Inhalt

  1. Cover
  2. Was ist COTTON RELOADED?
  3. Über diese Folge
  4. Über die Autorin
  5. Titel
  6. Impressum
  7. 1
  8. 2
  9. 3
  10. 4
  11. 5
  12. 6
  13. 7
  14. 8
  15. 9
  16. 10
  17. 11
  18. Leseprobe

Was ist COTTON RELOADED?

Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichsten deutschen Romanserie JERRY COTTON.

COTTON RELOADED gibt es als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).

Über diese Folge

Doppelter Umfang! Doppelte Spannung! Der Beginn einer neuen Ära für COTTON RELOADED!

Das geheime G-Team des FBI ist alarmiert: In den USA steht anscheinend ein islamistisch motivierter Terroranschlag mit Biowaffen kurz bevor. Eine anonyme Mail führt nach Berlin. Der Special Agent in Charge Mr High entscheidet, dass Sarah Hunter in ihrer Funktion als Biologin und Chemikerin sofort nach Deutschland aufbrechen soll, während Cotton und Decker in New York ermitteln. Schon bald wird klar, dass die Gefahr viel größer ist als angenommen. Das G-Team kommt einer internationalen Organisation auf die Spur, die mit menschenverachtenden Experimenten die Welt zu verändern droht …

Perfekter Einstieg für alle, die schon immer mal einen COTTON-RELOADED-Roman lesen wollten: »Tödliches Finale« bildet den Auftakt für die neue Serie COTTON RELOADED – NEMESIS. Mit dieser Folge in doppelter Länge möchten wir uns auch bei allen Lesern bedanken, die »Cotton Reloaded« so begeistert aufgenommen haben und der Serie seit mehr als vier Jahren treu geblieben sind!

Über die Autorin

Nadine Buranaseda, Jahrgang 1976, ist gebürtige Kölnerin mit thailändischen Wurzeln väterlicherseits. Sie studierte Deutsch und Philosophie in Bonn und wurde im Hörsaal entdeckt: Für einen ihrer letzten Scheine durfte sie einen Kurzkrimi schreiben, den ihr Professor einem Verlag vorgelegt hat. 2005 veröffentlichte sie ihren ersten Krimi – einen Jerry-Cotton-Roman, dem mehr als ein Dutzend folgten. 2007 wurde sie für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert. Mit »Seelengrab« und »Seelenschrei« erschienen 2010 und 2012 ihre psychologischen Ermittlerkrimis. 2011 war sie Stipendiatin des Tatort-Töwerland-Krimistipendiums. 2016 nahm sie auf Einladung der Abteilung »Begabtenförderung« der Konrad-Adenauer-Stiftung an der Autorenwerkstatt in Cadenabbia am Comer See teil.

COTTON RELOADED

Tödliches Finale

Nadine Buranaseda

beTHRILLED

1

Die Tanzfläche vibrierte. Aus den Lautsprecherboxen wummerten treibende Technobeats. Stroboskoplicht brach sich in der überdimensionalen Discokugel über den Köpfen der tanzenden Menge und zuckte durch den überfüllten Club.

Saed wusste nicht, warum er ausgerechnet hier gestrandet war. Ihm blieb eine letzte Nacht. Vielleicht hatte der Promotion-Flyer, der ihm freien Eintritt verschafft hatte, den Ausschlag gegeben. Oder der Name des Clubs, der den Himmel auf Erden versprach, hier am Rande des Meatpacker Districts in Manhattan.

Der junge Mann zwängte sich zwischen den Gästen neben der abgesenkten Tanzfläche hindurch zur Bar. Das Funktion-One-Soundsystem sorgte dafür, dass er seine Bestellung in einer erträglichen Lautstärke aufgeben konnte. Kurz darauf stand ein Grey Goose Cranberry on the rocks vor ihm. Er blätterte ein paar Dollarscheine auf die Theke und erntete ein breites Zahnpasta-Werbung-Lächeln von der Barfrau. Die Höhe des Trinkgelds hob ganz offensichtlich ihre Laune. Saed lächelte zurück und nahm hastig einen Schluck. Der Wodka brannte in seiner Kehle. Bevor er husten musste, trank er das Glas in einem Zug leer. Mit zitternden Fingern fischte er den Cocktailspieß zwischen den aneinanderklirrenden Eiswürfeln heraus und zog ihn durch die Zähne. Die sauren Beeren zerplatzten an seinem Gaumen. Er verzog das Gesicht und bestellte einen weiteren Drink. Nach dem dritten Glas löste er sich von der Theke und ließ sich zum Dancefloor schieben. Sein Herz schlug im Rhythmus der Basedrum.

