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Hilde Willes

Irgendwo im Nirgendwo





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Irgendwo im Nirgendwo

Irgendwo im Nirgendwo

 

Hilde Willes

 

Prinzessin Eisenherz liebt Waffeln mit Sahnewolken, verabscheut jedoch Taranteln, Einläufe und Schlachtekohle. Was hat Wirtschaft mit Wundern zu tun, und woher kommt eine Krankheit ohne Namen? Babys werden vom Onkel Adebar gebracht, bis Jugendzeitschriften aufklären. Tugend bedeutet: edel, hilfreich und gut, dennoch sollte man Lümpern besser aus dem Wege gehen. Auch ein Vater kann träumen, und Musterschülerinnen haben’s schwer. 

Ein Leben voller Wunderlichkeiten für ein Mädchen, dessen Wurzeln tief sitzen. Doch werden ihr eines Tages auch Flügel wachsen?

 

„Irgendwo im Nirgendwo“ ist kein Kinderbuch im eigentlichen Sinn. Humorvoll und berührend malt es Bilder einer Kindheit und Jugend in den Jahren um 1960 bis 1980. Leser mittleren Alters finden sich wieder in einem Gestern, das den heutigen Kindern und Jugendlichen nicht mehr vertraut sein kann. Erzählt wird mit Liebe zum Detail und auch mit Ironie, denn gerade der „ernste Schalk“ vermag es, manchem die Dinge ins rechte Licht zu rücken. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Irgendwo im Nirgendwo

Hilde Willes

 

 

Copyright: © Hilde Willes– publiziert von telegonos-publishing  

www.telegonos.de  

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website) 

Cover: © Azrael Ap Cwanderay 

https://www.facebook.com/azraelscoverwelten 

Lektorat: Textcheck Agency, Michaela Marwich /Valeska Reon 

http://textcheck.agency/ 

Kontakt zur Autorin:

http://www.telegonos.de/aboutHildeWilles.htm 

https://www.facebook.com/Autorin.Hilde.Willes/?ref=bookmarks 

 

ISBN-13: 978-3848209927  

 

Herstellung und Vertrieb: BoD – Books on Demand, Norderstedt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

Was wissen wir noch über diese ersten Momente,

als sich unsere Augen öffneten,

um ins Licht der Welt zu blinzeln?

 

Haben wir still gestaunt? Oder brüllten wir sämtlichen Unmut heraus ob des Geblendetwerdens und der diesseitigen Kälte, in die wir hinausgepresst wurden,

direkt aus dem warmen Schutz eines Mutterleibes?

Woran erinnern wir uns?

 

Diese ersten Jahre, was prägte uns?

Woran halten wir uns fest, ein ganzes Leben lang?

Und was werden wir mitnehmen, wenn wir gehen?

Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm?

 

Fragen wir zu viel oder zu wenig?

Ganz am Anfang der Welt gab es diese Geschichte vom Baum der Erkenntnis, dessen Frucht wir stahlen. Sie brachte uns Erleuchtung und auch wieder nicht. Weil Fragen und Antworten neue Fragen aufwerfen, andere Antworten suchen. So, wie ein Medikament, zur Linderung eines Leidens eingenommen, gleichermaßen ein anderes Unwohlsein verursachen kann, vielleicht aber auch Heilung.

 

Eigentlich sollten wir doch einfach nur LEBEN!

 

 

 

 

Wirtschaftswunder

Wirtschaftswunder

 

Da gibt es ein Dorf am Rande von Irgendwo-Nirgendwo. Ein bisschen verwunschen, aber nicht ganz und gar vergessen vom Rest der Welt. Es gab sie schon, die Zivilisation, einige Kilometer entfernt nach Norden, Westen und Süden in Form von größeren Städten. Der Osten war unlängst durch den Bau einer hohen Mauer versperrt worden. Aber hin und wieder gab es diese netten, pupslangweiligen Sonntagsspaziergänge, wo sich das angekuckt wurde.

