1

»Los, spring!«

Die Stimme war kalt wie die Nacht.

Sacha drehte sich um.

»Muss ich wirklich?«, fragte er, eher belustigt als verängstigt, schlang die Arme um den Oberkörper und tat, als würde er vor Angst zittern. »Könnte aber wehtun.«

»Klappe!« Antoine kam drohend einen Schritt näher. Die Knarre in seiner Hand glänzte im Mondlicht. »Versuch dich jetzt nicht rauszureden, Kleiner. Du hast die Wette verloren, und das war dein Einsatz. Und darum«, er zuckte ungerührt die Schultern, »wirst du jetzt springen. Also los, bringen wir’s hinter uns.«

Sacha hob beschwichtigend die Hände. »Okay, okay. Reg dich ab.«

Er war groß und schlank, trug Jeans und ein verwaschenes schwarzes T-Shirt. Sein breites Grinsen ließ ihn jünger aussehen als siebzehn. Furchtlos trat er an den Rand des Daches, wischte die braune Strähne weg, die der Wind ihm ins Gesicht wehte, und blickte hinaus in die Nacht.

Antoine wusste, dass er den Boden nicht sehen konnte, dafür war es zu dunkel und es ging zu tief hinunter. Das Lagerhaus hatte fünf Stockwerke.

Einen Sturz aus dieser Höhe überlebte keiner.

Sacha ging in die Hocke und machte sich bereit für den Sprung ins Nichts.

Antoine hielt den Atem an. Er bewunderte den Mut des Jungen und hätte ihn lieber nicht sterben sehen. Aber Wette ist Wette, und außerdem war der Kerl diesmal wirklich zu weit gegangen. Hatte ihn angepumpt und dann nicht zurückgezahlt. Ihn richtig verarscht. Wenn er so was durchgehen ließ, wäre er bei den anderen untendurch. Er musste ein Exempel statuieren, und wenn man morgen die Leiche des Jungen fand, würden alle wissen, auf wessen Konto das ging.

Alle würden ihn respektieren.

Einige Meter entfernt machte Sacha sich mit ausgestreckten Armen zum Sprung bereit. Dann hielt er plötzlich inne und drehte sich noch einmal um, ein amüsiertes Blitzen in den Augen.

»Ich hab ’ne Idee. Wie wär’s, wenn wir noch mal wetten?«

Antoines Finger schlossen sich fester um den Pistolengriff.

Langsam kam er nicht mehr mit. Warum hatte der Kerl keine Angst? Machte es ihm nichts aus, dass er gleich sterben würde? Das ergab doch keinen Sinn.

Und Dinge, die keinen Sinn ergaben, konnte Antoine nicht ausstehen.

»Was? Jetzt?« Seine Stimme überschlug sich fast, und er zwang sich, tiefer und cooler zu sprechen. »Du wirst gleich voll auf den Asphalt knallen und willst jetzt noch zocken?«

»Ja«, erwiderte der Junge unbeirrt.

Antoine stieß eine Reihe hässlicher Flüche aus, ließ aber die Waffe sinken und knipste mit der anderen Hand eine Taschenlampe an.

Ihr heller Schein erleuchtete das mit Schutt und Dreck übersäte Fabrikdach. In der Ferne sah man undeutlich die massigen Silhouetten der umliegenden Lagerhallen, davor parkten LKWs, und überall standen Mülltonnen herum – typisch für diesen unansehnlichen Vorort von Paris.

Tagsüber wimmelte es hier von Arbeitern, doch um diese nachtschlafende Zeit ließ sich hier niemand blicken außer den Ratten, die vom Hafen heraufkrochen, und den Tauben, die irgendwo unter ihnen auf den Simsen hockten und klagend in die Nacht gurrten.

»Wozu willst du so kurz vorm Abkratzen noch wetten?«, knurrte Antoine.

Sacha griff in die Hosentasche und zog sein Handy heraus. »Warte, kannst du das mal kurz für mich halten? Meine Mutter hat’s mir gerade erst gekauft, die bringt mich um, wenn’s kaputtgeht.«

»Es interessiert mich einen Scheiß, was deine …«

»Na, na, keine hässlichen Worte, bitte.« Sacha legte mahnend den Finger an die Lippen. »Ich bin doch noch nicht fertig. Also: Du nimmst das Telefon als Teil meines Einsatzes. Und weil du so verdammt scharf darauf bist, springe ich da runter. Aber ich wette, dass ich nicht sterben werde, sondern aufstehe und nach Hause gehe. Und wenn ich recht behalte, wirst du mir mein Handy zurückgeben, mir alle Schulden erlassen und mir zusätzlich 500 Euro Schmerzensgeld zahlen.« Er wippte von den Ballen auf die Fersen und blickte Antoine herausfordernd an. »Abgemacht?«

Antoine lachte rau, auch wenn er das Ganze eigentlich gar nicht komisch fand. Die Hand, die die Waffe hielt, zuckte nervös.

»Das Handy brauchst du eh nicht mehr. Schon mal ’ne Leiche telefonieren sehen?«

Sacha setzte eine gelangweilte Miene auf und wischte sich die Hände an der abgewetzten Jeans ab.

»Sag schon, ja oder nein?«

Antoine war das Lachen vergangen.

Aus Erfahrung wusste er, dass Sacha auf einfach alles Wetten abschloss. Und dass es ihn überhaupt nicht juckte, wenn er verlor – was auch der Grund dafür war, dass sie jetzt auf diesem gottverlassenen Dach standen. Seinetwegen hatte Antoine Geld verloren, und zwar eine Menge Geld, denn der Junge hatte sich mit der Sorte von Kerlen angelegt, die absolut keinen Spaß verstehen.

Er hatte keine Ahnung, was der Typ für ein Problem hatte, aber wenn er das Leben so sehr hasste, würde Antoine ihm den Gefallen tun und ihn davon erlösen. Inzwischen war er sowieso mehr lästig als nützlich.

Und vielleicht würde das ja die Typen besänftigen, die wegen Sachas Spielchen jetzt hinter ihm her waren.

»Wieso nicht.« Antoine zuckte die Schultern. »Du bist so gut wie tot, also habe ich nichts zu verlieren. Die Wette gilt. Ich komme mit dem Handy und dem Geld nach unten. Alles, was du tun musst, ist springen, von den Toten auferstehen und es dir holen.«

Sacha wirkte sichtlich zufrieden. »Alles klar, so machen wir’s.«

Er hielt Antoine das Handy entgegen. Der zögerte einen Moment. War das ein Trick? Wollte Sacha ihn vielleicht am Arm packen und über die Brüstung stoßen?

Doch er kannte den Jungen jetzt seit über einem Jahr, eigentlich war er keiner von der hinterhältigen Sorte. Im Grunde ein echt guter Typ. Es war ihm eben nur völlig egal, wen er verärgerte.

Er steckte die Taschenlampe ein und ging auf Sacha zu.

Der wedelte ungeduldig mit dem Handy. »Komm schon, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«

Antoine streckte vorsichtig die Hand aus, schnappte sich das Handy und trat schnell wieder ein paar Schritte zurück.

Sacha warf ihm einen wissenden Blick zu. Keine Frage, wer hier mehr Schiss hatte.

Antoines Miene verfinsterte sich. Wieder richtete er die Waffe auf Sacha.

»Genug gequatscht. Jetzt spring endlich, kleiner Klugscheißer.«

»Okay«, erwiderte Sacha nur.

Dann sprang er.

