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Sabine Möller-Beck, Cornelia von Soisses

Die Tote im alten Schulhaus


Für Stephanie Müller


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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Die Tote im alten Schulhaus




Die Tote im alten Schulhaus



Sabine Möller-Beck


Impressum

Die Tote im alten Schulhaus


    Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek:


Die Deutsche Nationalbibliothek

Verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de

abrufbar


© 2016


Autor: Sabine Möller-Beck

Herausgeber: Franz von Soisses

Lektorat: Cornelia von Soisses

Covergestaltung/Bild und

Layout: Andrea Skorpil


intinn@soisses.com

 

 

Prolog


Endlich war es so weit: Die kleine Familie konnte nach endlosen Umbauten das alte Schulhaus beziehen.

Lange hatte die alte Dorfschule in einem Münsteraner Stadtteil leer gestanden. Die Instandsetzung und Renovierung erschien jedem Interessenten zu kostspielig. Doch vor einem halben Jahr hatte sich eine Familie gefunden, die weder Kosten noch Mühen scheute, das alte Gemäuer wieder instand zu setzen.

„Wir werden uns hier heimisch fühlen“, sagte Hubertus, ein waschechter Münsteraner zu seiner jungen Frau. Auch wenn diese anfangs skeptisch war, ließ sie sich von dem Enthusiasmus ihres Mannes anstecken, und je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr freute auch sie sich auf ihr neues Domizil.

Da das Haus mehr als genug Platz für die Familie bot, hatte Sigrid nach endlosen Diskussionen mit Hubertus durchgesetzt, dass eine kleine Einliegerwohnung für ihre alte Kinderfrau ausgebaut werden sollte.

Tante Mia hatte sie seit ihrer frühsten Kindheit begleitet, da ihre Eltern, beides Geschäftsleute, nie wirklich Zeit für sie gehabt haben. Sigrid hatte das aber nie so empfunden, weil es ja nun Tante Mia gab.

Mia Schulte war eine Bäuerin, die sich damals ein Taschengeld dazuverdienen wollte, da die Landwirtschaft nicht genug abwarf. Schon bald, nachdem sie ihre Stelle als Kindermädchen und Haushälterin bei Familie Reckmann, Sigrids Ursprungsfamilie, angenommen hatte, wurde sie für diese unentbehrlich. Das lag nicht unbedingt nur daran, dass ihr selten etwas zu viel wurde, sondern hauptsächlich an ihrem westfälischen Naturell.

Sigrid kannte sie eigentlich nur in robusten Kittelschürzen, die schwarzen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, immer rote Wangen und ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen.

„Irgendwie scheint sie nicht älter zu werden“, dachte die junge Frau und musste lachen, wenn sie sich an all die Erlebnisse, die sie mit der sehr unternehmungslustigen Frau erlebt hatte, erinnerte.

Hubertus, der Tante Mia eher als anstrengend empfand, war anfangs überhaupt nicht von der Idee seiner Frau, die alte Dame mit ins Haus zu nehmen, begeistert gewesen.

Aber das Argument, 'sie kann sich mit um unsere Kinder kümmern', hatte auch ihn letztendlich überzeugt.

Von Woche zu Woche schien das alte Haus, das in früheren Zeiten einmal die kleine Dorfschule beherbergt hatte, wieder mehr zum Leben zu erwachen.

Die Arbeiten gingen gut voran und schon bald konnten die Möbel geliefert werden und die Familie einziehen.

Die Bewohner des Stadtteils, den sie selbst gerne noch als Dorf bezeichneten, beobachteten den Umbau skeptisch. Aber Hubertus Schulte Althoff war den meisten wohlbekannt, da er der Sohn eines Gutsherrn in der benachbarten Dorfbauernschaft war.

Nachdem feststand, dass er keineswegs in die Landwirtschaft einsteigen wollte, hatte sein Vater ihm zähneknirschend ein Studium finanziert und war nun doch stolz auf seinen Sprössling.

Einen Doktor hatte es in der Familie bislang noch nicht gegeben.

Anlässlich der Praxiseröffnung seines Sohnes hatte er ihm sein Erbteil ausbezahlt, eine stattliche Summe, sodass Hubertus und Sigrid sorgenfrei das große Haus umbauen konnten.