Meine ältere Schwester und ich trugen Sandalen und weiße Kniestrümpfe zum Röckchen, die langen Haare zu straffen Pferdeschwänzen zusammengebunden. Man hörte nicht immer ganz genau zu, was der Vater alles zu referieren hatte über das Leben da drüben hinter dem Zaun. Denn eigentlich sah es ja nicht wesentlich anders aus als bei uns. Wälder und grüne Wiesen, kleinere und größere Hügel und die Pünktchen dort auf der Weide, das mussten Kühe sein, die grasten, um abends gemolken zu werden. Ganz so, wie auch hier. Was also gab es so Außergewöhnliches zu beobachten? Hinter dem Zaun, dass man dort spazieren gehen musste? Was war da so viel anders, fragte sich ein gelangweiltes Kinderherz? Viel schöner wär’s doch gewesen, einen netten Park zu besuchen, mit einem Spielplatz dabei und wo man vielleicht sogar ein Eis hätte kaufen können oder zumindest einen Lolli. Oder an einem kleinen See Entchen füttern, mit trockenem, alten Brot, das man zuhause gemopst hatte.

Aber nein, man hatte bei der Sache zu bleiben und anzustaunen, was der Vater bestaunenswert fand! Und schwer beeindruckt sein von all seinen schlauen Worten! Weil, sonst gildet’s nicht! Nicht gleichgültig sein! Stehenbleiben und mit großen Augen kucken, was hinter dem ominösen Zaun zu erspähen war und hingerissen dem Herrn Papa lauschen. Ganzkörpermäßig, mit Kopf, Bauch und dem Herzen, wenn’s auch noch so klein war.

Welches im Übrigen auch nichts verstand von großen Koalitionen und Notstandsgesetzen samt Vollbeschäftigung und „Made in Germany“. Schwere Kost für kleine Menschen.

Aber die Steigerung der privaten Kaufkraft musste etwas „Gutes“ sein, sowie zinsgünstige Baukredite.

Lange und immer wieder rechnete der Vater auf einem Schmierzettel herum, ehe er den einzigen guten Anzug hervorholte, den er besaß. Jenen, in dem er einstmals auf seiner Hochzeit getanzt hatte. Wenn er denn getanzt hatte, der Herr Papa mit der Frau Mama.

In diesem feinen Zwirn machte er sich auf den Weg zum Nachbarort, weil er einen Termin beim Onkel von der Sparkasse hatte. Am Fachwerkhäuschen gab es allerlei zu richten. Deshalb hatte der Vater ja auch die vielen schönen Bilder gemalt, mit Lineal und Zirkel! Wie er sich das alles für die Zukunft so vorstellte, darüber sprach er mit dem Sparkassenonkel, im allerbesten Zwirn!

 

Dennoch blieben seine Vorträge über Wirtschaftswunder hin oder her reichlich mysteriös, insbesondere für ein kleines Mädchen. Aber Kinder besitzen diese wundervolle Gabe, im Falle eines Notfalles sich „wegdenken“ zu können, wobei sie Träumen hinterherjagen oder Schmetterlingen.

Manchmal waren’s auch einfach nur Gänseblümchen, die sie pflückten.

Wenn bei diesen Spaziergängen die eigene Fantasie sich erschöpfen sollte, bat ich zuweilen meine ältere Schwester: „Mach mir einen Kranz!“, und hielt ganze Fäuste voller Blüten hin, mal mit viel und mal mit wenig Stängeln dran. Nach einer Weile, wenn sie Lust dazu gehabt hatte, drückte sie mir dann die Blumenkrone aufs karottenrote Haar und ich wurde zu einer Prinzessin, die Kühe hinter’m Zaun zu edlen Wildpferden. Ein Einhorn war auch darunter und irgendwoher kam eine Fee. Drei Wünsche hatte ich frei und wollte einen schmucken Prinzen, der sich auf eines der Pferde schwingen würde, um herbeizujagen. Jedes Hindernis konnte er überwinden, auch das eines hohen Zaunes. Lebten Märchen nicht von Wundern?

Weiter jedoch kam ich nie in meinen Träumen, denn was hätte ich schon anstellen sollen mit diesem Prinzen? Mit ihm fortreiten? Wohin und warum?

Eigentlich wollte ich für alle Zeiten zuhause bleiben und wenn überhaupt, dann konnte nur einer dieser Prinz sein, nämlich der Opa. Aber das ging ja nicht, der hatte schon die Oma.

