Pamelo und die alte Lokomotive

 

 

Mirjam Wyser

 

 

Pamelo und die alte Lokomotive

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Illustrationen & Coverbild: Étienne Pascal

Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag

Druck und Bindung: SDL, Berlin

 

ISBN 978-3-945509-49-4

 

 

Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen beim Franzius Verlag

Hermann-Ritter-Str. 114, 28197 Bremen

 

Copyright © 2015 Franzius Verlag, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

 

 

 

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

 

Das Hotel

Die Musiker

Marcello

Der schwarze Engel

Der Musikengel

Das Blockhaus

Pamela

Fee Benula

Die Lilie

Die alte Dampflokomotive

Fahrt in eine unbekannte Welt

Die verlorene Stadt

Unterirdischer Gang

Der König

Zenobio der Böse

Das Hotel in der verlorenen Stadt

Neues Leben

Der Lichterbaum

Der Steinbruch

Zwei Schwestern

Die Engelsburg

Die Kristallkugel

Das Eismeer

Am Morgen

Einweihung von einem Spielplatz

Der Bruder

Weitere Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

Das Hotel

 

Durch die heranbrechende Nacht fährt ein kleiner Zug. Nur noch die letzten Kurven, bis er das Ziel erreicht hat. Pamelo ist der letzte Passagier. Er schaut mit leerem, traurigem Blick aus dem Fenster. Es hat angefangen, leicht zu schneien. Von der Lokomotive kommt ein lautes Zischen. Mit einem leichten Ruck hält der Zug an. „Endstation, alles aussteigen!“, tönt es durch den Lautsprecher. Pamelo öffnet die Waggontür und tritt auf den verschneiten Bahnsteig.

 

Es gibt nichts Verlasseneres auf der Welt als dieser einsame Bahnhof. Auf dem Rücken angehängt trägt er den Koffer mit seinem Saxofon. In der Hand hält er einen zweiten Koffer mit all seinen Habseligkeiten. Als er den Bahnhof verlässt, weht ihm ein kalter Wind entgegen. Er stellt den Mantelkragen hoch und stampft durch die verschneite Straße. In der Zwischenzeit hat es noch stärker angefangen zu schneien. Pamelo zieht seine Mütze noch tiefer ins Gesicht. Die kleine Stadt wirkt menschenleer. „Nicht mal einen Hund würde man bei diesem Wetter auf die Straße schicken!“, murmelt Pamelo vor sich hin. Aus einer Kneipe ertönt lautes Gelächter. Über dem Eingang steht mit verschnörkelter Schrift: „Hotel zum funkelnden Kristall“.

 

Der Verschneite stößt die Tür auf, schüttelt den Schnee ab und betritt das Wirtshaus. Das Lachen verstummt. Die Augen der Anwesenden heften sich auf den späten Gast. Er hat die ungeteilte Aufmerksamkeit. Um diese Jahreszeit kommen keine Fremden in diesen Ort. Bei einem heftigen Schneefall ist das kleine Städtchen oft nicht einmal mit dem Zug erreichbar. Plötzlich ruft einer: „Das ist ja Pamelo! Alter Freund, wie geht es dir? Wo ist Marcello, dein Freund?“

 

Pamelo grüßt kurz, beinahe unhöflich. Er wirkt kaltschnäuzig. Auf die Frage gibt er keine Antwort. Er wendet sich ab, damit niemand sieht, dass Tränen in seine Augen schießen. Er mag mit niemandem sprechen und wendet sich direkt dem Wirt zu: „Ich brauche ein Zimmer. Am liebsten hätte ich die Mansarde mit dem Dachfenster!“ Der Wirt schaut ihn erstaunt an, nickt dann zustimmend: „Das Zimmer ist frei, aber schlecht geheizt! Ich habe auch komfortablere Zimmer frei!“ Pamelo winkt ab. „Ich nehme die Mansarde!“ Der Wirt zuckt etwas ungläubig die Schultern und meint lächelnd: „Wie Sie wollen! Der Kunde ist König!“ Er überreicht Pamelo den Zimmerschlüssel. „Ich kenne den Weg!“, gibt Pamelo zur Antwort. Mit schweren Schritten steigt er die Treppe hoch, in den zweiten Stock. Plötzlich kann sich der Wirt wieder an den Musiker erinnern. Pamelo hört noch, wie Wirt und Gäste leise über ihn flüstern: „Dem armen Musikanten sieht man an, wie sehr er leidet!“