Ohne jedes Zögern, ohne eine Spur von Angst. Kein Schrei, nicht das leiseste Geräusch. Nur eisige Stille. Das Letzte, was Antoine sah, war der hellbraune Haarschopf, der kurz im Wind flatterte.

Verblüfft taumelte er zurück. »Merde. Er hat’s tatsächlich durchgezogen.«

Er starrte auf die Stelle, wo Sacha eben noch gestanden hatte, und verspürte tatsächlich so etwas wie Bedauern. Der Junge hatte Mumm, das musste man ihm lassen.

Idiotische Aktion, aber echt mutig.

Antoine drehte sich um, rannte, vor lauter Schreck hysterisch vor sich hin kichernd, quer über das Dach zum Treppenhaus und stürzte die breiten Betonstufen hinunter.

Er hatte Sacha alle möglichen Angebote gemacht. Abstottern. Einen Deal. Für ihn arbeiten.

Doch der Junge hatte lieber sterben wollen. Antoine hatte sich mehr aus Neugier darauf eingelassen, weil er sehen wollte, was passierte, wenn es wirklich darauf ankam. Eigentlich war er die ganze Zeit davon überzeugt gewesen, dass der Junge ihn nur hinhielt und verarschte. Dass er am Ende klein beigeben würde.

Doch jetzt hatte er es durchgezogen. Hatte er vielleicht tatsächlich geglaubt, er könnte fliegen?

Völlig außer Atem erreichte Antoine das Erdgeschoss und rannte durch die dunkle, leere Halle, um draußen zu sein, ehe jemand die Leiche entdeckte. Seine Hand lag schon auf der Klinke der Lagertür, als diese plötzlich von außen geöffnet wurde.

Im Gegenlicht einer fernen Straßenlaterne sah Antoine direkt vor sich eine Silhouette: groß und schlank, Kleidung und Haare ein wenig ramponiert, aber quietschlebendig.

Und rotzfrech wie immer.

»Könnte ich bitte mein Handy wiederhaben?«, fragte Sacha und hielt die Hand auf.

Antoine schnappte nach Luft, taumelte zurück und wäre fast über ein rostiges Maschinenteil gestolpert, das vergessen auf dem staubigen Betonboden lag. Er starrte Sacha ungläubig an und wich vorsichtig Schritt für Schritt zurück.

»Non! Das kann nicht sein … Du kannst doch nicht …«

Sacha wurde ungeduldig. »Hast du mein Handy mitgebracht oder nicht? Du hast es versprochen. Außerdem würde ich jetzt gern nach Hause gehen, es ist schon spät.«

Antoine starrte ihn mit offenem Mund an.

Er konnte den Sturz nicht überlebt haben. Unmöglich. Und doch sah er bis auf ein paar blutige Kratzer im Gesicht und an den Händen völlig okay aus.

Antoine stürzte an ihm vorbei und rannte zu der Stelle, wo Sacha jetzt eigentlich zerschmettert in einer riesigen Blutlache hätte liegen sollen.

Blut war da, Sacha nicht.

Antoine drehte sich wieder um. Der Junge stand im Türrahmen und grinste ihn unverhohlen an.

»Aber … wie …«, stammelte er entgeistert.

Sacha rollte die Augen. »Komm schon, Antoine, gib mir jetzt endlich das Handy und mein Geld. So war’s abgemacht.«

Mit zitternden Händen kramte Antoine erst das Telefon aus der Jackentasche und zählte dann die Scheine ab, vermied es aber tunlichst, den Jungen zu berühren, als er ihm beides übergab.

Denn irgendwas stimmte mit dem ganz und gar nicht.

2

»Was ziehst du morgen Abend an?«

»Keine Ahnung, hab noch nicht drüber nachgedacht«, entgegnete Taylor abwesend, während sie im Spiegel der Mädchentoilette auf ihre blonde Mähne starrte, in der sich mal wieder die Haarbürste verfangen hatte. Verzweifelt versuchte sie, die Bürste zu befreien, ohne sich dabei gleich ein Büschel Haare auszureißen.

Das passierte ihr ständig.

Wäre nicht das erste Mal, dass sie die Schere zu Hilfe nehmen und dann wochenlang mit ramponierter Frisur herumlaufen musste. Und darauf konnte sie im Augenblick wirklich gut verzichten.

Im Spiegel begegnete ihr Georgies verdutzter Gesichtsausdruck.

»Wie kannst du bloß so relaxed sein? Mein Outfit steht seit Tagen fest, samt Nagellack. Ocean pink, wenn du’s unbedingt wissen willst.«

»Ocean pink?«, kicherte Taylor. »Wie bescheuert ist das denn? Wer denkt sich bloß solche Namen aus?«

Mit einem letzten Ruck löste sich die Bürste endlich. Frustriert starrte Taylor auf das widerspenstige Lockengewirr. Es war zum Verzweifeln. Anstatt glatt und seidig zu sein, wie es sich für hübsche blonde Haare gehörte, machten ihre einfach immer, was sie wollten.

Mit einem Seufzer verstaute sie die Bürste in ihrer Tasche. »Außerdem ist ja nur Tom da, und der weiß sowieso, wie ich aussehe.«

»Jedes Mädchen will ihrem Freund gefallen«, belehrte Georgie sie, »das gehört sich so.«

Dazu sagte Taylor nichts. Sie musste für die Abiturprüfungen pauken, Nachhilfe geben, sich um ihre Ehrenämter kümmern … Als hätte ich da noch Zeit, mir über Klamotten Gedanken zu machen. Diesem schwachsinnigen Doppeldate hatte sie überhaupt nur Georgie zuliebe zugestimmt.

»Mach dir keinen Kopf, irgendwas werd ich schon finden«, sagte sie.

»Oder du kommst nackt«, schlug Georgie vor, während sie im Spiegel ihren makellosen Teint überprüfte, »dann wird es auf jeden Fall ein unvergesslicher Abend.«

Taylor drehte sich um und ging Richtung Tür. »Super Vorschlag. Also, falls ich mal ein richtiges Problem haben sollte, frage ich dich lieber nicht um Rat.«

»Hey, jetzt bin ich aber echt beleidigt.« Georgie trabte ihr nach. »Bleibt’s eigentlich dabei, dass wir heute Abend zusammen lernen? Da wäre noch dieser Aufsatz für Geschichte …«

»… und es wäre furchtbar nett, wenn ich ihn für dich schreibe«, beendete Taylor den Satz für sie.

Georgie schenkte ihr ein breites Lächeln samt Grübchen. »Nur wenn du nicht zu beschäftigt bist.«

Sie traten hinaus auf den Gang, wo die Schüler von der Mensa in Richtung der Klassenräume strömten.

Zwei Jungs lieferten sich ein Scheingefecht, um Georgies Aufmerksamkeit zu erregen, doch die würdigte sie keines Blickes.

»Wichser«, blökte der eine.

»Verpiss dich«, maulte der andere, und sie liefen gemeinsam weiter.

Taylor warf einen verstohlenen Seitenblick auf ihre Freundin und dachte einmal mehr, was für ein ungleiches Paar sie abgaben. Georgies dunkler, seidig glänzender Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt. In ihrem selbst kreierten Outfit sah sie einfach perfekt aus, wie immer. Die weiße, taillierte und tief ausgeschnittene Bluse betonte ihre schlanke Figur und ihre espressofarbene Haut. Den Faltenrock hatte sie gekürzt, damit ihre langen Beine besser zur Geltung kamen.