Lange noch wurde der Vater nicht fertig. Allzu gerne plapperte er über’s Wirtschaftswunder. Irgendwie gab’s da einen Zusammenhang mit dem ominösen Zaun. Weil der wurde ja erst nach dem Krieg gebaut. Krieg war etwas Schlimmes. Aber danach wurde es besser. Zumindest für die, die auf dieser Seite des Landes lebten. Wie’s da drüben war, so genau wusste man das ja nicht. Man durfte ja nicht hin! Nur ankucken!

 

Wenn dann endlich dieser grottenlangweilige Sonntagsspaziergang vorüberging, wanderte man nach Hause, wo die Großeltern warteten. Dort gab es etwas Süßes, und vielleicht hatte mein Prinz wieder ein kleines Holzmännchen geschnitzt. Oder er spielte auf seiner Mundharmonika, weil’s doch Sonntag war.

Und der Vater sabbelte noch immer über Aufschwung und Boom, dirigierte seine Monologe mit überschwappender Kaffeetasse.

 

„Was ist das denn, Wirtschaftswunder?“, fragte das kleine Mädchen und stellte sich staunend vor, Außergewöhnliches könnte geschehen, wenn man sonntags nach dem Kirchgang in der einzigen Gastwirtschaft des Dorfes beim Bier oder Kaffee saß, wie so manche das taten?! Oma und Opa ganz gerne, die Eltern eher selten, sie gehörten nicht zu den Kneipengängern, noch nicht mal sonntags! Ob’s die Mutter gerne öfter getan hätte, um ihre selbst genähten Kleider vorzuführen und unter die Leute zu kommen? Vielleicht? Wusste man denn so genau, was in den Köpfen seiner Eltern vor sich ging?! Was sie dachten und fühlten? Vor allen Dingen, wenn sie es nie sagten!

 

Mama schaute meistens nur stumm in der Gegend herum, wenn der Vater seine politischen Lieblingsthemen dozierte. Auch sonst sagte sie nicht allzu viel. Das überließ sie ihrem Gatten, der führte gerne das große Wort. Das war halt so! Sie kannte es nicht anders. Möglicherweise träumte sogar sie sich manchmal einfach weg? Wo war sie dann mit ihren Gedanken? Bei einem Prinzen gar, wenn’s der Gatte nicht war?!

Denn der hatte sich inzwischen heiß palavert, und wenn dem so war, konnte es gefährlich werden.

Die Kinder brauchten sich erst gar nicht zu mucksen. Ein bisschen Zucht und Ordnung musste sein! Lieber sogar noch mehr davon!

 

Manchmal wurde er auch still, dann mochte ich ihn am liebsten. Sonntags frühabends dann, auf dem Sofa liegend, einen Arm über den Augen, döste er vor sich hin, schnarchte sogar, dann musste ich kichern. Wenn ich wollte, durfte ich mich an seine Seite kuscheln und zuhören. Nur stille sollte ich sein, denn Renate Kern trällerte aus dem Radio, dass man lieber mal weinen sollte im Glück oder die Blumen bräuchten Sonne. 

Letzteres war mir ja klar, aber warum weinen, wenn man glücklich war? Weinte der Papa etwa, weil er doch den Arm über das Gesicht gelehnt hatte? Vielleicht, damit man seine Tränen nicht sah? Neugierig versuchte ich herauszufinden, ob seine Augen nass waren, aber sie waren’s nicht.

Er arbeitete zu viel, ein Gefangener des Wunders seiner Wirtschaft. Deshalb sah man ihn auch an den meisten Tagen nicht oft, und wenn er da war, dann baute er nach und nach allerlei um am maroden Fachwerkhäuschen. In dem wir lebten, zusammen mit den Großeltern. Was ja auch wunderbar war für meine Schwester und mich, denn Oma und Opa hatten Zeit für uns und unser Kindsein. Und sie hatten Sinn für Wunder, aber andere als die der Eltern.

Ganz sicher hatte der Vater seins und die Mutter ihres, aber konform mit denen der Großeltern oder uns Kindern gingen diese nicht. Vielleicht waren wir damals auch einfach nur zu dumm, um es richtig zu verstehen?!

