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Betty J. Viktoria

Mein Freund, der Fuchs


Für Sabrina und Aleks, deren Geschichte noch viel unglaublicher ist


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1.

Das Klingeln des Telefons bedeutete in der Regel nichts Gutes. Das hatte ich gelernt, als eines Tages kurz nach meinem 14. Geburtstag aus heiterem Himmel mein Vater angerufen hatte, um eine merkwürdige Mitteilung zu machen. Zwar richtete sich diese in erster Linie an meine Mutter, der er mitteilte, dass er sie betrogen hatte und sie verlassen würde. Doch indirekt war davon ja auch mein Leben betroffen. Niemand wollte so etwas am Telefon erfahren. Genau genommen wollte niemand so etwas überhaupt erfahren, doch dagegen war man machtlos. Mein Vater hatte beschlossen, dass ihm das Leben mit meiner Mutter und mir nicht mehr genügte, wie er es sagte. Er sehnte sich nach mehr-was auch immer das sein sollte. Meiner Meinung nach hätte er vielleicht die Reihenfolge seiner Sehnsucht überdenken können. Wenn wir ihm nicht mehr gut genug wären, hätte er uns erst einmal verlassen können. Natürlich wäre das bescheuert und schmerzhaft gewesen, doch so kamen wir uns hintergangen und belogen vor. Was er ja auch mit uns gemacht hatte. Sich einfach in die Arme einer anderen Frau zu stürzen, das fand ich hinterhältig und feige. Ohne eine neue Frau hatte er es sich wohl gar nicht getraut, einen Schlussstrich unter unser gemeinsames Leben zu ziehen.

 

Was erschwerend hinzukam war, dass auch seine neue Flamme eigentlich noch verheiratet war. Im ganzen Ort wurde daraus sogar ein kleinerer Skandal, denn irgendwie kannten sich die meisten Leute hier ja doch noch. Meine Mutter und ich bekamen mitleidige Blicke, wenn wir einkaufen gingen. Deshalb fuhren wir eine Weile lang mit dem Auto einen Ort weiter. Doch dann wurde es uns irgendwann egal. Einige Bekannte sprachen uns auch direkt darauf an, was passiert war. Eigentlich konnte ich ihnen das auch nicht übel nehmen. Zwar waren Trennungen inzwischen nichts ganz so Aufregendes mehr, doch so stillos, wie mein Vater es veranstaltet hatte, regte es viele Leute eben doch sehr auf. Doch das legte sich mit der Zeit auch wieder. Wenn die Menschen alles wussten, was sie interessierte, gab es nichts mehr, worüber sie reden konnten. Dann mussten neue Themen her und die waren meist schnell gefunden.

 

Meine Mutter versuchte mir immer wieder einzureden, dass mein Vater nicht mich verlassen hatte, sondern bloß sie. Aber das glaubte ich ihr nicht. Außerdem war er de facto auch aus meinem Leben verschwunden und nicht nur aus ihrem. Wir waren als Familie zerbrochen, unser kleines Team gab es nicht mehr. Nun ja, es war eben noch kleiner geworden. Wie konnte sie behaupten, dass das nichts mit mir zu tun hatte. Er hatte sich doch ganz entschieden von uns beiden abgewandt. In einer Familie gab es doch mehr, als nur die Eltern. Ich gehörte genauso dazu und war genauso verlassen worden. Ob ich etwas dafür konnte, war mir relativ egal. Er hatte einfach nicht gehen sollen. Ohne eine Vorahnung war er verschwunden-in die Arme einer anderen Frau. Keine Ahnung, ob meine Mutter etwas geahnt hatte. Sie beteuerte mir gegenüber, dass es für sie genauso schockierend und überraschend kam. Das glaubte ich ihr eigentlich auch. Natürlich hatte ich nicht alle Geheimnisse meiner Eltern gekannt, aber es hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als wäre etwas schief gelaufen. Und genau deshalb saß der Schock auch besonders tief. Aus unserer vermeintlich heilen und relativ normalen Familie war innerhalb von Sekundenbruchteilen ein Patchwork-Albtraum geworden, der jede Nachmittagsserie im Fernsehen in den Schatten gestellt hatte. Mein Vater mit einer neuen Frau, die noch verheiratet war-genau wie er. Mit Kindern, wie auch er eines hatte, nämlich mich. Mein Kopf schwirrte noch immer, wenn ich darüber nachdachte.