 

Im Korridor ist es kalt und finster. Plötzlich ist der Gang zu Ende. Pamelo stößt eine weitere Tür auf. Kein Licht brennt. Vorsichtig tappt er die drei Treppenstufen hoch, die zur Mansarde führen. Einen Augenblick verharrt er und hat das Gefühl, ein Schatten husche an ihm vorbei. „Hier ist es wie im Spukhaus!“, brummt er vor sich hin. Pamelo tastet vorsichtig nach dem Türgriff. Er hat Mühe, das Schlüsselloch zu finden. Nach drei, vier Versuchen lässt sich die Tür öffnen. Durch das Dachfenster wird der Raum etwas erhellt. In der Mansarde ist es wirklich kalt. Eisblumen bedecken das Dachfenster. Die Luft wirkt abgestanden. Offenbar wurde die Mansarde schon lange nicht mehr vermietet. Er stellt sein Gepäck in eine Ecke, sucht nach dem Lichtschalter, findet ihn aber nicht. Das Zimmer ist einfach möbliert. Ein Bett steht unter dem Dachfenster. In der abgeschrägten Ecke steht ein kleiner Tisch mit einem schmuddeligen Tischtuch. Ein Kerzenständer mit einer halb abgebrannten Kerze steht darauf. Er sucht nach Streichhölzern und zündet den Docht an. Das Licht beginnt zu flackern, erlöscht wieder. Erst beim dritten Versuch gelingt es, die Kerze anzuzünden.

 

Pamelo öffnet das Dachfenster, schaut zum Himmel. Große Schneeflocken fallen leise und setzen sich behutsam auf die Bettdecke. Er zieht Schuhe und Mantel aus, legt sich auf das Bett und deckt sich bis zum Hals zu. „Ich brauche diese kalte Luft. Mein Gehirn ist wie aufgeweicht, wie gelähmt! Geblieben sind mir nur Erinnerungen an eine schöne Zeit!“, denkt er schweren Herzens.

 

Einst gab es in dieser Stadt ein Sommerfest. Pamelo und Marcello wurden als Musiker eingeladen. Weil alle Hotelzimmer ausgebucht waren, hausten die beiden Freunde in dieser kleinen Mansarde. Damals lagen einfach zwei Matratzen auf dem Boden. Durch das Dachfenster beobachten sie manchmal den Himmel, wenn sie nach dem Rummel noch aufgewühlt waren und nicht einschlafen konnten.

 

Eine Viertelstunde mag vergangen sein. Durch einen sanften Windstoß wird die Kerze wieder ausgelöscht. Im verloschenem Licht sieht Pamelo einen schemenhaften Schatten. Er kommt direkt auf ihn zu und bleibt an seinem Bett stehen. Ein bisschen unheimlich zumute ist es ihm schon. „Marcello, bist du es?“, fragt er angespannt. Dann wird es ganz hell im Zimmer.

 

In einem Schleierkleid steht Marcello vor Pamelo in der Mansarde. Pamelos verstorbener Freund lächelt, winkt mit dem Finger, ihm zu folgen. Er kommt aus der Sternenwelt zu Besuch. Pamelo lächelt unter Tränen. Ein siebenfarbener Schleier weht. Hier blüht rot wie Abendröte die unsichtbare Welt. In Glut und Glanz erscheint ein Portal. Die beiden Freunde durchwandern ein Licht-Tor. Fünftausend Sterne leuchten über Marcellos Haupt, fünftausend Lotusblüten leuchten von unten und mittendrin steht Pamelo. Goldener Sternenglitzer fällt wie Schneeflocken über ihn. Aus dem Frieden der Ruhe formieren sich herrliche, zartfarbene Engel. Und eine Flöte spielt auf geheime Weise, man hört sie kaum. Die Engel tanzen in flockigem, silbernem Kleid zwischen Raum und Zeit. Diese Welt atmet Marcello wie ein Atemhauch. Pamelo erlebt etwas unbeschreiblich Schönes.