 

Die Mutter kochte und nähte, und wenn sie nicht kochte und nähte, dann war sie krank. Warum war sie so oft krank? Das wusste auch keiner so genau, am allerwenigsten sie selber und ihre Krankheit hatte keinen rechten Namen, jedenfalls damals noch nicht.

 

Aber sonntags gab es ein gemeinsames Mittagessen, und im Sommer schickte man mich zu den Nachbarsleuten. Die hatten eine große Gefriertruhe, aus der sie Eis verkauften.

„Zweimal Nucki Nuss und zweimal Nucki Erdbeer bitte!“, sagte ich brav mein auswendig gelerntes Sprüchlein auf. Manchmal sollt’ es auch das Sandwich-Eis sein mit den klassischen drei Fürst-Pückler-Sorten. Viel mehr gab es eh nicht in dieser Truhe, aber DAS war schon ein wöchentliches Highlight! Jedoch nur im Sommer, und nicht, wenn’s regnete. Im Winter schon ganz und gar nicht. Da aß man kein Eis! Davon kriegte man einen Schnupfen!

 

War der eiskalt leckere Nachtisch verputzt, ruhte sich der Herr des Hauses ein Weilchen auf dem Sofa aus … mit Renate Kern. Wie gesagt, die mochte er wohl gern. Während die Frau Mama still und verträumt an ihrer Nähmaschine herumklapperte.

Natürlich erst, nachdem der Abwasch erledigt war. Frauenarbeit, klare Sache! Kam für einen Mannesvater nicht in Frage! Aber meine ältere Schwester musste helfen, was ihr überhaupt nicht passte. „Warum darf der Fuchs mit Papa auf dem Sofa liegen und ich muss abtrocknen?!“ Ah! Sonst war ich die niedliche Kleine, und jetzt wurde wieder auf meiner Haarfarbe herumgeritten! Manchmal konnte sie richtig biestig sein, die lange Ziege. So nannte ich sie nämlich. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass das Füchslein noch viel zu viel Geschirr zerdepperte, weil seine Händchen einfach zu ungeduldig waren. Aber sie hätte beruhigt sein können, denn einige Zeit später musste ich genauso oft helfen wie sie. Vor allen Dingen, wenn sie lernen musste für die Schule. Dabei wusste ich genau, dass sie zwischen ihren Büchern bunte Heftchen versteckt hielt, welche sich Bravo nannten. Daraus riss sie allerlei verrückte Bilder und mit diesen Postern wurden die Wände voll gepappt, worüber der Vater jedes Mal meckerte. Na bravo!

Einmal erwischte ich sie, wie sie hochroten Kopfes etwas las, das sie aber flugs vor mir in Sicherheit brachte. „Was hast du da? Zeig doch mal!“ Ich war so neugierig.

„Zieh Leine! Ich muss lernen!“ Die lange Ziege wollte definitiv ihre Ruhe haben vor dem kleinen Fuchs und keinesfalls ihre Heimlichkeiten mit ihm teilen.

„Aber du lernst ja gar nicht!“ Aufgeben gab’s nicht!

„Verschwinde endlich!“ Resolut wurde ich aus dem Zimmer geschoben und die Tür verriegelt, vor der ich dann laut heulend stehen blieb.

Bis die Oma kam und mich am Händchen mitnahm, in die Küche, wo sie Waffeln backte für den Nachmittagskaffee.

„Die Ziege lernt ja lange nicht!“, schluchzte ich beleidigt. „Sie hat ein Geheimnis und ich darf’s nicht wissen!“

„Wenn du größer bist, wirst du auch Geheimnisse haben!“, wurde ich beruhigt und bekam den großen Holzlöffel in die Hand gedrückt, mit dem ich den Teig rühren sollte. Der war ja längst fertig, aber egal. Denn nun war ich beschäftigt und wenn die ersten frisch gebackenen Waffeln vom uralten Eisen plumpsten, strahlte ich schon wieder halbwegs versöhnt. Wie das duftete! Das war so lecker! Besser als die geheimsten Geheimnisse der langen Ziege!

Trotzdem war ich noch ein bisschen sauer. Ich wollte jetzt wissen, was das mit den mysteriösen Dingen auf sich hatte, die nur den Eingeweihten bekannt gemacht wurden und nicht mir, die ich außen vor blieb. Wie vor der Tür meiner Schwester! Jetzt wollte ich wissen, was sich dahinter abspielte und nicht später.