 

Mit dem Scheitern unserer Familie zogen wir aus unserem Haus aus. Mama und ich fanden eine kleine Wohnung, wobei das Wort klein eigentlich noch beschönigend war. Es handelte sich um eine winzige Wohnung, deren Wände deprimierend dünn waren. Das Wohnzimmer bestand praktisch nur aus einem schmalen Schlauch. Auf der einen Seite hatten wir ein Sofa an die Wand gestellt und auf der anderen Seite hing der Fernseher. Der Platz dazwischen hatte kaum für einen Abstelltisch gereicht. Mein eigenes Zimmer hatte wenigstens einen schöneren Schnitt, auch wenn es mit einem Bett, Schank und Schreibtisch komplett ausgefüllt war. So lernte ich eben, mich auf das Nötigste zu beschränken. Allerdings hatte meine Mutter auch nicht viel mehr Platz. Unsere Zimmer waren ungefähr gleich winzig. Das Bad verfügte nicht einmal über ein Fenster, von einer Badewanne wagte ich momentan nicht einmal zu träumen. Und die Küche bot uns glücklicherweise die Möglichkeit, im Sitzen auf zwei Barhockern an einem Klapptisch zu essen. Wir hatten uns schnell darauf verständigt, das Sofa zu unserer neuen Essgelegenheit umzufunktionieren. Das war wesentlich bequemer und nicht ganz so erdrückend, wie die Hocker in der Küche, die mich eher an eine erweiterte Kochnische erinnerte.

 

Mein Vater hatte sich für sich und seine neue Freundin ein Reihenhaus gekauft, in dem sie zu zweit sicher mehr als genug Platz hatten. Gelegentlich lungerten dort auch ihre beiden Töchter herum, von denen ich mich möglichst fernhielt. Allerdings gab mir die neue Frau auch nie das Gefühl, ansatzweise willkommen zu sein. Sie behandelte mich wie eine Fremde, einen Eindringling und schikanierte mich bei jeder Gelegenheit. Selbst vor meinem Vater machte sie mich ganz offen schlecht, beschwerte sich über mein Verhalten, was sie der schlechten Erziehung durch meine Mutter schuldete. Und wenn sie gar nicht weiter wusste, begann sie einfach, auf Knopfdruck zu weinen. Es war mir ein Rätsel, was mein Vater an dieser Person fand. Sie war im Vergleich zu meiner vielleicht manchmal etwas rauen Mutter einfach nur ein nervliches Wrack, das immer total hilflos wirkte.

 

Ja, das Klingeln des Telefons. In diesem Fall war es glücklicherweise nur meine Mutter, die mir mitteilen wollte, dass sie später nach Hause kam. In letzter Zeit kam das häufiger mal vor. Ich hätte aber nicht behaupten können, dass mich das besonders gestört hätte. Solange sie mit Freunden unterwegs war, war sie wenigstens abgelenkt und hatte hoffentlich ihren Spaß. Außerdem war ich dann in unserer Wohnung ungestört und hatte meine Ruhe. So konnte ich es mir mit meinem Lieblingsessen vor unserem Fernseher gemütlich machen und selbst entscheiden, welches Programm lief. Man sollte sich ja auch über die kleinen Dinge im Leben freuen.

2.

 

Der schönste Tag der Woche war meiner Meinung nach schon immer Freitag. Der Stress der Woche lag hinter einem, das Wochenende stand noch in aller Ruhe bevor. Keine nervige Schule, kein frühes Aufstehen und keine Verpflichtungen. Daran konnte man sich gewöhnen. Aber noch etwas machte den Freitag zu meinem Lieblingstag: Der Reitunterricht. Nach der Schule traf ich mich mit meiner besten Freundin Finja die nur ein paar Straßen weiter wohnte. Daran hatte sich glücklicherweise auch nach dem Umzug meiner Mutter und mir nicht viel geändert. Wir lebten schließlich noch immer im gleichen, überschaubaren Ort. Allerdings wohnte Finja noch immer mit ihrer intakten Familie in einem schönen Haus. Das war einer der Gründe, warum ich gern bei ihr war. Es hatte sich nichts verändert, sondern war noch so, wie ich es kannte. Gemeinsam radelten wir dann weiter in den Stall. Es hatte sich irgendwie so einpendelt, dass ich sie abholte. Schon unterwegs kamen wir aus dem Quatschen meist nicht mehr heraus. Zwar sahen wir uns auch jeden Tag in der Schule, doch wie viel Zeit hatte man dort schon zum Reden? Definitiv nicht genug, fanden wir. Und obwohl wir uns eigentlich täglich sahen, hatten wir immer ein spannendes Thema.

