schiff entladen wurde, Hummer, Krebse, Langusten, Doraden begutachtet und kommentiert wurden, zogen einheimische Fischer die Matrosen der gesunkenen Eleonora wie in einem unsichtbaren Fangnetz fort. Sie entschwanden Madelaines Blick hinter der Biegung eines Gässchens.

Eine warme Stube wird sie aufnehmen, Männer, die sie verstehen, werden ihnen zuhören, und die Sehnsucht nach dem Meer wird wiederkommen.

Wie mochte es jetzt weitergehen? Madelaine stolperte vorwärts und stand mit einem Mal zusammen mit ihrem Lebensretter und den anderen drei Überlebenden in der rauchigen Wirtsstube des Gasthofs Au bon heure. Sie fror nun stärker als zuvor. Ihre Beine konnten sie vor Schwäche kaum noch halten. Benommen nahm sie die alten Männer mit den typischen flachen Mützen wahr, die mit Holzschuhen an grob gehobelten Tischen saßen. Vom Rauch ihrer Zigaretten eingehüllt, spielten sie Karten, neben sich kleine Glasbecher und Flaschen mit Rotwein. In dem Moment, da Madelaine sie betrachtete, hielten sie von einer Sekunde zur anderen inne und schauten die Ankömmlinge betroffen an.

Rasch wechselte der Kapitän mit dem schwarzbärtigen Wirt ein paar Worte.

»Man wird uns helfen«, murmelte jemand hinter ihr. »Hab keine Angst.«

Madelaine schaute den Mann an, dessen Stimme sie schon vorhin einmal im kurzen Wortwechsel mit dem Kapitän gehört hatte. Er sprach Deutsch, doch mit Akzent – war es nicht Schweizerdeutsch? Aus dem rauchigen Dunst schälte sich ein nass glänzender Kopf mit tropfendem Haarkranz, ein freundliches Gesicht mit runden Wangen und hellem Bart.

Seltsamerweise begann sie zu weinen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

»Nicht weinen, nicht weinen«, hörte sie ihn sanft flüstern. »Wir haben überlebt.«

Die Wirtin reichte ihr ein Tuch zum Schnäuzen und zog sie, beruhigend auf sie einredend, mit sich fort. Kurz darauf fand sich Madelaine in der ehelichen Schlafstube wieder. Die Wirtin riss die Türen des Kleiderschranks auf und suchte nach Wäsche. Beschämt sah Madelaine an sich hinunter. Um ihre Füße herum bildete sich eine Pfütze. Madelaine zerrte an ihren Knöpfen, doch sie schaffte es nicht, sie durch die Knopflöcher zu drücken. Kraftlos ließ sie die Arme sinken. Könnte ich doch schlafen , dachte sie und drehte sich zum Ehebett um. Sie sah, wie die Wirtin den Kopf schüttelte und auf den Stapel mit Leibwäsche zeigte. Doch Madelaine hatte einfach keine Kraft mehr. Die Wirtin musste ihr helfen. Sie zog ihr die nasse Wäsche aus und rieb sie mit einem Leinentuch trocken, bis ihre Haut brannte. Daraufhin meinte sie, sie müsse erst etwas essen und trinken.

»Danach dürfen Sie schlafen.«

Doch die brennende Haut und die angenehme Wärme der trockenen Kleider machten müde. Madelaine gab ihrer Schwäche nach und sank ins dicke wolkige Plumeau. Sie hörte die Wirtin laut aufseufzen, dann war sie einige Minuten allein. Herrliche, köstliche Momente der Ruhe und Stille.

Als die Wirtin wiederkam, hielt sie ein Gläschen mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit und ein Arzneifläschchen mit Laudanum in den Händen.

»Das wird Ihnen helfen. Eine gute Medizin.« Sie hob Madelaines Kopf. »Armes Mädchen«, meinte sie mitfühlend und strich ihr übers Haar.