Dagegen wirkten Taylors Klamotten … gar nicht. Der glatte Rock reichte bis unter die Knie und ließ ihre Beine noch kürzer aussehen, als sie eh schon waren, und auch das schlabbrige Oberteil machte alles Mögliche mit ihrer Figur, nur nicht sie betonen.

Im Gegensatz zu Georgie verstand sie nichts von Mode. Sie zog einfach immer irgendwas an – und fand das Resultat jedes Mal furchtbar.

Georgie wollte nach der Schule in der Modebranche arbeiten, Taylor wollte Archäologin werden. Oberflächlich betrachtet, hatten sie eigentlich keine Gemeinsamkeiten, trotzdem hatten sie sich, als Georgie zu Beginn der neunten Klasse in die Stadt gezogen war, auf Anhieb gut verstanden, warum auch immer.

Seither passte Georgie auf, dass Taylor sich nicht ausschließlich in ihre Bücher vergrub, und Taylor sorgte dafür, dass Georgie nicht in allen Fächern durchrasselte. Sie waren einfach ein gutes Team.

»Klar sehen wir uns heute Abend zum Lernen«, antwortete sie grinsend.

»Miss Montclair, könnte ich Sie wohl einen Augenblick sprechen?«, ertönte plötzlich hinter ihnen Mr Finlays näselnde Stimme. Taylor drehte sich um und sah den Französischlehrer heranhasten. Die Krawatte hing schief, sein drahtiges graues Haar stand wie üblich wild vom Kopf ab, er machte einen zerstreuten Eindruck.

Heimlich schnitt Taylor eine Grimasse in Richtung Georgie. Die erwiderte sie und machte sich eilig davon, um bloß nicht in eine von Mr Finlays fahrigen Konversationen verstrickt zu werden.

Taylor setzte ein ernsthaftes Gesicht auf. »Ja, Mr Finlay?«

»Miss Montclair, ich weiß sehr wohl, dass Sie derzeit hinreichend ausgelastet sind, und zwar nicht nur mit Ihren eigenen Studien, sondern auch mit Ihren anderweitigen lobenswerten Tätigkeiten.« Abwesend befingerte er die zerknitterten Blätter in seiner Hand. »Doch soeben wurde ein neuer Nachhilfebedarf an mich herangetragen.«

Taylor unterdrückte ein Seufzen. Sie steckte eh schon bis zum Hals in Arbeit, und ständig bürdeten die Lehrer ihr noch mehr auf – die reinste Pädagogen-Verschwörung. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich war Französisch eines ihrer besten Fächer.

»Geht es um einen neuen Schüler?«

»Nicht direkt.« Mit der Hand, die die Blätter hielt, schob der Lehrer die Nickelbrille zurecht. Was ihm anscheinend die Existenz dieser Papiere in Erinnerung rief, denn er begann, sie zu durchwühlen. »Irgendwo hatte ich ihn doch. Wo ist er denn bloß? Ach, da haben wir’s.« Stolz schwenkte er einen gefalteten Zettel. »Es geht um einen französischen Jungen.«

Taylor sah ihn verwirrt an. »Ich soll einem französischen Jungen Nachhilfe in Französisch geben?«

»Selbstverständlich nicht.« Finlay kniff die Augen zusammen. »Das wäre ja Unsinn. Vielmehr benötigt er Unterstützung in Englisch.« Er entfaltete den Zettel. »Hier steht alles drauf. Der Unterricht soll via Internet erfolgen. Man muss ja mit der Zeit gehen.« So, wie er das Wort aussprach, hatte Taylor das unbestimmte Gefühl, dass er keinen Schimmer hatte, was das Internet war. »Eins sollten Sie noch wissen, Miss Montclair.« Der Lehrer senkte die Stimme. »Diese Aufgabe wird Ihrerseits ein gewisses Feingefühl verlangen. Man sagte mir, dass der Junge gerade eine schwierige Phase durchlebt – es hat wohl mit seinem Vater zu tun.« Schnell räusperte er sich, als wäre es ihm unangenehm, auch nur andeutungsweise etwas zu erwähnen, das mit Gefühlen zu tun hatte. »Wie dem auch sei. Er hat Schwierigkeiten und benötigt Ihre Unterstützung. Ich bin sicher, Sie werden das wie gewohnt souverän meistern.«

Und damit reichte er ihr den Zettel.

Taylor hatte ganz bestimmt Besseres zu tun, als einem verkorksten französischen Teenie Englisch beizubringen, doch sie hatte keine Wahl. Sie brauchte die guten Noten in Französisch, und dazu brauchte sie Finlay.

Widerstrebend nahm sie ihm das zerknitterte Blatt ab.

»Ich möchte Sie bitten, ihn gleich heute Abend zu kontaktieren. Sollte er mit Ihrer Hilfe seine Leistungen verbessern, wird das sicher nicht zu Ihrem Nachteil sein. In Oxford legt man sehr viel Wert auf diese Art von Einsatz …«

Alle Lehrer wussten, dass es Taylors größter Wunsch war, einen Studienplatz in Oxford zu ergattern. Ihr Großvater war dort Professor, von Kindesbeinen an hatte sie davon geträumt, eines Tages bei ihm zu studieren.

Die Schulglocke läutete. Taylor schaute Mr Finlay nach, der seinen leicht desorientierten Gang durch den sich leerenden Schulkorridor fortsetzte und hinter einer Ecke verschwand.

Dann sah sie auf den Zettel in ihrer Hand.

Eine E-Mail-Adresse und darüber ein Name: Sacha.

***

Kaum hatte Taylor die Haustür aufgeschlossen, stürzte sich eine weißgraue Terrierhündin auf sie. Wild mit dem Schwanz wedelnd, rieb sie sich an Taylors Beinen. Ihr lockiges Fell war warm und weich.

»Hey, Fizz, Fizzylein.« Taylor ließ die Tasche fallen und strich der Hündin liebevoll über den Rücken. Die sprang an ihr hoch und schleckte ihr über die Wange. Taylor hob sie auf den Arm und ging mit ihr hinüber in die helle Küche.

Ihre Mutter war um diese Zeit noch auf der Arbeit und ihre jüngere Schwester Emily nach der Schule meist unterwegs. Sturmfreie Bude also.

Taylor öffnete die Hintertür und sah lächelnd zu, als Fizz wie ein Plüschtorpedo über den Rasen flitzte.

Da es ein warmer Tag war, ließ sie die Tür offen. Sie holte sich ein Glas Orangensaft und kippte dann ihre Schultasche auf dem alten Kiefernholztisch aus. Das zerknitterte Blatt fiel als Letztes heraus, genau auf ihr Mathebuch.

Taylor strich es glatt und betrachte stirnrunzelnd Mr Finlays krakelige Handschrift. Viel Information stand da ja nicht. Was hatte er gesagt? Der Junge machte eine harte Zeit durch – es hat wohl mit seinem Vater zu tun …

Sie wusste auch nicht, warum, aber plötzlich überkam sie Mitgefühl mit diesem Jungen aus Frankreich. Bestimmt hatte er etwas sehr Schlimmes erlebt.

Fizz kam hechelnd zurück in die Küche gerannt und strich ihr noch einmal um die Beine, ehe sie sich zufrieden in ihr Körbchen bei der Heizung zurückzog.

Taylor klappte ihren Laptop auf und trommelte ungeduldig mit den Fingern, während er summend hochfuhr. Endlich erschien auf dem Bildschirm das Foto eines Leuchtturms.