„Wenn du größer bist!“, das sagten sie alle und vor allem die Erwachsenen immer dann, wenn sie nicht weiterwussten! Nur dumme Ausflüchte!

Aber der Opa holte den Sahneschläger her mit der leicht angerosteten Handkurbel, womit er drehte und drehte, bis die Sahne „wolkig“ geworden war. Erst dann war die Oma zufrieden, klatschte ein Gewölk auf meine Waffel. Warmen Kakao bekam ich dazu und wenn ich murrte, weil sich eine Haut auf der Oberfläche gebildet hatte, was ich eklig fand, nahm die Oma ganz einfach ein kleines Löffelchen zur Hilfe. An jenem hing dann das Widerliche. Sie lutschte es ab und leckte sich obendrein noch genüsslich die Lippen. Nun war sie glücklich, und ich war glücklich. Also waren wir alle glücklich. Der Opa sowieso, denn im Fernseher lief Spiel ohne Grenzen. Das kuckten wir uns an und die lange Ziege dort oben konnte gerne länger noch in ihrem Zimmer hocken bleiben mit all ihren blöden Geheimnissen!

 

Jahre später sollte ich mich dann selber im Verborgenen bilden nach den Anweisungen des Herrn Dr. Sommer. Was auch sinnvoll schien, sonst würde man heute vielleicht immer noch an die verrücktesten Geschichten glauben, die man erzählt bekam von den Babys und wo sie herkamen.

Die lange Ziege hatte mir jedenfalls reichlich von ihren alten Exemplaren der Bravo aufgehoben, wofür ich ihr später sehr dankbar war. Denn mit dem Taschengeld war das nicht immer so üppig gewesen in jenen Zeiten.

 

Im Nachhinein gesehen war es wirklich wichtig, dass es diese Art der Aufklärung für uns gegeben hatte. Wer sonst hätte es denn tun sollen? Die Eltern etwa oder die Oma? Der Opa gar? Wo die doch selber überhaupt keine Ahnung hatten und alle Welt stets auf später vertrösteten! Nicht einer von ihnen kannte sich mit so was aus! Nicht einer! Denn laut ihren Aussagen waren sowohl meine Schwester als auch ich vom Klapperstorch gebracht worden und unsere Kindheit war schön gewesen.

Aber auch nicht immer ein Kinderspiel …

Onkel Adebar

Onkel Adebar

 

Meine Zeit begann Mitte der 1960er-Jahre. Da war meine Schwester bereits sieben und kam in die Schule. Dieser recht große Abstand zwischen uns beiden wurde auch nie besonders erklärt. So ganz ein Zuverlässiger kann der Klapperstorch also nicht gewesen sein. Weiterhin belauschte ich irgendwann, dass so ein großer Altersunterschied zwischen den Kindern eigentlich nicht geplant gewesen sei. Ganz böse Zungen zischelten, das Zweite sei eh etwas außerfahrplanmäßig!

Woran also lag’s?

Möglicherweise hatte der Storch nicht immer Lust, sich in Gegenden wie unsere zu verirren. Wirklich viel los war da ja nicht. Vielleicht gab es in jenen Jahren auch einfach zu viel zu tun für ihn? Das Wirtschaftswunder zog so manches nach sich. Oder aber die Mutter vergaß stets rechtzeitig den Zucker auf die Fensterbank zu legen, abends, bevor sie zu Bett ging? Das würde auch die Sache mit dem Fahrplan, dem Außermäßigen, irgendwie erklären. Doch wer wollte das jetzt noch alles so genau wissen?

Die Dinge geschahen, wie sie geschahen.

Vielleicht war es einfach nur reiner Zufall, dass sich im März 1964 Onkel Adebar mit seinem langen spitzen Schnabel aufmachte zum Fachwerkhäuschen am Dorfrand von Irgendwo-Nirgendwo. Um ein Bündel abzuwerfen, noch dazu das Falsche, denn eigentlich war ein Stammhalter erwünscht gewesen. Weil, ein Mädel gab es ja schon.