Boom. Boom. Boom.

Als er den Fuß auf die Tanzfläche setzte, erreichte das Stück gerade seinen Siedepunkt. Nach einem Break schraubte sich die Melodie in schwindelnde Sphären. Schwitzende Leiber wogten um ihn herum und wurden zu einem einzigen organischen Körper. Saed schloss die Aun und tauchte in die Musik ab. Minuten später ging eine Bewegung durchs Partyvolk. Automatisch riss Saed die Arme hoch und stimmte in das Kreischen ein, das die Menge Richtung DJ-Pult schickte. Manche formten mit Zeigefinger und Daumen ein Herz, dann tanzten sie selbstvergessen weiter. Die Gesichter um ihn herum, über die Scheinwerferstrahlen irrlichterten, verschwammen vor seinen Augen. Er lachte und leckte sich Speichel von den Lippen. Aus dem Kunstnebel schälte sich vor ihm plötzlich eine Frau Ende dreißig. Ihr Busen quoll aus dem Cocktailkleid, das sich bei jedem Schritt unvorteilhaft hochschob. Sie warf das braune Haar zurück, tanzte auf ihn zu und berührte mit der Hüfte seine Seite. Sie umkreiste ihn und schrie ihm irgendetwas ins Ohr.

»Was?«, brüllte Saed gegen den Beat an.

»Dein erstes Mal?«

Saed erstarrte für einen Augenblick. Bevor er etwas erwidern konnte, schlang die Frau die Arme um seinen Hals. Ihre Brüste drängten sich gegen seinen Oberkörper.

»Schüchtern, was?« Sie ließ ein Glucksen folgen, nahm seine schweißnasse Hand und zog ihn von der Tanzfläche auf eine Couch.

»Ich heiße …« Er versank im Polster.

»Schhh!« Die Braunhaarige legte den Finger auf seine Lippen. Ihre Augen funkelten.

Saed fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seine neue Bekanntschaft beugte sich zu ihm. Er spürte den Atem der Frau. Ihre Hand wanderte seinen Oberschenkel hinauf. Unvermittelt küsste sie ihn auf den Mund und drückte ihm die Zunge in den Hals. Sie schmeckte nach Nikotin und schalem Bier.

Noch nie in seinem Leben war Saed einer solchen Frau begegnet. Sie war eine Naturgewalt. Er vergaß die Zeit und alles um sich herum. Ihre Küsse wurden immer drängender, ihre Hände waren überall. Eine Hitzewelle nach der anderen überlief ihn. Er konnte sich ihr nicht mehr entziehen. Auch nicht, als sie schwankend aufstand und ihn zu den Toiletten dirigierte. Alles drehte sich um Saed. Die Neonröhren an den Wänden verzerrten sich zu einem grellen Lichttunnel. Für eine Sekunde fragte er sich, ob sie eine Professionelle war. Aber Huren küssten ihre Freier nicht und klärten das Finanzielle vorher. Er folgte ihr auf das Damen-WC. Sie stieß ihn in eine Kabine, schob die Tür mit dem Absatz ihres High Heels zu und nestelte an seiner Hose. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kniete sie sich vor ihn hin. Saed stöhnte auf und überließ sich ihrem weichen Mund. Als er kam, explodierte ein Feuerwerk in seinem Kopf.

Notdürftig säuberte sich Saed mit Klopapier und knöpfte die Hose wieder zu. Er fühlte sich elend.

Was hatte er getan?

Er war unwürdig!

Sie wischte sich über die Lippen. Saed verließ die Damentoilette fluchtartig und lief im Vorraum in eine Blondine, die ihm wilde Flüche hinterherrief. Er murmelte eine Entschuldigung und hastete zur Garderobe. Die Schlange davor nahm kein Ende. Saed fluchte, dann wandte er sich ab und bahnte sich ohne seine Jacke einen Weg zum Ausgang. Quälende Minuten später schaffte er es nach draußen und stolperte auf die Straße. Eisiger Wind schnitt ihm ins Gesicht und raubte ihm den Atem. Er torkelte in eine Seitenstraße und lehnte sich keuchend gegen eine Hauswand. Neben einem übel riechenden Müllcontainer erbrach er sich. Tränen rannen seine Wagen hinab. Er hatte die Kontrolle verloren. Saed warf den Kopf in den Nacken und schrie in die Nacht:
»Allah, vergib mir!«