Sie öffnete eine neue E-Mail und gab die Adresse ein, die auf dem Zettel stand. Einen Augenblick lang starrte sie auf die leere Maske, dann begann sie zu tippen.

Hallo Sacha,

mein Name ist Taylor Montclair. Mein Französischlehrer hat mir Deine E-Mail-Adresse gegeben, weil ich Dir Nachhilfe in Englisch geben soll. Wir könnten am Sonntag beginnen, wenn Dir das recht ist.

Ich denke, es wäre eine gute Idee, gemeinsam ein englisches Buch zu lesen. Wenn Du ein geeignetes weißt, kannst Du es gerne vorschlagen.

Es grüßt dich,

Taylor Montclair

Nachdenklich strich sie sich mit dem Finger über die Lippen, während sie das Geschriebene noch einmal durchlas. Dann zuckte sie die Schultern und schickte die E-Mail ab.

***

»Am Freitag habe ich ein Date mit Georgie und zwei Jungs. Ist das okay?« Taylor musste etwas lauter sprechen, um das Brutzeln aus der Pfanne zu übertönen.

Sie saß mit ihrer Schwester am Küchentisch, ihre Mutter stand in Rock und Bluse am Herd und bereitete das Essen zu. Sie hatte sich nach der Arbeit noch nicht umgezogen, lediglich den Blazer über einen Stuhl gehängt und die Schuhe mit den hohen Absätzen irgendwo abgestreift.

»Wie nett«, sagte sie und probierte den Reis. »Tom ist sicherlich dabei, nehme ich an. Und wer noch?«

»Sein Freund Paul. Sie kennen sich vom Rugby«, erwiderte Taylor mit leichtem Naserümpfen. Sie selbst fand Paul langweilig, aber Georgie war total beeindruckt von seinen Muskeln.

»Ich will auch ein Doppeldate«, warf Emily ein und stützte seufzend den Kopf in die Hand.

Sie war dreizehn und wollte Taylor immer alles nachmachen.

»Kannst du haben. Aber erst in drei Jahren.«

»Das dauert noch viel zu lang«, murrte Emily. Das lange blonde Haar fiel ihr über die Schulter. Im Gegensatz zu Taylors widerspenstigen Locken war es seidig und glatt, wie flüssiges Gold. Verdammt ungerecht, wie die Gene in ihrer Familie verteilt waren, fand Taylor.

An die Anrichte gelehnt, nippte ihre Mutter an ihrem Weißwein.

»Hiermit erlaube ich dir, schon mit fünfzehn dein erstes Doppeldate zu haben«, verkündete sie. »Dann brauchst du nur noch zwei Jahre zu warten.«

Ihre Mutter war ebenfalls blond, trug das Haar jedoch recht kurz, sodass man die Locken nur ansatzweise erkennen konnte. »Und das mit Freitagabend geht in Ordnung«, sagte sie zu Taylor. »Wie geht’s Tom überhaupt? Er war ja lange nicht mehr zum Lernen hier.«

Taylor zuckte desinteressiert die Schultern. »Gut, glaube ich. Ich hab im Moment zu viel zu tun, um mit ihm zu lernen. Er ist zu langsam.«

Ihre Mutter musterte sie mit einem fragenden Blick. »Ist zwischen euch alles in Ordnung?«

»Klar«, gab Taylor ein wenig trotzig zurück. »Zurzeit ist einfach viel los. Die Prüfungen und alles.«

»Verstehe.« Ihre Mutter verteilte das Essen auf drei Teller. »Also, natürlich kannst du ausgehen. Aber sei bitte um Mitternacht zurück.«

Taylors Handy summte. Ein Blick verriet ihr, dass sie eine neue E-Mail hatte. Von diesem französischen Jungen, Sacha.

»Keine Handys am Esstisch«, mahnte ihre Mutter und stellte ihr den Teller hin. Das dampfende Essen roch scharf nach Sojasoße.

Taylor blickte nicht auf, sondern starrte auf die Nachricht.

Yo. Danke für die E-Mail. Hab leider keine Zeit für so was, außerdem ist mein Englisch voll okay. Bis dann, S.

***

»Voll unverschämt«, kommentierte Georgie entrüstet. »Hat der keine Manieren? Ich dachte immer, Franzosen wären so … charmant.«

Sie waren in Taylors Zimmer und machten Hausaufgaben, doch eigentlich arbeitete nur Taylor. Georgie lag ausgestreckt auf dem Bett und schaute sich irgendwas auf ihrem iPad an, während Taylor am Schreibtisch saß und für Georgie den Geschichtsaufsatz schrieb.

»Das kannst du laut sagen!«, schnaubte Taylor. »So ein Idiot. Warum tut Finlay mir so was bloß an?«

Die Worte auf dem Bildschirm verschwammen vor ihren Augen. Sie wusste nicht, warum, aber Sachas arrogante Antwort hatte sie tief getroffen. Und in eine total dumme Lage gebracht.

»Und was willst du jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Wenn ich’s Finlay erzähle, sagt der bloß, ich hätte mir nicht genug Mühe gegeben«, seufzte sie. »Also werde ich dem Typ wohl noch mal schreiben und ihn anflehen, dass ich ihm Nachhilfe geben darf. Ich kann mir in Französisch einfach keine Minuspunkte leisten.« Sie presste die Fingerspitzen an die Schläfen. »Wie ich den hasse. Er bringt alles durcheinander.«

»Gib mir mal dein Handy.« Georgie streckte eine Hand mit glitzernd magentarot lackierten Nägeln aus.

Taylor warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Was willst du damit?«

Georgie winkte mit dem Finger. »Komm schon, Tay, vertrau mir.«

Widerstrebend reichte Taylor ihr das Handy.

»Sehr schön.« Mit geübten Fingern scrollte Georgie sich durch die E-Mails. »Ist es die hier?« Sie hielt Taylor das Handy entgegen. »Wie heißt er, Sacha?«

Taylor nickte skeptisch. »Was hast du vor? Ich glaube nicht …«

»Ich werde ihm«, Georgie begann konzentriert zu tippen, »eine passende Antwort schicken.«

»Aber …« Taylor biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, dass Georgie selten ein Blatt vor den Mund nahm. »Sei nicht zu gemein, okay?«

Georgie drückte auf »Senden« und gab Taylor das Handy zurück. Ihre braunen Augen funkelten kampflustig. »Wenn hier einer gemein war, dann ja wohl er … Keiner redet so mit meiner Freundin.«

Taylor rief die Nachricht noch mal auf – und musste trotz allem lachen, als sie sie las.

Hi Sacha. Überhaupt kein Problem. Wenn Du unbedingt dumm bleiben willst, bitte schön. Bis dann, T.

»Jetzt will er bestimmt keine Nachhilfe mehr von mir«, grinste sie und ließ das Handy auf den Schreibtisch fallen.

»Umso besser«, entgegnete Georgie zufrieden.

Taylor wandte sich wieder dem Laptop zu. Es fühlte sich irgendwie gut an, dass sie diesem Franzosen die Meinung gegeigt hatte. Also, Georgie. Doch als sie sich wieder auf den Geschichtsaufsatz zu konzentrieren versuchte, nagte die Frage an ihr, wie er so eine eiskalte Abfuhr wohl verkraften würde. Und ob er sich bei Finlay über sie beschweren würde.