 

Im Gegensatz zu mir besaß Finja schon lange ein eigenes Pferd. Wir hatten mit sieben Jahren zusammen angefangen zu reiten und schon drei Jahre später hatte Finja von ihren Eltern Vilano bekommen. Er war ein pechschwarzes Deutsches Reitpony, von dem alle dachten, dass sie ihm bald entwachsen wäre. Doch Finja blieb relativ klein und schlank, so dass sie mit 14 Jahren noch immer super auf Vilano aussah. Die Beiden waren ein unschlagbares Team in jeder Hinsicht. Wenn ich jemals ein eigenes Pferd hätte haben sollen, dann musste es zu mir genauso gut passen, wie Vilano zu Finja. Das war mein Traum.

 

Wir erreichten den Stall und steuerten die Boxen an, in denen unsere Pferde standen. Vorher musste ich einen kurzen Blick auf das Schwarze Brett werfen. Dort hing unsere Reitlehrerin Alexandra aus, welches Mädchen welches Pferd im Reitunterricht reiten durfte. Eigentlich gab es dabei selten eine Überraschung. Schon seit Monaten ritt ich genau genommen jede Woche den braunen Wallach Waxy. Er war ein schönes, unaufgeregtes Pferd, auf dem ich viel gelernt hatte. Gelegentlich erlaubte Alexandra mir sogar, ihn außerhalb der Reitstunden zu reiten. Dann konnte ich mich mit Finja verabreden und wir gingen zusammen auf den Reitplatz oder in die Halle. Ich wusste, dass das sehr großzügig von Alexandra war und freute mich jedes Mal auf diese Tage, an denen ich außerhalb des Unterrichtes aufs Pferd kam. Allzu viele Gelegenheiten dazu hatte ich nämlich nicht. Für Vilano war ich einfach schon zu groß und vermutlich auch fast zu schwer. Abgesehen davon wusste ich auch gar nicht, ob Finja mich auf ihm hätte reiten lassen. Auch an diesem Tag gab es bei der Einteilung der Pferde keine Überraschung. Mein Name stand wie fast immer neben dem von Waxy, so dass ich sein Putzzeug holte, und mich an die Arbeit machte. Wir waren in der ersten Reitgruppe am Nachmittag, so dass unsere Aufgabe darin bestand, die Pferde zu putzen und fertig zu machen. Finja besaß mit Vilano als einziges Mädchen aus unserer Gruppe ein eigenes Pferd. Glücklicherweise stand Waxy direkt in der Box gegenüber, so dass wir auch hier im Stall unser Gespräch weiterführen konnten. In letzter Zeit hatten wir uns viel über das Chaos in meiner Familie unterhalten. Das tat mir meistens gut, konnte aber auch ziemlich nervenaufreibend sein. Wenigstens hatte ich in Finja eine Freundin, die mich wirklich verstand und eindeutig auf meiner Seite stand. Denn als ob alles nicht schon schlimm genug wäre, ging die jüngere Tochter der neuen Freundin meines Vaters seit kurzer Zeit auch noch in unsere Klasse.

 

Beim Reiten selbst hatte ich endlich mal keine Sorgen im Kopf. Wenn ich auf Waxys Rücken saß, konzentrierte ich mich ganz auf ihn. Dann wollte ich keinen Gedanken an etwas Negatives verschwenden, sondern mein Bestes geben. Er hatte meine ganze Aufmerksamkeit verdient. Und tatsächlich vergaß ich in dieser Zeit auch immer alles andere um mich herum. Unsere Reitstunde gehörte ganz uns und ich ließ sie mir durch nichts kaputtmachen. Außerdem wollte ich Alexandra zeigen, wie gut ich war. Das war nicht immer ganz einfach, wenn sich das Reiten auf eine wöchentliche Stunde beschränkte. Aber ich hoffte immer noch darauf, eines Tages eine Reitbeteiligung auf einem ihrer Pferde zu erhalten. Vielleicht ja sogar auf Waxy. Dafür, dass ich so selten aufs Pferd kam, stellte ich mich nämlich gar nicht so schlecht an-das sagte Alexandra schließlich selbst oft genug. An diesem Tag forderte sie uns ordentlich. Es war ein Frühlingsnachmittag, der Himmel bedeckt und wir waren deshalb für die Reitstunde in die Halle gegangen. Obwohl wir eigentlich recht sattelfest waren, übertrieb Alexandra es manchmal mit ihrer Sorge um uns, und ging nur auf den Platz mit uns, wenn es wirklich heiß und draußen ruhig war. Aber das war mir egal, denn auch so genoss ich jede Sekunde auf Waxy. Er war schon sehr locker und bot von sich aus viel an. Ich war froh, dass wir diese erste Reitstunde am Freitag für uns hatten. Dann war vor mir noch niemand planlos auf seinem Rücken herumgeschaukelt. Ich konnte richtig mit ihm arbeiten, was Alexandra auch von uns verlangte. Wir ritten inzwischen alle schon ohne Hilfszügel in unserer Gruppe und verbesserten uns weiter fleißig. Natürlich sah Finja auf ihrem Vilano besonders gut aus, aber sie ritt ihn ja auch täglich und als einzige. Außerdem wusste ich, dass es auch für sie harte Arbeit war. An manchen Tagen hatte der schwarze Wallach nämlich absolut keine Lust, mitzuarbeiten. Alexandra ließ uns viele Übergänge reiten, damit unsere Pferde weich an den Paraden wurden. Ich spürte, wie Waxy butterweich auf den minimalen Druck meines Schenkels reagierte, als wir ein paar Übergänge hinter uns gebracht hatten. Vielleicht könnte ich ihn sogar aus dem Schritt angaloppieren. Tatsächlich ließ uns Alexandra bald darauf Schritt-Galopp-Übergänge reiten. Waxy machte das sehr schön und wir wurden von unserer Reitlehrerin für unsere Leistung gelobt. Auch ihr fiel auf, dass wir ein gutes Team waren. Hoffentlich würde sie das berücksichtigen, wenn sie das nächste Mal eine Reitbeteiligung für ihn suchte. Momentan hatte ein anderes Mädchen nämlich dieses unverschämte Glück.