*

Der Unterton in ihrer Stimme und das kurze Zögern, als er sie am Telefon gefragt hatte, wie es ihr gehe, hatten ihn hellhörig gemacht. Cotton hatte sich die Flugdaten durchgeben lassen und wartete seit einer halben Stunde vor dem Arrival Gate des JFK. Immer wieder öffneten sich die Schiebetüren und spülten eine Welle müder Fluggäste in die Ankunftshalle. Die meisten hielten den Kopf gesenkt und stützten sich auf ihren Gepäckwagen. Cotton ließ den Blick über die Wartenden schweifen. Die Familie, die sich um einen Klapptisch mit einem Fässchen Bier geschart hatte und kleine Deutschlandfahnen schwenkte, war schwer zu ignorieren. Cotton ertappte sich dabei, dass er sein Spiegelbild in einer Glasscheibe musterte und den Sitz seiner Krawatte korrigierte. Er hasste Krawatten und hatte dieses Exemplar vorhin erst bei Macy’s erstanden, bevor er nach Queens aufgebrochen war. Die Verkäuferin hatte ihm das Teil binden müssen, für so etwas hatte er kein Talent. Dafür hatte Cotton eine ungefähre Ahnung, warum er sich so in Schale geworfen hatte. In den vergangenen Monaten waren sie sich nähergekommen. Auf die Gefahr hin, dass sie ihn auslachte, wollte er sie an diesem Abend in ein Nobelrestaurant ausführen und ihr sagen, dass sie ihm nicht gleichgültig war. Nicht mehr. Sie hatten es nicht immer leicht miteinander gehabt. Im Gegenteil: Sie hatte ihn immer wieder spüren lassen, dass sie seine Art nicht schätzte. Der Wandel war von ihr ausgegangen. Cotton wusste noch immer nicht, was er anders gemacht hatte als sonst. Aber vielleicht hatte auch sie erkannt, dass hinter einer rauen Schale ein durchaus sympathischer Kerl steckte. Okay, vielleicht interpretierte er ihre Freundlichkeit ihm gegenüber auch falsch. Als sie ihm vorm Abflug angeboten hatte, sich doch endlich beim Vornamen zu nennen, hätte er sich fast am Kaffee verschluckt. Und hatte die Nacht danach kaum schlafen können. Ja, und es war auch vielleicht keine gute Idee, etwas mit einer Kollegin anzufangen. Aber in den letzten drei Wochen hatte er sie gegen seine Gewohnheit verdammt vermisst.

Cotton zog sein Handy hervor und drückte auf die oberste Nummer in der Anrufliste.

»Wo steckst …?«

»Cotton?«

Er schaute aufs Display und biss sich auf die Zunge. »Decker, sorry. Hab mich verwählt.«

»Sie können von Glück sprechen, dass ich noch nicht im Bett war.«

Sarah Hunter trat aus der Tür.

»Ich muss Schluss machen, Decker. Gute Nacht!« Er legte hektisch auf und kam sich wie ein verliebter Schuljunge vor. Und noch lächerlicher. Hunter steckte in einem grauen Trainingsanzug, darüber eine FBI-Regenjacke. Ihre kurzen braunen Haare lockten sich unter einem Baseballcap mit dem Logo des Federal Bureau of Investigation. Über der Schulter trug sie eine vollgestopfte Sporttasche.

»Alles in Ordnung?« Er küsste sie wie selbstverständlich auf die Wange und nahm ihr die Tasche ab.

»Ja, alles bestens«, sagte die Forensikerin matt. »Danke, dass du mich abholst.«

»Du musst mir alles über El Salvador erzählen, Sarah«. Das Land mit der höchsten Mordrate weltweit, fügte Cotton im Geiste hinzu.

Hunter winkte ab. »Das lassen wir besser bleiben.«

Sie liefen schweigend Richtung Ausgang.

Als er ihr im Parkhaus die Autotür aufhielt, sah sie ihn schief von der Seite an. »Musstest du dich so aufbrezeln, Jeremiah? Jetzt komm ich mir erst recht vollkommen underdressed vor.«

»Quatsch. Eine schöne Frau kann …« Er vollendete den Gedanken nicht.