3

Ein paar Schrammen und Kratzer im Gesicht und an den Händen, mehr war einen Tag später von dem Sprung nicht mehr zu sehen. Sachas Handgelenk tat noch weh, aber die gebrochenen Knochen waren inzwischen wieder verheilt, und die Schmerzen waren auch fast verschwunden, was letzte Nacht noch ganz anders ausgesehen hatte.

Er hatte durchgehalten, bis Antoine, der wie eine verschreckte Ratte davongehuscht war, nicht mehr zu sehen gewesen war. Dann erst hatte Sacha sich gegen die Wand des Lagerhauses sinken lassen, seinen gebrochenen Arm fest umklammert und tief Luft geholt.

Das Sterben brachte ihn vielleicht nicht um, aber es tat höllisch weh.

Wenn seine Mutter die Schnitte im Gesicht gesehen hätte …

Mit Mühe hatte er sich hochgerappelt und sich humpelnd auf den Nachhauseweg gemacht. Auf halber Strecke hatte sein Handy gesummt.

»Jetzt nicht, Antoine«, hatte er gebrummt.

Doch es war gar nicht Antoine gewesen, sondern eine E-Mail von diesem englischen Mädchen.

Im ersten Moment hatte er wütend das Gesicht verzogen, doch dann hatte er unwillkürlich lachen müssen, was ihm einen stechenden Schmerz durch den Brustkorb gejagt hatte – bestimmt waren auch ein paar Rippen gebrochen. Er hatte sich die Seite gehalten, das Handy wieder in die Tasche geschoben und war weitergehumpelt.

Diese Taylor hatte Rückgrat.

Spontan hatte er beschlossen, doch auf ihren Vorschlag einzugehen und sich von ihr Nachhilfe geben zu lassen.

Aber erst musste er ein bisschen mehr über das Ganze wissen. Wie war sie ausgerechnet auf ihn gekommen? Und von wem hatte sie seine E-Mail-Adresse?

Er konnte sich eigentlich denken, von wem, allerdings gab es nur einen Ort, wo er eine Antwort auf seine Fragen bekommen konnte – die Schule.

Zum Glück hatte seine Mutter in dieser Woche Nachtschicht und würde schon im Bett sein, wenn er aufstand. Von den verräterischen Spuren in seinem Gesicht bekäme sie also gar nichts mit.

Unter der Dusche lehnte er sich gegen die weiß geflieste Wand und ließ das heiße Wasser auf seinen Körper prasseln. Als er sich einseifte, um das getrocknete Blut abzuwaschen, fuhren seine Finger über diverse Hubbel und Knubbel. Verblasste Andenken an frühere Heldentaten. Andere Tode.

Die lange, schmale Narbe auf seinem linken Arm stammte von damals, als er wegen einer Wette mit voller Absicht ein gestohlenes Auto gegen einen Laternenmast gesetzt hatte. 150 Euro hatte er damit verdient.

Eine etwas tiefere Narbe auf seinem Oberschenkel war das Souvenir einer Pokerpartie, bei der er so lange gewonnen hatte, bis seine Mitspieler das gar nicht mehr lustig gefunden und ihn ziemlich übel zugerichtet hatten.

Er drehte den Wasserhahn zu und stand tropfend einen Moment lang nur so da.

Die Herausforderung, die jetzt auf ihn wartete, war weit schlimmer, als ein Auto zu Schrott zu fahren.

Kurze Zeit später verließ er in Jeans und einem verwaschenen schwarzen T-Shirt die Wohnung und machte sich zum ersten Mal seit Wochen auf den Weg zur Schule.

Auf den Straßen herrschte alltägliches Durcheinander, überall geschäftige Leute, die von A nach B eilten. Die Morgensonne schien, und die Bäume tanzten im Wind.

Er war in letzter Zeit meistens nur nachts unterwegs gewesen und hatte ganz vergessen, wie wunderschön so ein Morgen sein konnte.

Als er an einer Bäckerei vorbeikam, ließ ihm der Duft von frischem Brot das Wasser im Munde zusammenlaufen. Obwohl er spät dran war, zog er einen Schein von Antoines Geld aus der Tasche, kaufte sich ein Croissant und aß es im Weitergehen. Das buttrige Gebäck zerschmolz in seinem Mund – in vier Bissen hatte er es verschlungen.

Als er kurz darauf die Schule betrat, wimmelte es in dem großen Backsteingebäude nur so von Schülern, die in die Klassenräume eilten. Sacha hatte alle Zeit der Welt – die Sonnenbrille auf der Nase, schlenderte er durch die Menge.

Er schaute nicht nach rechts noch links. Hier gab es eh kaum mehr einen, den er kannte, und Freunde schon gar nicht. Wozu brauchte man Freunde, wenn man bald nicht mehr da wäre, um mit ihnen abzuhängen?

Selbst die Gespräche seiner Mitschüler kamen ihm mittlerweile kindisch vor.

»Hast du gestern Abend Justines Kleid gesehen?« – »Lanton bringt dich um, wenn du nicht bald den Aufsatz ablieferst.« – »Du musst kommen! Alle gehen hin.« Einfach nur lächerlich, worüber die sich Gedanken machten.

Seine Anwesenheit blieb nicht unbemerkt. Die Sonnenbrille, die Schrammen in seinem Gesicht fielen auf. Er spürte, wie er angestarrt wurde, hörte Getuschel, wenn er vorbeiging.

Aber keiner blieb stehen und fragte ihn, was passiert war.

Sachas Lehrer waren dermaßen von seinem Erscheinen überrascht, dass sie sich keine Mühe gaben, den Schock zu verbergen. In der ersten Stunde sah der Lehrer hektisch in der Klassenliste nach. »Eigenartig, ich dachte, du hättest vergangenen Monat die Schule gewechselt …«

Sein Mathelehrer hob nur süffisant die Braue. »Und welchem Umstand verdanken wir die Ehre deiner Anwesenheit, Sacha? Ist heute ein besonderer Feiertag?«

Sacha störte das nicht weiter, er ließ die Worte einfach an sich abprallen.

Wozu sollte er noch in die Schule gehen? Wozu sollte er Dinge lernen, die er nie brauchen würde?

Er konnte die Reaktionen der Lehrer durchaus verstehen, schließlich hatte er im letzten Schuljahr fast den kompletten Unterricht geschwänzt. Dass er jetzt wieder da war, lag ja auch nur an seiner Neugier und seinem Ärger. Er konnte es nämlich nicht ausstehen, wenn jemand seine E-Mail-Adresse weitergab, und er hatte so ein Gefühl, wer das gemacht haben könnte.

Als er in die Englischstunde von Monsieur Deide kam, hatte die Nachricht, dass er wieder aufgetaucht war, im Lehrerzimmer offensichtlich bereits die Runde gemacht. Deide kommentierte das jedoch nicht, sondern zeigte lediglich auf einen leeren Platz im hinteren Teil des Klassenzimmers.

Als die Stunde vorbei war und die anderen Schüler den Raum verließen, blieb Sacha sitzen. Deide schien nicht überrascht.

»Du hast dich ein wenig rargemacht in letzter Zeit«, sagte er nur, während er die Tür schloss. Seinem scharfen Blick schien nichts zu entgehen.

Sacha zuckte die Schultern. Er fläzte sich auf seinem Stuhl und hatte die Beine lang ausgestreckt, aber immerhin die Sonnenbrille abgenommen.