 

Nach unserer Reitstunde musste ich Waxy ausgerechnet an dieses Mädchen weitergeben. Er tat mir leid, weil er nach seiner schönen Stunde nicht einfach in die Box gehen konnte. Und natürlich tat ich mir auch selbst leid, weil ich ihn gern für mich allein gehabt hätte. So folgte ich Finja, die ihren Vilano in den Stall brachte. Es fühlte sich immer falsch an, das Pferd, das man gerade noch geritten war, einfach weiterzugeben. Vielmehr gehörte es sich doch so, dass man es auch nach dem Reiten versorgte. Aber Waxy hatte noch etwas Bewegung vor sich. Für ihn war der Freitag wahrscheinlich nicht ganz so entspannt, wie für mich.

„Das sah super aus bei euch“, meinte Finja zu mir, als sie Vilano absattelte.

„Danke, es lief heute wirklich gut“, strahlte auch ich.

Wenn auch noch die Reitstunde so toll war, dann genoss ich den Freitag noch viel mehr.

„Bei dir läuft Waxy einfach ganz anders, als bei den anderen Mädchen“, fand Finja.

„Wie meinst du das?“, hakte ich nach.

„Er sieht gar nicht mehr aus, wie ein Schulpferd, sondern richtig elegant.“

„Waxy ist ja auch ein sehr elegantes Pferd“, gab ich zu bedenken.

„Das kommt darauf an, wer ihn reitet“, behauptete Finja weiter und wusch Vilanos Trense ab.

„Wenn seine Reitbeteiligung ihn reitet, dann läuft er wie eine Badewanne.“

Ich konnte mir nicht direkt etwas darunter vorstellen, aber ich freute mich trotzdem über das Kompliment, dass ich anscheinend besser ritt.

„Nein, wirklich“, beharrte Finja. „Es tut ihm ganz offensichtlich gut, wenn er von dir ordentlich bewegt wird.“

„Ich hoffe, Alexandra sieht das auch so“, murmelte ich vor mich hin.

„Das glaube ich schon“, meinte Finja.

 

Mit einem Blick auf mein Handy stellte ich fest, dass ich eine Nachricht von meiner Mutter bekommen hatte. Sie blieb auch an diesem Abend länger weg, wie sie mir mitteilte. Erstaunt las ich den Text ein paar Mal.

„Ist alles in Ordnung?“, wollte Finja wissen.

„Wenn ich das wüsste.“

Sie nahm mir das Handy aus der Hand und las den Text ebenfalls. Dann verzog sie das Gesicht und sah mich fragend an.

„Sie bleibt länger weg?“

Ich nickte nur und dachte nach. In letzter Zeit war das häufiger vorgekommen. Aber warum auch nicht. Sollte sie wie eine verlassene Frau zu Hause auf dem Sofa sitzen, Chips essen und sich in ihrer Trübsal ergehen? Diese Tage hatten wir durchaus auch gemeinsam erlebt, so war es ja nicht. Aber dass sie wieder häufiger mit ihren Freunden unterwegs war, hatte ich eigentlich positiv gedeutet. Andererseits stand da nichts von ihren Freunden.

„Wahrscheinlich lenkt sie sich nur ein bisschen ab“, meinte Finja schulterzuckend.