Für Sigrid war es wichtig, dass ihre Kinder in einem ruhigen sozialen Umfeld aufwuchsen, aber es durchaus eine Anbindung an die Stadt Münster gab.

All diese Wünsche wurden in diesem Stadtteil erfüllt.

Auch das Haus stellte alle zufrieden: Große helle Wohnräume, für jedes der drei Kinder ein eigenes Zimmer, das Wohnzimmer hatte beinahe die Ausmaße eines Ballsaals und die Küche, die im Erdgeschoss lag, war, bedingt durch ihre Größe, fast eine zweite 'gute Stube'. Hier würde man viele gemütliche Stunden verbringen können.

In der nächsten Woche sollte auch die Einliegerwohnung fertig sein, sodass Tante Mia einziehen könnte und die Familie komplett sein würde.


1.Kapitel


Am Umzugstag schien die Sonne und tauchte den Kirchplatz, an dem das Schulhaus stand, in goldenes Licht. Heimelig begrüßte das Gemäuer, was von altem Wein überrankt war, seine neuen Bewohner.

Fröhlich dirigierte Sigrid Schulte Althoff die Möbelpacker, versuchte ihre drei Jungen, die natürlich völlig aufgedreht waren, in Schach zu halten. Justus, der älteste der Geschwister, schien jedem im Weg zu stehen. Kaum hatte ihn jemand verscheucht, tauchte er aus dem Nichts an der nächsten unpassenden Stelle wieder auf.

Hubertus hatte schließlich die rettende Idee und parkte seinen hoffnungsvollen Nachwuchs auf der Ladefläche des Möbelwagens neben einem Schrank und erklärte: „Jetzt hältst du den Schrank fest, nicht dass er noch umkippt.“

Ernsthaft stand der kleine Mann, gerade fünf Jahre alt geworden, neben dem Möbel und vor lauter Aufregung hatte er nach wenigen Minuten schon einen hochroten Kopf.

Sigrid schüttelte sich vor Lachen, als ihr Mann von seinem Coup erzählte. Sie selbst hatte alle Hände voll zu tun, die beiden dreijährigen Zwillinge Oskar und Hugo, vor allem aufgrund ihrer Ähnlichkeit nur A- und B-Hörnchen genannt, zu bändigen. Natürlich wollten auch sie 'helfen'.

„Ich bin so froh, wenn Tante Mia gleich kommt“, stöhnte die junge Frau und insgeheim gab Hubertus ihr Recht.

Umziehen und Einrichten mit drei temperamentvollen Kindern waren wahrhaftig nicht ohne.

Nach und nach leerte sich der Wagen und die Kisten stapelten sich in allen Zimmern. Justus bewachte noch immer seinen Schrank, um den auch die Möbelpacker einen großen Bogen machten. Sigrid versuchte, die Zwillinge gerade zu überzeugen, dass es sehr cool sei, in den noch nicht eingeräumten Zimmern einen Mittagsschlaf zu halten, als ein alter klappriger Mercedes vorfuhr.

Die Dame, die ihm entsprang, schien ihm im Alter in Nichts nachzustehen.

Tante Mia war da.

Zur Feier des Tages hatte sie sich 'stadtfein', wie sie es selbst bezeichnete, gemacht. Ihr bestes Kostüm trug sie. Da der Knopf am Rockbund sich nicht mehr schließen ließ, 'die Reinigungen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, ist der Rock doch glatt eingelaufen', hatte sie kurzerhand einen breiten Gürtel um die Hüften geschwungen, der einst ihrem Ehemann Jupp, 'Gott hab ihn selig', gehörte und ihrem eleganten Outfit einen etwas robusten Touch gab.

Hubertus starrte die Kinderfrau seiner Gattin erstaunt an. Sigrid kicherte vor sich hin und schon stürzte Mia auf die beiden zu.

Herzhaft knallte sie Hubertus zwei nasse Küsse auf die Wangen, kniff Sigrid in dieselben und sagte: „Wichtken wie gut, dass ich jetzt da bin. Du bist ja ganz blass um das Näschen!“

Herzlich begrüßte Sigrid die alte Frau und sofort übernahm sie das Regiment.

„Männers, jetzt ist erst mal Pause“, hieß sie die Arbeiter willkommen und beförderte aus den Untiefen ihres Autos einen großen Einmachtopf.