Vermutlich sollte das krakeelende Baby gar nicht bei dieser Familie abgegeben werden, sondern ganz woanders? In Hamburg oder Frankfurt, möglicherweise sogar Timbuktu? Und die hatten jetzt den Stammhalter gekriegt, obwohl dort ausdrücklich ein Mädchen bestellt gewesen war?

Da sah man mal wieder, auf nichts war wirklich und hundertprozentig Verlass! Noch nicht mal auf den Klapperstorch! Und auch nicht im Wirtschaftswunder! Mochte an Vaters Lieblingsspruch, den er so gerne und häufig in die Welt brüllte, wohl etwas Wahres dran sein? „Man muss aber auch alles selber machen, sonst wird das nix!“

Tja, dann hätt’ er’s halt selber in die Hand nehmen sollen, vielleicht wäre das Ganze dann reibungsloser vonstattengegangen und auch bereits ein paar Jahre früher!

Wie dem auch sei, sollte das zweite Mädel wirklich an der falschen Adresse abgeliefert worden sein, im Nachhinein gesehen war’s doch die rechte gewesen. Denn es wuchs sich herrlich auf im Fachwerkhäuschen am Rande von Irgendwo-Nirgendwo, meistens jedenfalls.

 

Und deutlich muss gesagt sein, so einfach hatte es ein Onkel Adebar wirklich nicht. Man musste sich in ihn und seine Pflichten hineinversetzen, um das zu verstehen! Mit solch vehementen Brüllaffen am Halse war sicher nicht gut durch die Lüfte fliegen. Und sicherlich wurde ihm manches Mal erst im letzten Moment klar, dass eine Vollbremsung notwendig wurde, wenn der entsprechende Schornstein bereits direkt vor’m Schnabel qualmte. Oi, oi, oi, war man hier nicht völlig falsch?! Vor sieben Jahren landete Adebar schon einmal hier, aber dieses Mal sollt’ doch nicht am Fachwerkhäuschen abgeliefert werden. Krankenhausgeburten waren inzwischen in Mode gekommen. Also umkehren und ab zum rechten Ziele, um dort die leidige Pflicht zu erfüllen. Zähneklappernd! Denn das Wetter in jenem März hielt eiskalte Temperaturen parat! Wirklich! Logisch, dass Flüge über solch frostklirrendem Gefilde eigentlich überhaupt nicht zumutbar waren. Gefahrenzuschläge oder Sondergratifikationen wird’s noch nicht gegeben haben.

Was war er froh, endlich das schreiende Etwas aus dem Schnabel lassen zu können, und er flog am ganzen Leibe klappernd wieder von dannen. Nein, ein einfaches Leben hatte er nicht! Hierher würde er auch ein weiteres Mal nicht mehr kommen. Es sollte auch keine Veranlassung mehr dazu geben, zwei Mädels waren genug!

Noch dazu reichlich nichtig, was da zum Vorschein kam aus dem Bündel, das Zweite, das Außerfahrplanmäßige. Ein Dingelchen „mit ohne“ Haare auf dem Kopf und viel zu untergewichtig!

Viel kleiner als sein großes Schwesterchen seinerzeit auf die Welt gekommen war. Welches im Übrigen zuhause ganz aufgeregt wartete, dass die Mutter mit dem Winzling endlich heimkam. Sie durfte nicht mitkommen, wenn der Vater sein zweites Töchterchen ankucken fuhr. Was er wirklich oft auch gar nicht tat. Wie schon mehrfach erwähnt, mangelnde Zeit durch vorrangiges Wirtschaftswunder! Möglicherweise auch deshalb, weil’s halt doch kein Stammhalter geworden war?

Oma und Opa hatten auch die Ruhe weg: „Es kommt schon früh genug! Wart’s ab!“, sagten sie zum quengelnden Enkelkind. Sie sollten recht behalten, denn mit der Ruhe war’s vorbei, als es dann kam, das Hildchen.

Schweinefüttern und die Hebamme

Schweinefüttern und die Hebamme

 

So hatte ich den Dingen vorgegriffen, lang und breit die Ankunft des zweiten Kindes geschildert. Aber wie war das denn nun mit der großen Schwester gewesen?