„Ich hoffe mal nicht, dass sie sich gleich einen neuen Mann sucht“, sprach ich endlich aus, was meine eigentliche Sorge war.

„Das wäre ziemlich schnell“, fand Finja. „Aber dein Vater war ja auch sehr schnell.“

Da hatte sie allerdings Recht. Ob meine Mutter nun auch verzweifelt einen neuen Partner suchte. Bloß, um nicht allein zu sein? Oder um meinem Vater zu zeigen, dass sie andere Männer haben konnte? Das war mir alles viel zu kompliziert und außerdem viel zu schnell. Darüber, dass noch ein neuer Mensch in meinem Leben auftauchen könnte, hatte ich noch nicht nachgedacht. Das wäre doch völlig absurd.

„Möchtest du vielleicht mit zu mir kommen?“, schlug Finja vor, als sie ihren Sattel wegbrachte und ich ihr noch immer wie ein verwirrter Hund folgte.

„Ja, gerne, danke“, meinte ich und wir gingen weiter zu unseren Fahrrädern.

Ein bisschen Normalität bei Finjas Familie zu tanken würde mir gut tun. Und es war allemal besser, als zu Hause zu sitzen, auf meine Mutter zu warten, und mir unmögliche Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen. Es war schon schlimm genug, dass mich diese Nachricht ausgerechnet im Stall erreicht hatte. Genau hier wollte ich von all dem Ärger meine Ruhe haben. Ich beschloss, mein Handy im Stall auszuschalten, wenn ich das nächste Mal da wäre.

 

Bei Finja zu Hause war immer viel los. Sie hatte gleich drei kleine Geschwister, die immer alle auf Trab hielten. Ich genoss das Leben bei ihr schon seit ich sie kannte. Es hatte mich nie gestört, sondern eher fasziniert, wie alles bei ihr ablief. Natürlich gab es auch Chaos, aber wo gab es das nicht? Wir stellten unsere Reitstiefel im Windfang ab und wurden sofort von der Rasselbande begrüßt. Auch Finjas Mutter freute sich, mich zu sehen. Sie war eine der längsten Freundinnen meiner Mutter und kannte daher auch mich schon mein ganzes Leben lang. Obwohl sie mich immer ehrlich fragte, wie es mir ging, tat ich ihr gegenüber meist cooler, als ich es war. Sie würde garantiert mit meiner Mutter darüber reden und die müsste sich nicht unnötig Sorgen um mich machen. Daher versuchte ich immer, besonders gelassen mit meiner neuen, schrägen Situation umzugehen, wenn ich bei Finja war. Jedenfalls, solange ihre Mutter in der Nähe war. Das Abendessen bei Finja war immer der Höhepunkt des Tages, denn dann kamen alle am riesigen Esstisch zusammen. Selbst ihr Vater richtete es fast immer ein, pünktlich zu sein. Es fühlte sich einfach nur großartig an, dabei zu sein. Fast, als gehörte man selbst dazu. Finja und ich rissen uns schnell ein paar Leckerbissen unter die Nägel, bevor ihre Geschwister richtig zuschlugen. Für ihr Alter konnten sie schon Unmengen an Essen verdrücken. Vor allem ihr jüngerer Bruder, der besonders gierig war-ganz egal, wie oft seine Mutter ihm versicherte, dass genug für alle da wäre.

„Wie bei einer richtigen Löwenfamilie“, lachte Finjas Vater dann immer.

 

Nach dem Essen zogen Finja und ich uns auf ihr Zimmer zurück. Ihre Mutter brachte uns sogar noch einen Nachtisch hinauf und wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich. Aber obwohl ich diese Abende mit meiner besten Freundin genoss, spukten mir diesmal die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Ich wollte mir einfach nicht ausmalen, was das schon wieder für mein Leben bedeutete, wenn meine Mutter wirklich einen neuen Mann kennenlernte. Finja versuchte zwar, mich zu beruhigen, aber das gelang ihr kaum. Inzwischen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob meine Mutter mich darüber informieren würde, wenn sie einen neuen Mann hätte. Vielleicht übertrieb ich in dieser Hinsicht aber auch ein wenig. Das war insofern nicht weiter verwunderlich, als dass unsere familiäre Situation momentan wirklich alle Vorstellungen sprengte. Zumindest in diesem Punkt musste Finja mir Recht geben. Nicht einmal im Fernsehen gab es so verrückte Verhältnisse. Deshalb wäre ich auch am liebsten bei meiner Freundin geblieben. Aber ich wusste ja, dass meine Mutter früher oder später nach Hause kam, und dann natürlich erwartete, dass ich da wäre.