Sie lächelte gequält. Sie sah wirklich bescheiden aus. Die Ringe unter ihren Augen waren so dick, dass sie wie aufgemalt wirkten. Sie war so abgemagert, dass sie sich im Jogginganzug verlor.

»Bist du noch verabredet?« Sarah ließ sich auf den Beifahrersitz des Dodge Challenger fallen.

»Äh …«

»Oder ist jemand gestorben?«

Cotton beugte sich zu ihr hinunter und sprach leise weiter. »Ich dachte, wir könnten eine Kleinigkeit essen gehen. Ich habe einen Tisch bei Daniel reserviert.«

»In dem noblen Schuppen in der Upper East Side? Mit Glück bekommt man da frühestens in einem halben Jahr einen Platz. Wen hast du dafür umgelegt?«

»Den Maître höchstpersönlich.«

»Das wär doch nicht nötig gewesen, Darling.«

»Sarah, mach keine Witze, ich würde gerne …« Cotton sah Tränen in ihren Augen schimmern. »Hab ich was Falsches gesagt?«

Hunter schüttelte heftig den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

»Was ist denn los mit dir?«

»Wärst du sehr böse, wenn wir das verschieben?« Sie unterdrückte ein Schluchzen und zog den Schirm ihres Cappys tiefer ins Gesicht. »Ich … ich will nur noch unter die Dusche und ins Bett.«

Cotton nickte und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Den Abend hatte er sich anders vorgestellt. Er warf die Tür zu und umrundete den Wagen.

Bevor sie Queens verlassen hatten, war Sarah neben ihm eingeschlafen. Cotton wollte sie nicht wecken und beschloss, sie mit nach Hause nach Williamsburg zu nehmen. In ihrem Zustand durfte er sie nicht allein lassen. Er hatte sie noch nie so erlebt. Der Job in Südamerika musste sie zutiefst erschüttert haben. Sarah hatte ihre Gefühle normalerweise im Griff. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er ihr eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt.

Wie aus dem Lehrbuch.

*

Saed schlug die Augen nieder. Er konnte den Anblick seines Spiegelbilds nicht ertragen.

»Bismillahi-r-rahmani-r-rahim. Im Namen Allahs.« Saed hörte dem Klang seiner Stimme nach, die ihm fremd vorkam.

Sein Schädel dröhnte. Er öffnete die Glastür zur Dusche und drehte den Hahn auf. Behutsam ließ er Wasser über die Hände laufen, zuerst über die rechte, dann über die linke Hand. Er wiederholte den Vorgang dreimal. Anschließend reinigte er mit der Linken seine Geschlechtsteile und spülte den Mund dreimal aus. Für die Reinigung der Nase inhalierte er Wasser und blies es wieder aus. Einmal, zweimal, dreimal. Er wusch sich das Gesicht und ließ dabei Stirn und Kinn nicht aus. Nach dem dritten Mal ging er zum rechten, danach zum linken Unterarm über, vom Ellenbogen bis zum Handgelenk. Als Nächstes goss er sich dreimal Wasser über den Kopf und massierte es mit gespreizten Fingern in Haare und Bart ein. Er übergoss den ganzen Körper, mit der rechten Hälfte beginnend, mit reichlich Wasser und reinigte Achselhöhlen, Ohren, Bauchnabel und Hautfalten gründlich. Zum Schluss wusch er Füße und die Zehenzwischenräume. Er hatte darauf geachtet, dass keine Stelle trocken geblieben war.

»Allah, mach mich zu einem der Reumütigen und mach mich zu einem sich Reinigenden«, flüsterte Saed. Er hatte die rituelle Waschung schon Hunderte Male vollzogen. Doch zum ersten Mal spürte er, dass das Wasser bis zum letzten Tropfen alle Sünden fortgespült hatte, die er mit den Händen, Augen und nicht zuletzt mit den Füßen begangen hatte, die ihn in den Technoclub getragen hatten.

»Reinheit ist der halbe Glaube«, sagte er jetzt lauter.

Er fühlte sich Allah näher als jemals zuvor.

Nun war er bereit für seine letzte Aufgabe.