„Ich denke, die Küche steht ja noch nicht, aber eine funktionierende Steckdose wird es ja wohl geben.“

Mit diesen Worten stiefelte sie auf direktem Wege in die Küche, stellte den Topf auf einen Stuhl, stöpselte ihn ein und rief: „In fünf Minuten gibt es Gulaschsuppe für alle!“

„Kind, wo sind denn Teller und Löffel?“ Fragend schaute sie Sigrid an.

„Keine Ahnung“, erwiderte diese. In diesem Moment beschloss Hubertus, die Flucht zu ergreifen und erst wieder aufzutauchen, wenn die Suppe auf den Tellern bereits dampfte.

Doch die Rechnung hatte er ohne Tante Mia gemacht.

„Hubsi“, brüllte sie quer durch das Haus, „hier hast du Geld.“ „Geh mal los und besorg' Plastikteller und Löffel, und Brötchen kannst du auch gleich mitbringen!“

Ergeben nahm Hubertus, der nichts mehr hasste, als 'Hubsi' genannt zu werden, die Geldbörse und machte sich auf den Weg in den nahe gelegenen Supermarkt.

Grinsend schaute Sigrid ihrem Mann hinterher.

Mittlerweile war es Justus auf dem Lkw zu langweilig geworden und es dämmerte ihm, dass besagter Schrank auch wohl alleine stehen würde und er viel lieber im Haus mitmischen wollte.

„Taaaaaaanteeeeeee Miiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!“, brüllte er wie am Spieß und genoss den Erfolg, als Tante Mia wie von der Tarantel gestochen die Ladefläche enterte.

„Ker, Jung', watt machst du denn hier?“

„Ich halte den Schrank fest“, erklärt das Kind ernsthaft.

„Ich glaub' der steht auch ohne dich! Komm, wir gehen ins Haus. Gleich gibt es auch was zu essen.“

Sie reichte dem Jungen die Hand und gemeinsam liefen sie zum Haus zurück.

Die Möbelpacker hatten es sich auf provisorischen Sitzgelegenheiten bequem gemacht und löschten den Durst mit einem kalten Bier.

„Alkoholfrei!!!“, bemerkte Mia zufrieden. „Wo kämen wir denn sonst auch hin ...“

Sigrid war in der obersten Etage beschäftigt. Die Zwillinge waren von Justus' Geschrei aufgewacht und verschafften sich nun lauthals ebenfalls Gehör.

Endlich kam Hubertus zurück und überreichte Mia die gewünschten Sachen.

„Dann geht’s jetzt los“, freute sie sich, kramte kurz in ihrer Einkaufstasche, die sie stets bei sich hatte, holte eine Schürze heraus, band sie um und begann, heiße Gulaschsuppe zu verteilen.

Dankbar nahmen alle die Stärkung entgegen.

Nur ab und zu hörte man ein leises Schlürfen, allen schmeckte die herzhafte Suppe und Mia dachte, nun sei die Zeit wohl gekommen, ihrer Familie von der neusten Errungenschaft zu erzählen. Insgeheim hoffte sie, dass im Beisein der Möbelpacker die Diskussion nicht ganz so heftig ausfallen würde.

„Kinder“, begann sie, „da ist noch etwas, was ich euch sagen muss.“

Erstaunt hielten Hubertus und Sigrid inne.

„Also“, räusperte sie sich, „also, ich werde hier nicht alleine einziehen!“

„Wie?“, fragte Sigrid.

„Was heißt nicht alleine?“

Natürlich kannte Sigrid noch Onkel Jupp. Über fünfzig Jahre waren die beiden verheiratet gewesen und auch heute, vier Jahre nach seinem plötzlichen Tod, ließ Mia nichts auf ihren Josef kommen. Einmal in der Woche besuchte sie ihn auf dem Friedhof, berichtete ihm stets den neusten Dorftratsch und holte sich manch einen Rat bei ihm.

Also, was sollte ihre Aussage bedeuten?

Tante Mia holte tief Luft, bevor sie mit fester Stimme sagte: „Ich habe mir einen Hund gekauft.“

Justus brach als erster die eingetretene Stille.

„Wie süß. Was denn für einen?“

Fassungslos starrten Hubertus und Sigrid die alte Dame an.

„Einen Hund?“, fragten die beiden unisono.