 

Dann äußert Marcello seinen Wunsch: „Mein lieber Freund, weine keine salzigen Tränen mehr! An diesem wunderbaren Ort lebe ich jetzt. Hier gibt es das Leuchten unter dem Licht und ein sanftes Singen unter dem Ton. Mehr zeigen darf ich nicht. Du musst deine Trauer um mich ablegen. Nichts ist für immer, wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Doch dann musste ich die Erde verlassen und mich auf eine neue Reise begeben.

 

Auch die Kinder werden eines Tages Erwachsen sein und das Elternhaus verlassen müssen. Die Reise durch das Leben müssen sie ebenfalls alleine gehen. Aber verbunden im Herzen sind sie immer mit den Eltern und anderen guten Menschen, welche sie durch die Kindheit getragen haben. Du darfst nicht mehr trauern. Ich wurde für eine bestimmte Arbeit in der Himmelswelt auserwählt. Auf dich warten auch noch viele Aufgaben und neue Begegnungen, auf der Erde. Gehe und suche deinen Halbbruder. Wenn du den Wunsch aufrichtig in deinem Herzen trägst, wirst du ihn finden. In den Gedanken und Träumen werden wir immer verbunden sein! Und nun schließe das Dachfenster, sonst erfrierst du noch!“

 

Später, sehr viel später weckt die Kälte Pamelo auf. Er wundert sich: das Dachfenster ist geschlossen. Eine dicke Schneeschicht liegt darauf. Er ist völlig verwirrt. Langsam kommt ihm das Traumerlebnis wieder in Erinnerung. War es nur ein Traum oder stand Marcello wirklich an seinem Bett? Er schaut auf die Uhr und ist überrascht, wie viel Zeit vergangen ist. Und dann sind sie wieder zum Greifen nah, all die Erinnerungen an seinen besten Freund. In seinen Gedanken durchlebt er die Geschichte nochmals.

 

Die Musiker

 

Viele Jahre zogen Pamelo und Marcello durch die Lande. Als beliebtes Duo gastierten sie in vielen Städten und Dörfern. Die Bühne war ihr Zuhause. Die Menschen liebten die Musik der beiden Künstler. Marcello spielte Gitarre und war der Sänger. Mit seiner wunderbaren Stimme brachte er in Kürze eine gute Stimmung in jedes Lokal. Pamelo komponierte und spielte Saxofon. Sie waren die besten Freunde.

 

Pamelo erinnert sich an den letzten gemeinsamen Auftritt an diesem Ort. In der kleinen Stadt waren sie der Gesprächsstoff Nummer eins. Die Stadtbewohner konnten kaum erwarten, bis es endlich Abend wurde.

 

Als es dunkel war und die Straßenlaternen brannten, strömten aus allen Gassen die Menschen ins Musiklokal. Die Tanzfläche wurde mit Scheinwerfern beleuchtet. Die Tischchen rings um die Tanzfläche waren schnell besetzt. Es wurde getanzt und gelacht. Das Publikum klatschte den Musikern Beifall. Marcello sang, wie er noch nie gesungen hatte. Plötzlich wurde ihm schwindelig. In den vergangenen Monaten hatte er sich oft unwohl gefühlt. Jeden Gedanken, dass er krank sein könnte, hatte er immer wieder zur Seite geschoben.

 

Was niemand sehen konnte, war, dass die Fee Benula an diesem Tag durch das Fenster dem Treiben der fröhlichen Gesellschaft zuschaute. Was sie wollte, das blieb vorerst ihr Geheimnis!

 

Der Mond stand schon hoch am Himmel, als sich die beiden Musikanten auf den Heimweg machten. Ihr Zuhause war ja für ein paar Tage die Mansarde im Hotel „Zum funkelnden Kristall“.

 

Marcello kam gerade noch heuchelnd die Treppen hoch, in die Mansarde. Pamelo musste das Schlüsselloch suchen. Marcello wartete ungeduldig, konnte kaum mehr stehen. Er schaute in den Flur zurück und hatte das Gefühl, dass ein Lichtschein auf ihn zukam. Er zögerte einen Augenblick. Um klar zu sehen, rieb er sich die Augen, doch der Lichtschein war verschwunden.