Es schmeckte süß und herzhaft. Schon nach wenigen Minuten ließ die Anspannung ihrer Nerven nach. Madelaine kam es vor, als lege sich ein Gazetuch mit heilender Tinktur auf die Wunden ihres Leibes und ihrer Seele. Erleichtert lächelte sie, schloss die Augen und fiel von einem Moment auf den anderen in einen tiefen Schlaf. Seltsamerweise wachte sie jedoch nach kurzer Zeit wieder auf und zitterte nun vor Hunger und Auszehrung. Ihr war kalt, und noch benommen rief sie nach ihrer Mutter.

Die Wirtin kam sogleich zu ihr, fühlte ihre Stirn, murmelte tröstende Worte und half ihr aus dem Bett. Folgsam ließ Madelaine sich von ihr in die Gaststube führen, wo bereits die anderen Schiffbrüchigen saßen, mit ebenfalls trockenen Kleidern am Leib. Die alten Männer, die vorhin Karten gespielt hatten, versuchten, mit ihnen zu sprechen. Fragen gingen hin und her, Spekulationen, ob es nicht noch andere Überlebende geben könnte und warum der Kapitän nicht vorher in einen Hafen eingelaufen sei. Die Bretonen schüttelten den Kopf, gestikulierten und überschütteten die geretteten Männer mit Geschichten von Rettungen und Untergängen – und das alles in Schwaden voller Zigarrenrauch.

»Trinken Sie, Mademoiselle. Der Wein ist ein Geschenk Gottes«, sagte der Wirt mit feierlicher Geste und füllte aus einer bauchigen Korbflasche Rotwein in die Becher.

Seine Frau schüttelte missbilligend den Kopf und erklärte, dass sie Madelaine bereits etwas gegeben habe. Neugierig schaute Martieli auf das Fläschchen, welches sie hochhielt.

»Honiglikör der besten Sorte«, sagte er zu Madelaine. »War er gut?«

»Sehr gut«, antwortete Madelaine. »Aber was ist Lau… Ach, ich hab’s vergessen.«

»Laudanum? In Alkohol gelöstes Opium. Sehr beliebt und gut gegen alles. Selbst kleine Kinder bekommen es, wenn sie unruhig sind«, erwiderte Martieli.

Der Wirt deutete auf den Rotwein.

»Komm, das brauchst du zum Essen. Trink Wein, ein Geschenk Gottes«, wiederholte der Schweizer die Worte des Wirts. Madelaine beugte sich über das dunkle Rot in ihrem gläsernen Becher. Der Wein schwankte noch, schwappte mild an den Rand. Ein Schwindel erfasste sie, doch das unergründliche Rot bannte ihren Blick. Ein Aroma von schweren reifen Trauben, Harz und fruchtiger Erde stieg ihr in die Nase.

Der Wirt hob sein Glas, ebenso alle Männer an den Tischen. Feierliche Stille breitete sich aus. Dann begann er, mit heiserer Stimme ein kurzes Gebet zu sprechen. Blicke kreuzten sich. Danach sagte der Wirt noch etwas. Zitternd setzte Madelaine das Glas an ihre Lippen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie Wein getrunken. Ihr kam es vor, als ob sie eine heilige Handlung vollzöge und in einer Kirche säße. Sie fühlte, wie der Wein sich mit ihrem Speichel vermischte und die leichte Säure an ihren Wangen zog. Sie schluckte. Der Wein brannte ein wenig in ihrem leeren Magen. Manche der alten Bretonen lächelten verhalten. Man prostete ihr noch einmal aufmunternd zu und wies zur Wirtin, die mit Tellern voll dampfender Suppe nahte.

Es war eine Fischsuppe, scharf, mit Gemüse und Stücken verschiedener Fischarten. Nie zuvor hatte Madelaine etwas so Geschmackvolles gegessen. Die anderen mochten ähnlich empfinden. Niemand sprach. Jeder genoss die Wärme, die Sicherheit. Weißbrot und Butter wurden auf den Tisch gestellt. Als Nächstes folgten Platten mit gebratenen Doraden und gekochtem Hummer. Madelaine schmeckte es paradiesisch gut. Dass Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhielt, hatte sie gehört, doch immer geglaubt, diese Weisheit gelte nur für die Reichen, nicht für sie.

Als die Meerestiere verspeist waren, rief die Wirtin: »Voilà , Butterhühnchen! Guten Appetit!«, und drückte aufmunternd Madelaines Schulter.