„Ja“, strahlte Mia jetzt. „Einen kleinen Münsterländer. Ihr wisst doch, ich wollte schon immer einen eigenen Hund haben, aber Jupp, naja, der war damit nicht einverstanden. Aber als ich ihn vor vierzehn Tagen gegossen habe, habe ich ihn gefragt und er meinte, dass er ja nun nicht mehr mit einem Hund, ehrlicherweis muss ich sagen, er hat Köter gesagt, unter einem Dach wohnen müsste und somit wäre es für ihn okay.“

„So kann man es auch machen“, murmelte Hubertus, während seine Frau nach den richtigen Worten suchte.

Oscar und Hugo hatten erst jetzt verstanden, was die Stunde geschlagen hatte und rannten laut bellend durch die Küche.

„Das halte ich nicht aus“, bemerkte Hubertus.

Die Möbelpacker konnten sich ein Grinsen nur mit größter Mühe verkneifen.

„Auf geht’s, Männer“, befahl der kleine Dicke, der anscheinend etwas mehr zu sagen hatte als die anderen.

Sofort erhob sich der Rest.

„Da müssen wir aber noch einmal drüber reden“, warf Sigrid schüchtern ein.

„Papperlapap“, antwortete Mia. „Ich habe doch meine eigenen vier Wände. Wir werden niemanden stören!“„Und für Kinder“, jetzt sah sie sich Beifall heischend um, „ist es eh besser, wenn sie mit Haustieren aufwachsen, von wegen sozialen Gedöns!“

„Was hast du nicht alles angeschleppt“, erinnerte sie ihren Zögling.

Sigrid gab sich vorerst geschlagen.

Das Hereintragen der Möbel ging weiter voran und schon morgen könnte der Küchenmonteur kommen.

Stunden später hatte Sigrid die Neuigkeit schon fast wieder vergessen und freute sich, dass Tante Mia sich bereit erklärte, die Kinder zu baden und ins Bett zu bringen.

Sie hörte sie bis in die unterste Etage herumalbern:

„Ik un du, Möllers Ko, Möllers Iesel dat büs du.“

Derjenige, der Möllers Esel war, musste, ohne zu murren und zu meckern, ins Bett marschieren.

Das hatte früher auch schon geklappt.

Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge und nach guten zehn Tagen hatte Sigrid es mithilfe von Mia geschafft, die alte Schule in ein Zuhause zu verwandeln.

Hubertus hatte es vorgezogen, bereits am Tag nach dem eigentlichen Einzug in seine Praxis zu fahren.

Kisten auspacken, einräumen und dekorieren überließ er nur zu gerne den Frauen.

Auch Mias Einliegerwohnung war fertig und sehr gemütlich geworden.

„Ich alte Frau brauch ja nicht mehr viel“, pflegte sie zu sagen und freute sich wie ein kleines Kind zu Weihnachten über die neue Küche. Alle anderen Möbel hatte sie aus ihrem alten Häuschen in der Dorfbauernschaft mitgebracht.

Die Kinder waren gerne bei ihr und nun war es an der Zeit, alles für den neuen Mitbewohner herzurichten.

Als Erstes kaufte sie ein Körbchen, Fressnäpfe und allerhand Spielzeug.

Sigrid schlug zwar vor, einiges im Internet zu bestellen, aber von dem neumodischen Kram wollte Mia nichts wissen.

„Nee, Wichtken, dat lass man. Ich muss die Klamotten sehen und anfassen.“

Alles stand für den Welpen bereit und auch Hubertus und Sigrid hatten sich allmählich mit dem Gedanken, nun auch einen Hund zu beherbergen, abgefunden.

Hubertus hatte sich zu seinem Erstaunen sogar ein bisschen mit Mia angefreundet, was allerdings hauptsächlich daran lag, dass sie neuerdings in der Schulte-Althoff-Küche das Zepter schwang. Anfangs hatte sie beobachtet, dass Sigrid, die stets auf ihre schlanke Figur bedacht war, sehr kalorienbewusst kochte.

„Wicht, dat ist doch kein Essen für so einen Kerl wie dein Hubertus.“

Kopfschüttelnd hatte sie Sigrid aus der Küche verbannt und kochte mit Hingabe westfälische Gerichte.

Himmel und Erde stand gerade bei den Kindern hoch im Kurs und auch Hubertus genoss sichtlich die deftigen Gerichte.

So hatte Tante Mia sich sozusagen mitten in sein Herz gekocht.