*

»Gut geschlafen?«

»Ja, wie ein Stein.« Sarah Hunter richtete sich im Bett auf und sah sich um. Dann riss sie die Decke hoch und warf einen Blick darunter. »Was …?«

»Keine Sorge, du hattest das Schlafzimmer diese Nacht für dich allein, ich habe auf der Couch übernachtet. Du erinnerst dich nicht mehr?«

»Nein.«

»Ich wollte dich ausführen, aber …«

»Richtig, aber mit der scheußlichen Krawatte hätten sie dich eh nicht ins Restaurant gelassen.«

»Sehr witzig. Hast du Hunger?«

»Ich könnte einen ganzen Berg Pancakes verputzen.«

»Ich nehm dich beim Wort. Ich hab eingekauft. Du solltest unter die Dusche, dazu warst du gestern nicht mehr in der Lage.«

»Immer charmant, Jeremiah.« Sarah verdrehte die Augen.

Eine halbe Stunde später stand sie barfuß im Türrahmen zur Wohnküche. Sie hatte sich ein frisches Hemd von Cotton übergezogen und rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken.

»Setz dich!« Cotton deutete auf einen der Barhocker vor der Küchentheke.

Sie schmiss das Handtuch über eine Stuhllehne und kletterte auf den Hocker. Cotton setzte einen Becher Kaffee und die Servierplatte Pancakes, die er zum Warmhalten in den Ofen gestellt hatte, vor ihr ab. Sarah schnappte sich eine Gabel aus dem Besteckkorb, spießte mehrere Pfannkuchen auf und ließ sie auf ihren Teller gleiten. Mit kindlicher Freude goss sie Unmengen Ahornsirup über das abenteuerliche Bauwerk, schnitt ein großes Stück ab und steckte es sich in den Mund.

»Mmmh, sind die gut«, sagte Sarah kauend. »Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst.«

»Ich auch nicht, aber für Pancakes reicht es offenbar.« Cotton grinste und trank einen Schluck Kaffee. Er betrachtete sie aufmerksam. Sie hatte Farbe bekommen, aber unter der Bräune sah sie blass aus.

»Hast du noch nie eine Frau mit Appetit kennengelernt?«

»Sorry, ich wollte dich nicht anstarren.«

»Schon gut.« Sarah goss Sirup nach und nahm den nächsten Bissen. »Wie ist es dir in den letzten Wochen ergangen? Irgendwie hatten wir kaum Gelegenheit, zu reden.«

»Das Übliche: Wir haben einen Drogenhändlerring hochgehen lassen und ein paar Autos zu Schrott gefahren. Nein, im Ernst. Lass uns nicht über mich sprechen. Was ist da unten passiert, Sarah?«

Ihr Gesicht verdunkelte sich schlagartig. »Es war … die Hölle.«

»Wie meinst du das?«

»Hast du schon mal vor einem Massengrab gestanden?«

Cotton nickte.

»Dann weißt du auch, was es bedeutet, wenn über sechzig Leichen geborgen werden müssen.« Ihre Stimme zitterte.

Cotton schwieg und ließ ihr Zeit.

»Die Kollegen in El Salvador sind vollkommen unterbesetzt. Es gibt nur einen einzigen Forensiker, der für die Ausgrabungen zuständig ist.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: »Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren.«

»Schon gut, wir haben beide Dinge gesehen, die wir lieber nicht gesehen hätten. Ich will einfach nur verstehen, warum dich das diesmal so mitnimmt.«

Sarah seufzte und schob den Teller von sich. »Also schön, das kann ich dir sagen: Stell dir einen Abwasserschacht vor, in dem sich die Leichen nur so stapeln. Wir haben uns von der Seite an das Grab herangearbeitet. Wir haben einen gewaltigen Graben ausgehoben, ganze fünfzig Meter tief. Es sah aus wie in einem Bergwerk.«

»Hättet ihr nicht von oben graben können?«

»Nein, dann hätten wir womöglich Beweise zerstört.«

»Verstehe.«

»Wir sind zuerst auf Kleidung gestoßen, dann kamen die Leichen. Unter ihnen eine ganze Familie, die ausgelöscht wurde.«

»Wie sind sie gestorben?«

»Wir haben keine Schusswunden oder andere Verletzungen gefunden. Dafür war die Verwesung zu weit fortgeschritten. Trotzdem haben wir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was passiert ist.«

»Was?«

»Bei der Familie haben sie zuerst das Kind in den Schacht geworfen. Wir sind sicher, dass die Eltern zusehen mussten, bevor sie selbst getötet wurden.«

»Gott, wer macht so was?«

»Organisierte Banden, die ihre Macht demonstrieren wollen.«

»Du meinst, das war eine Warnung?«

»Richtig, aber wir können ihnen nichts nachweisen. Und das ist der springende Punkt: Wir haben alle Opfer identifiziert. Wir wissen, wie sie zu Tode gekommen sind. Wir wissen, wer dafür verantwortlich ist. Aber dennoch sind uns die Hände gebunden. Die Behörden in El Salvador sind korrupt. Das geht bis ganz weit oben.«