 

Im Dezember 1957 bemerkte die Mutter zum ersten Mal dieses Ziehen im Bauch. Der Storch musste sie wohl hineingepickt haben?! Vielleicht wollte er, dass die Luft entwich? Denn mit der Zeit war dieser Bauch ja schon sehr dick und rund geworden. Wie ein Ballon! Was vom vielen Essen gekommen sein sollte, wie immer behauptet wurde. Junge, Junge, da war aber wirklich viel in sich hineingestopft worden!

Sie hatte ja noch keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet, aber es fühlte sich fürchterlich an, nahezu bedrohlich. Machte Angst und Sorge! So hievte sich die werdende Mutter mit dem Luftballon nahe dem Gedärm hoch von ihrem Platze an der Nähmaschine. Dort, wo sie Kleider nähte und Flickwerk erledigte für Leute aus dem Dorf, die dann oft nicht gleich dafür bezahlen konnten. Oder wollten, und ewig musste hinter dem Geld her gerannt werden. Worüber der Vater jedes Mal sehr ärgerlich war, und die Mama den Kopf einzog, weil sie sich schämte.

Warum tat sie das denn? Sie konnte doch nichts dafür, wenn die Leute ihr Lügen auftischten. Aber der Vater sagte halt, sie müsse härter werden im Nehmen! Sie müsse lernen, sich kein X für ein U vormachen zu lassen! Basta!

 

Die Mama hat’s nie gelernt, sie kam einfach nicht klar mit diesen Buchstaben. Der Opa ging dann halt hin, nahm die Sache in die Hand. In die kriegte er auch gleich die paar säumigen Groschen hinein gezahlt. Mit Ausreden kam ihm so schnell keiner daher, aber er brauchte dafür nicht mal rabiat zu werden. Er hatte es mit der Diplomatie, immerhin sollte er später sogar der Bürgermeister des Dörfchens werden.

 

Aber nun gab es nichts herumzulavieren, da half auch die Nähmaschine nicht. In Mutters Bauch zwickte es hundsgemein. Wo waren sie nur alle? Da geschah doch etwas! Aber was?

Dr. Sommers Bekanntschaft hatte die junge Ehefrau nie gemacht, dennoch war ihr instinktiv klar, was in den Bauch hineingekommen war, das musste irgendwann und irgendwie dort auch wieder raus. In der Regel geschah jenes neun Monate später. Man würde es schon merken. Die Zeit war definitiv abgelaufen, und das, was sie merkte, war einfach unmöglich, es nicht zu bemerken.

Oder gar ignorieren zu wollen, weil man halt Angst hatte. Den Kopf in den Sand stecken, was auch nichts nützte. Es war soweit, und wenn es denn so war, hatte man die Hebamme zu rufen.

Aber darum musste sie schleunigst ihre Schwiegermutter bitten. Welche im Stall aufzufinden war, beim Schweinefüttern. Ganz dämmrig dort, der Boden schmierig, außerdem roch es fürchterlich. Dieser Gestank hatte der Schwangeren die ganzen neun Monate über schwer zu schaffen gemacht, aber sie solle sich halt nicht so anstellen. Schweigend leidend hatte sie alles hingenommen, wie so manches in ihrem Leben. Es nutzte ja nichts!

 

„Was iss denn luuus?“, rief die werdende Großmutter, gestört in ihrem emsigen Tun und ohne einen Blick von den grunzenden und quiekenden Borstenviechern zu lassen, die sich wie toll gebärdeten, weil Fresschenzeit war.

„Ich glaube, es geht los?!“

„Wos? Nuuu? Das passt jezz net!“ wurde festgestellt, und wenn die Oma das so anschaffte, dann hatte es auch so zu sein. Punkt!

„Ja, ich weiß doch auch nicht genau!“ Nun heulte sie beinahe, die Mutter. Weil’s doch so wehtat und weil’s so stank im Stalle, und weil alle ihr immer nur das X zeigen wollten, oder das U.

„Geh huch unn lai dich ins Bette nei! Ich kumm dann glich unn guck mir das an!“, erklang das feinste Dorfplatt. „Erst muss das Viech gefüttert werden!“ Basta!