Deide war der einzige Lehrer, den er wenigstens ein bisschen schätzte. Egal, was passierte oder wie lange er sich nicht blicken ließ – Deide hieß ihn immer wieder willkommen, fragte nach seiner Familie, versuchte, ihm zu helfen. Im Gegensatz zu den anderen Lehrern schien ihm wirklich etwas daran zu liegen. Und deshalb war sich Sacha auch ganz sicher, dass nur er hinter dieser Nachhilfegeschichte stecken konnte.

Die Frage war nur, wann der Lehrer damit rausrücken würde.

»War ziemlich beschäftigt«, antwortete Sacha vage.

»Das ist nicht zu übersehen.« Monsieur Deide deutete auf die Schrammen in seinem Gesicht. »Was ist passiert? Hast du mit Boxen angefangen?«

Deide war kleiner als Sacha, dafür aber sehr muskulös. Sacha hatte sich immer gefragt, welchen Sport er wohl machte. Sein dichtes schwarzes Haar war ordentlich gebürstet, sein markanter Kiefer glatt rasiert, die schmale Brille überraschend trendy.

»Könnte man so sagen. Und Basejumping mach ich jetzt auch.«

Sacha musste über seinen eigenen Scherz grinsen.

»Interessant.« Deides Tonfall verriet, dass er das keineswegs interessant fand.

Danach herrschte erst mal Stille. Sacha wartete darauf, dass Deide ihm verriet, worum es ging. Irgendwann müsste er die Karten offen legen.

Der Lehrer lehnte sich an einen benachbarten Tisch und betrachtete ihn ernst.

»Hör zu, mir ist schon klar, dass Schule nicht dein … Ding ist, wie ihr das nennt. Was ich wirklich jammerschade finde, denn ich glaube, dass du viel klüger bist, als du uns zeigst. In meinem Unterricht müsstest du eigentlich die besten Noten erzielen, was du bis letztes Jahr ja auch getan hast. Aber dann«, er hob die Hände, »bist du einfach … ausgestiegen.«

Sacha senkte den Blick und fummelte am Riemen seiner Umhängetasche herum.

»Du hast den Unterricht geschwänzt. Dich nicht mehr um deine Freunde gekümmert. Bist vollkommen abgetaucht. Als wärst du nicht nur aus der Schule ausgestiegen, sondern aus dem ganzen Leben.« Deide beugte sich zu ihm vor. »Und ich mag nicht mit ansehen, wie ein Siebzehnjähriger einfach aus dem Leben aussteigt.«

Das traf es ziemlich genau, musste Sacha zugeben, aber die wahren Gründe dafür konnte er dem Lehrer natürlich nicht verraten.

»Vermutlich haben Sie recht. Ich müsste mich mehr anstrengen«, sagte er pro forma. »Ich verspreche hiermit, dass ich meine Hausaufga…«

»Damit ist es nicht getan«, unterbrach ihn Deide. »Du warst immer gut in Englisch, der Unterricht hat dir Spaß gemacht. Ich weiß nicht, warum du dich nicht mehr anstrengst, aber so kann es nicht weitergehen. Du musst nacharbeiten. Wieder in die Spur kommen.«

»Wie denn?«, höhnte Sacha. »Dafür ist es zu spät. Ich hänge viel zu weit hinterher.« Er ließ sich noch tiefer in den Stuhl sinken. »Und wozu überhaupt?«

»Unsinn.« Der Lehrer blätterte in seinen Unterlagen. »Es ist nicht zu spät. Außerdem hätte ich da jemanden, der dir helfen kann.«

Wusst ich’s doch, dachte Sacha.

Deide fand, wonach er gesucht hatte, und blickte ihn streng an. »Natürlich bedeutet es Mehrarbeit.«

Sacha, der schon lange überhaupt keine Schularbeiten mehr machte, musste unwillkürlich lächeln.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Und ob das mein Ernst ist«, erwiderte der Lehrer. »Du bist immer noch mein Schüler, und ich werde nicht zulassen, dass du gar nichts mehr für die Schule tust. Abgesehen davon … war dein Vater nicht Engländer?«

Sachas Lächeln erstarb. Über seinen Vater sprach er mit niemandem.

»Schon möglich«, sagte er achselzuckend und zog sich in seine coole, harte Schale zurück.

Sein Vater war gebürtiger Engländer, das war sicherlich in Sachas Schulakte vermerkt. Ebenso wie das Datum, an dem er gestorben war.

»Dann solltest du sein Andenken ehren, indem du seine Sprache erlernst«, fuhr Deide fort. »Und nicht, indem du dich aufgibst.«

Er reichte ihm einen Zettel.

Kurz überlegte Sacha, ihm zu sagen, wohin er sich den Zettel stecken könne. Aber das wäre nicht fair gewesen. Immerhin war Deide der einzige Lehrer, dem er nicht völlig egal war.

Mit übertriebenem Seufzen streckte er die Hand aus und nahm das Papier entgegen. Es stand nicht viel drauf. Eine Mailadresse. Und ein Name, den er schon kannte: »Taylor Montclair«.

Er hatte also recht mit seinem Verdacht, dass Deide hinter allem steckte.

»Das ist die E-Mail-Adresse deiner Nachhilfelehrerin.« Der Lehrer klang zufrieden mit sich. »Sie ist eine Schülerin aus England und in deinem Alter. Du kannst online Kontakt aufnehmen, ihr auf Englisch E-Mails schreiben und mit ihr chatten. Sie wird dir bei der Grammatik helfen. Damit du den Anschluss findest.« Er stapelte seine Bücher. »Das ist doch mal eine nette Art von Unterricht, non? Weit und breit kein Lehrer, der dir Vorhaltungen macht.«

»Sie hat schon Kontakt mit mir aufgenommen«, sagte Sacha.

»Tatsächlich?« Deide blickte auf.

»Ich hab ihr aber gesagt, dass sie abschwirren soll. Und übrigens kann ich’s nicht leiden, wenn man einfach meine Mailadresse weitergibt.«

Der Lehrer seufzte und lehnte sich wieder an die Tischkante. »Weißt du was, Sacha? Hin und wieder könntest du ruhig versuchen, ein wenig netter zu sein.«

»Ich? Ich bin immer nett.« Sacha warf ihm einen herausfordernden Blick zu.

»Lass die Spielchen!«, fauchte der Lehrer. Er war jetzt richtig wütend, und Sacha setzte sich unwillkürlich kerzengerade hin – so die Fassung zu verlieren sah Deide überhaupt nicht ähnlich. »Ich bitte dich ja nur, ihr eine Chance zu geben. Mit ihr zu sprechen. Ist das vielleicht zu viel verlangt? Ich glaube wirklich, sie könnte dir helfen … wenn du sie nur lässt.«

Irritiert starrte Sacha auf den Zettel in seiner Hand.

Anscheinend hatte Deide es sich auf die Fahnen geschrieben, ihn zu retten. Auch wenn das Ganze aus Gründen, die er nie erfahren würde, sinnlos war, bedeutete es Sacha etwas, dass er sich so für ihn einsetzte.

Vielleicht sollte er wenigstens so tun, als würde er es versuchen. Um dem Lehrer etwas zurückzugeben.

Einfach wollte er es ihm aber nicht machen.

»Mal sehen«, sagte er deshalb nur.

Deide seufzte und raffte seine Papiere zusammen. »Dir ist einfach nicht zu helfen.«

Du weißt ja gar nicht, wie recht du hast.

Als er kurz darauf allein in der Masse der Schüler den Flur entlangging, wünschte er sich insgeheim, er könnte dem Englischlehrer die Wahrheit sagen. Damit er verstand, dass Sacha nicht einfach nur schwierig war. Dass es einen Grund dafür gab.