Still schlich die Gebärende von dannen, krümmte sich aufs Ehebett, wo sie wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Eine Faust vor den Mund gepresst, schaute sie mit ständig wiederkehren Wehen auf die hölzerne Kinderwiege, die da bereits stand, in der Ecke. Irgendwie freute sie sich ja auch, wenn sie das bestickte weiße Kissen betrachtete, worunter das Baby bald schlafen sollte. Dort hatte schon sein Vater gelegen, wahrscheinlich auch einst dessen Vater.

 

Irgendwann kam dann die Schwiegermutter, trug immer noch die beschmutzte Schweinefütterschürze. Aber sie sah, dass was im Gange war und entschied, nach der Hebamme zu schicken. Das übernahm der werdende Großvater, der sich geschwind seinen Hut auf die Glatze setzte und loseilte. Es war ihm mehr als recht, hinauszukommen. Diese Frauengeschichten waren eben … Frauengeschichten. Da hielt man sich besser fern, was der werdende Vater instinktiv auch verspürt haben musste. Der kam nämlich erst sehr spät zurück an diesem Tag, als alles schon vorbei war. Ein Telefon gab es in jenen Tagen noch nicht im Fachwerkhäuschen. Das wurde erst später angeschafft. Nämlich, als der Großvater Bürgermeister wurde und sogar ein eigenes kleines Dorfbüro im Hause einrichtete, extra für seine Tätigkeit. Im Übrigen war er Schneidermeister, genauso wie seine Schwiegertochter.

Die plagte sich nun sehr, ihr erstes Kind auf die Welt zu pressen, umgeben von einer resoluten Hebamme und ebensolcher Schwiegermutter. Von Händchenhalten und sanftem Zuspruch hielt man nicht so viel. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren und ja keine sentimentalen Gefühlsreaktionen herbeizurufen. Kinderkriegen gehörte zum Lauf der Zeiten, nur keine Überflüssigkeiten! Bei den Schweinen im Stall klappte das auch ganz reibungslos, meistens sogar ohne Hebamme. Wenn überhaupt es nötig werden sollte, dann kam der Mann aus dem Dorf zur Hilfe, der einige Monate später wiederkommen würde. Aber dann zu entgegengesetztem Zwecke! Was einem total kurios erscheinen mochte, zuerst kam er als Geburtshelfer und half den Viechern auf die Welt. Später dann nach einem kurzen aber heiteren Schweineleben kam er wieder, um sie abzumurksen. Denn das war seine eigentliche Eigenschaft, Dorfmetzger zu sein.

Aber wenn man ein Kind war, durchblickte man manch Hintergründe vielleicht nicht so genau. Man war halt ein wenig dumm. Sei’s drum!

Irgendwie brachte also die Mutter am bitterkalten Dezembertag ihr erstes Kind zur Welt, ein Mädchen! Meine große Schwester! Aber davon konnte ich zu jenem Zeitpunkt noch überhaupt nichts wissen.

Weil man von mir ja erst recht nichts wusste, noch nicht einmal ahnte. Jetzt kam sie erst mal an die Reihe, und das noch vor Weihnachten!

Also stimmte es schon, was hineingekommen war, das kam auch wieder heraus, und der Bauch wurde zusehends dünner.

Obwohl es ja längst keine karge Nachkriegszeit mehr war. Die sieben Hungerjahre waren vorüber, Eltern und Großeltern hatten sie erlebt. Nun galten fette Zeiten, hurra! Satt wollte man sein und bleiben. Konsum guter Butter und echten Bohnenkaffees, helles Weizenmehl nun auch im Brot, und die Amerikaner erfanden den Toast. Das schmeckte lecker, ganz besonders mit Omas selbstgemachter Erdbeermarmelade!

„Fresswelle“ und „Wohlstandsbäuche“, so ähnlich war es auch bei den Schweinen.

Das Leben war in Wallung gekommen, die gegenwärtige Generation arbeitete an der Erschaffung einer neuen. Wie zu allen Zeiten, aber jetzt ganz besonders, denn gerade Wirtschaftswunder benötigten eine Zukunft, also Kinder.

Der Anfang war nun gemacht im Fachwerkhäuschen. Dann geschah lange Jahre nichts. Sieben Jahre wohlgemerkt, bis der gute alte Onkel Adebar sich noch einmal aufmachte in abgelegene Gefilde und das Außerfahrplanmäßige brachte … das Hildchen.