Deide konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte das.

***

Bei Schulschluss war Sacha wieder ganz der Alte, nur die schlimmsten Schrammen waren noch zu sehen, die brauchten einfach länger. Warum seine Knochen schneller als die Wunden verheilten, wusste er nicht. Jedenfalls war es bisher immer so gewesen.

Mit seinem gewohnt schlaksigen Gang, schwarzer, abschreckender Sonnenbrille, die Kapuze trotz des warmen Sonnentags über den Kopf gezogen, machte er sich auf den Nachhauseweg. Er redete mit keinem, und keiner sprach ihn an.

Genau wie er es haben wollte.

Das Haus, in dem er mit Mutter und Schwester lebte, war typisch für Paris – cremefarben wie eine Hochzeitstorte und fünf Stockwerke hoch. Alles hier war ihm so vertraut, dass er die langen Schatten, die die Sonne auf dem Linoleumboden im Hausflur warf, oder den leichten Geruch nach Staub und Putzmittel gar nicht mehr wahrnahm.

Er betrat den kleinen, mit Plastikholzfurnier verkleideten Lift und drückte auf die Drei. Mit einem dumpfen Rums schlossen sich die Türen. Einen Augenblick lang geschah nichts, dann setzte sich der Aufzug knarrend in Bewegung.

Wie immer, wenn seine Mutter Nachtschicht im Krankenhaus hatte, wirkte die Wohnung ein bisschen unordentlich. In der Spüle stand noch Geschirr, die Post war nicht weggeräumt worden, und der blau-weiß gestreifte Überwurf lag zerwühlt auf dem Sofa und war nicht wie sonst fein säuberlich zusammengefaltet.

Alles war still. Durch die offen stehende Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter fiel das Sonnenlicht auf den Holzboden im Flur. Sie musste einkaufen gegangen sein. Und seine kleine Schwester Laura hatte nachmittags häufig lange Schule oder irgendwelche Termine.

Er hatte die Wohnung ganz für sich allein.

In der Küche machte er sich ein Brot und ging dann in sein Zimmer.

In gegenseitigem Einverständnis machte seine Mutter dort nie sauber, weshalb sich der Zustand des Raums in einem Wort zusammenfassen ließ: postapokalyptisch. Klamotten lagen auf dem Boden verstreut, das Bett war ungemacht, überall flogen Bücher und Papiere herum, dazwischen DVDs, Computerspiele und ein Fußball.

Sacha bahnte sich einen Weg durch das Chaos zu seinem Schreibtisch, der am Fenster stand. Nachdem er mit einem Wisch den halb vergrabenen Rechner befreit hatte, schaltete er ihn ein und wartete.

Sobald der Computer zum Leben erwacht war, öffnete Sacha die Mail der kleinen Engländerin und las sie noch einmal.

Er zögerte einen Augenblick, dann drückte er auf »Antworten« und tippte mit schnellen Fingern die Worte: »Lass uns reden.«

Er fügte seinen Chat-Namen hinzu und beschrieb ihr, wo sie ihn fand.

Das war’s. Weiter ins Detail wollte er nicht gehen, ehe er nicht mehr über sie wusste. Deide hatte ihn gebeten, ihr eine Chance zu geben, und das tat er hiermit. Aber mehr würde sie von ihm nicht bekommen.

Er biss in sein Brot und kaute gedankenverloren. Etwas an diesem englischen Mädchen ließ ihn nicht los. Ihr Nachname klang seltsam vertraut. Als würde er ihn von irgendwoher kennen.

Schnell legte er das Brot auf die Schreibtischplatte, zog die Tastatur zu sich heran und gab »Taylor Montclair« in die Suchmaschine ein.

Die meisten Ergebnisse waren Zufallstreffer: eine Uni in Amerika, eine Reinigungsfirma.

Ein Link jedoch führte ihn auf einen Artikel aus einer Lokalzeitung in einer englischen Kleinstadt namens Woodbury.

»Die hiesige Schülerin Taylor Montclair wurde letzten Freitagabend im Rahmen einer Feierstunde als ›Ehrenamtlerin des Jahres‹ ausgezeichnet«, hieß es in dem Artikel. »Der Preis besteht aus einer Medaille und einem Stipendium zur Vorbereitung auf die Hochschule. Die erst siebzehnjährige Taylor hat im vergangenen Jahr mehrere Tausend Pfund für britische Sozialprojekte gesammelt und dafür über hundert Stunden Freizeit geopfert …«

Das war alles. Kein Bild und auch sonst keine weiteren nützlichen Informationen. Trotzdem sagte ihm sein Gefühl, dass es sich um sie handeln musste. Ihre E-Mail war so förmlich gewesen. So mustergültig. So … Ehrenamtlerin-des-Jahres-mäßig.

Kleiner Gutmensch Taylor Montclair.

Das erklärte zwar noch nicht, weshalb ihr Name ihm so bekannt vorkam. Aber … immerhin.

Ein spöttisches Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit.

Die Sache fängt an, interessant zu werden.

4

Als Taylor nach der Schule ihre E-Mails checkte, fiel ihr Blick sofort auf die Nachricht von Sacha.

Lass uns reden.

Ganz schön dreist, zu denken, dass sie nach seiner saublöden Mail von gestern noch Lust hätte, mit ihm zu chatten.

Andererseits saß sie in der Falle. Finlay hatte ihr am Morgen schon die Hölle heißgemacht, als sie ihm berichtete, dass Sacha keine Nachhilfe von ihr wollte.

»Sie können nicht eine Aufgabe übernehmen und dann beim ersten kleinen Hindernis gleich die Flinte ins Korn werfen«, hatte er getadelt. »Ich weise Sie darauf hin, dass mangelnder Einsatz sich negativ auf Ihre Noten auswirken wird. Wie wollen Sie es nach Oxford schaffen, wenn Sie gleich bei der ersten Klippe die Segel streichen?« Und mit seinem allerstrengsten Blick, dem für besonders schwierige Schüler, hatte er hinzugefügt: »Ich muss sagen, ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Miss Montclair.«

Derartige Tiraden gehörten eigentlich nicht zu Finlays Repertoire, der für gewöhnlich eher der freundliche, sanftmütige Typ war. Ihm schien wirklich viel daran zu liegen, dass sie diesen französischen Blödmann unterrichtete.

Taylor seufzte und klickte den Link an, den Sacha ihr mit der E-Mail geschickt hatte. Er führte zu einer Website mit dem Namen »Revolution Chat«, von der sie noch nie etwas gehört hatte.

War ja klar, dass es was Abgedrehtes sein muss.

Die Website zeigte einen pechschwarzen Hintergrund mit einigen wenigen Grafiken und Bildern darauf. Das Logo war eine blutrote Faust, darüber stand als Motto »Quatschen ohne Konsequenzen«. Jegliche Kommunikation über die Site sei kostenlos und »sicher vor Bespitzelung durch die Regierung und sonstige Institutionen«, wurde versprochen.

Ziemlich zwielichtig, das Ganze.

Sie versuchte, Sachas Seite anzuklicken, doch da poppte ein Totenkopf auf und warnte sie: »Registriere dich oder STIRB

Taylor rümpfte die Nase.

Sie beschloss, nur die allernotwendigsten Infos einzugeben, aber mehr wurde auch gar nicht verlangt: Name, E-Mail, Foto.

Wahllos klickte sie irgendein Bild in ihrem Fotoordner an und lud es hoch. Georgie hatte es vor ein paar Wochen im Park aufgenommen. Taylor saß auf der Wiese und lachte in die Kamera. Im hellen Sonnenschein leuchtete ihr blondes Haar fast wie ein Heiligenschein.

Ein grinsender grüner Totenkopf schwebte ins Bild. »WILLKOMMEN«.

»Ha, ha wie gruselig«, kommentierte Taylor.

Sie tippte Sachas Chat-Namen ein. Diesmal erschien umgehend sein Profil und darüber in roten Lettern das Wort »OFFLINE«.

Aber es gab ein Foto von ihm. Taylor beugte sich vor, um es genauer zu betrachten.

Ein Junge mit wirrem, braunem Haar blickte ihr entgegen. Er war ziemlich dünn, Kinn und Wangenknochen ein wenig kantig, der Hals fast zart. Was Taylor am meisten faszinierte, waren die Augen. Knallblau und frech. Provozierend.

Was glotzt du so?

Zugegeben, er sah gut aus. Und interessant. So zornig und rebellisch. Er trug Jeans und ein verwaschenes T-Shirt. Die Hände tief in die Taschen vergraben, starrte er genervt in die Kamera.

Plötzlich verschwand das Profilbild, und Sachas lebendiges Gesicht erschien riesengroß auf dem Bildschirm.

Ertappt fuhr Taylor zurück.

Sacha schien genauso überrascht, sie zu sehen, hatte sich aber schnell wieder im Griff. Er lehnte sich zurück und beäugte sie misstrauisch.

Einen Moment lang starrten sie sich nur an.

Er brach als Erster das Schweigen. »Salut, Frau Lehrerin.« Sein zynisches Lächeln brachte Taylor sofort auf 180. »Du wolltest mit mir sprechen. Hier bin ich.«

Seine Stimme war überraschend tief, mit einem samtig französischen Akzent. Doch sein Tonfall war schroff, und Taylor spürte die Ablehnung dahinter.

»Ich? Wieso?« Sie war so perplex, dass ihr zunächst die Worte fehlten. Sie musste sich echt zusammenreißen. »Wenn ich mich recht erinnere, warst du derjenige, der gesagt hat, wir sollten reden.«

»Aber bloß, weil du so verzweifelt klangst.«

»Verzweifelt?« Taylor kochte. »Hör mal, ich mache das hier nur für die Schule und weil mein Lehrer darauf bestanden hat. Ich persönlich habe nicht die geringste Lust, mit dir zu reden.«

Er lächelte spöttisch.

»Du tust wohl immer, was man dir sagt, wie?« Es klang verächtlich. Als wäre Gehorsam für ihn das Schlimmste überhaupt.

Taylor schoss das Blut in die Wangen.

»Nein, aber mir liegt nun mal etwas an meiner Ausbildung und meiner Zukunft …«

Sachas Grinsen wurde noch breiter.

Taylor merkte selbst, dass sie wie eine alte Streberin klang, doch irgendwie konnte sie sich nicht bremsen.

Sacha wedelte abwertend mit der Hand. Die rasche Bewegung verschwamm auf dem Bildschirm.

»Halt mir bloß keine Vorträge über …«, er suchte nach der englischen Vokabel, »Schulbildung. Das langweilt mich.«

Taylors Augen blitzten. Am liebsten hätte sie Finlay eine reingehauen.

Der Typ braucht keine Nachhilfe, der braucht einen Babysitter.

»Ich wollte dir keinen Vortrag halten«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Du hast mir eine Frage gestellt, und ich habe geantwortet. Und übrigens – wenn du keine Lust hast, mit mir zu sprechen, warum tust du es dann?«

Zu ihrer Überraschung lachte er. Überhaupt nicht zynisch diesmal, sondern echt.

»Touché.« Für einen kurzen Moment sah er plötzlich entspannt aus.

Sie rückte näher. »Im Ernst. Es ist doch mehr als offensichtlich, dass du auf die Sache keinen Wert legst. Warum bist du dann hier?«

»Weiß nicht.« Sein Blick huschte über ihr Gesicht. »Ich war wohl … neugierig. Außerdem meinte mein Lehrer, ich sollte …«

»Ach, du tust wohl immer, was man dir sagt, wie?«, revanchierte sich Taylor.

Wieder lachte er sein entwaffnendes Lachen – ein tiefes, warmes Glucksen.

Taylor blieb auf der Hut und wappnete sich gegen die nächste bissige Bemerkung. Aber die kam nicht. »Okay, okay.« Er hob die Hände. »Sorry, dass ich so pampig war. Zurzeit hab ich mit Schule einfach …«, wieder suchte er nach dem richtigen Ausdruck, »… nicht so viel am Hut. Aber dafür kannst du ja nichts. Ich sollte es also nicht an dir auslassen.«

Taylor wurde ganz schwindlig von seinen ständigen Stimmungswandlungen.

»Vollkommen richtig. Das solltest du nicht.«

Sie versuchte, kühl zu bleiben, doch seine blauen Augen blitzten sie so lebhaft an, dass ihre Wut verrauchte.

Außerdem brauchte sie ihn.

»Klingt, als wären sich unsere Lehrer sehr ähnlich. Meiner ist ganz versessen darauf, dass ich dir Nachhilfe gebe.« Sie sah ihn fragend an. »Aber ich verstehe nicht, wo das Problem liegt. Dein Englisch ist wirklich gut.«

»Danke.« Sacha wirkte erfreut.

Taylor musste feststellen, dass er echt gut aussah, wenn er lächelte.

»Meiner liegt mir ständig in den Ohren, dass ich mehr für die Schule tun soll. Mache ich aber nicht.« Er deutete auf den Bildschirm. »Das hier ist die Strafe dafür.«

Aber es schien ihn nicht zu berühren, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Und wie er sie ansah, selbst in den netten Momenten … Als würde er abschätzen, ob sie cool genug war.

Und das machte sie nervös.

Bestimmt hätte er lieber mit jemandem wie Georgie gechattet, einem Mädchen mit perfektem Haar, perfektem Make-up, perfekter Figur.

Mit einer, die ganz anders ist als ich.

»Bist ’ne echte Wohltäterin, hab ich gelesen«, haute Sacha in die Kerbe, als hätte er ihre Gedanken erraten und wollte umgehend die Bestätigung liefern.

Taylor blinzelte irritiert. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Taylor Montclair aus Woodbury in England: Ehrenamtlerin des Jahres. Das bist du doch, oder? Ich hab dich gegoogelt«, fügte er hinzu, als er ihre Verwunderung sah.

Taylor wurde wieder rot. Als wäre ihr der Preis, auf den sie immer stolz gewesen war – und der einen Ehrenplatz in ihrem Regal hatte –, auf einmal peinlich.

Das ärgerte sie. Für diese Auszeichnung hatte sie hart gearbeitet, sie bedeutete ihr etwas.

Sie zwang sich, ihn direkt anzusehen. »Ja, das bin ich. Ich nehme Dinge ernst. Ich bin intelligent. Macht dir das vielleicht Angst?«

Wenn Taylor gedacht hatte, es würde ihn abschrecken, wenn sie zurückbiss, hatte sie sich getäuscht. Sacha stützte nur das Kinn in die Hand und betrachtete sie interessiert.

»Ich glaube, du gefällst mir, Taylor Montclair aus Woodbury in England. Wenn ich tatsächlich Nachhilfe bräuchte, würde ich wahrscheinlich bei dir anfragen. Aber wie du siehst, ist mein Englisch bestens.«