»Immerhin habt ihr den Toten ein würdiges Begräbnis ermöglicht. Eines, das ihnen die Mörder verwehrt haben.«

»Ja«, sagte Hunter schlicht. »Aber das reicht mir nicht. Die Schweine müssen bestraft werden!«

»Da bin ich ganz bei dir.«

In diesem Moment klingelte Cottons Handy. Er zog die Augenbrauen hoch, als er den Anrufer erkannte. »Was gibt’s, Joe. Hast du wieder irgendwas Krummes am Laufen?«

»Du weißt doch, dass ich darüber nicht am Telefon spreche«, knurrte Brandenburg. »Check deine E-Mails!«

»Hast du mir ein Katzenvideo geschickt?«

»Nein, Mann. Hattest du einen Clown zum Frühstück?«

»So was Ähnliches«, antwortete Cotton und schenkte Sarah ein Lächeln.

»Hast du sie gekriegt?«

»Sekunde.« Cotton öffnete das Mailprogramm auf seinem Smartphone und tippte auf den Posteingang. »Okay, ich bin ganz Ohr.«

»Ich glaube, ich bin da einer großen Sache auf der Spur.«

Cotton hörte auf zu lächeln und umrundete die Küchentheke. »Schieß los!«

»Also schön, Kumpel. Ich habe diese anonyme Mail auf den Tisch bekommen. Kein Absender, nur eine Fake-Adresse und eine Liste mit Namen.«

»Hab ich gesehen. Und? Was ist damit?«

»Ich habe die Namen überprüft: Es handelt sich ausnahmslos um männliche Moslems im Alter zwischen achtzehn und vierzig Jahren.«

»Okay.« Cotton strich Sarah eine Locke aus dem Gesicht. »Worauf willst du hinaus?«

»Ich habe mir erst nichts dabei gedacht. Du weißt, wie viele Spinner da draußen rumlaufen und sich wichtigmachen. Aber das hier hat mir keine Ruhe gelassen.«

Cotton wusste, dass Brandenburg sich immer auf seinen Instinkt verlassen konnte. Sein Ex-Partner vom New York Police Department nahm es mit dem Gesetz nicht immer so genau, aber vielleicht hatte er gerade deshalb einen Riecher für verdächtige Zusammenhänge.

»Ich hab eine Recherche gestartet«, fuhr der Detective fort. »Und das Ergebnis gefällt mir ganz und gar nicht: Bis auf zwei sind alle Männer tot.«

»Das ist bedauerlich, aber aus diesem Grund rufst du sicher nicht an, oder?« Cotton kannte Brandenburg gut genug, um zu wissen, dass er aus einer Mücke keinen Elefanten machte.

»Die Umstände sind mehr als mysteriös, glaub mir.« Brandenburg ließ ein kratziges Husten folgen. »Die Todesfälle liegen bis zu fünf Jahre zurück. Und niemand ist auf natürlichem Wege über den Jordan gegangen.«

»Was soll das heißen, Joe?«

»Nun, such dir was aus: Selbstmord, Verkehrsunfall, Brand, Ertrinken.«

»Okay, das klingt allerdings nach Zufall.«

»Sekunde, Cotton, ich bin noch nicht fertig. Bei einem der Autounfälle ist nicht gesichert, ob der Typ den Wagen nicht absichtlich in den Gegenverkehr gelenkt hat. Die Zeugenaussagen haben sich da widersprochen. Du weißt, wie so was läuft: Wenn es keine stichhaltigen Anhaltspunkte gibt, werden die Ermittlungen früher oder später eingestellt. Basta.«

»Dann haben wir es einfach mit lebensmüden Menschen zu tun, die zufällig alle einer Glaubensgemeinschaft angehören.«

»Mann, was ist los mit dir? Seit wann gibst du dich mit einfachen Antworten zufrieden? Außerdem versaust du mir die Pointe!«, bellte Brandenburg.

Cotton hörte, wie Brandenburg seine Pranke auf den Schreibtisch krachen ließ. »Schon gut, schon gut.«

»Vier Männer waren eindeutig Attentäter und haben mehrere Hundert unschuldige Menschen vor ihrem Ableben in den Tod gerissen.«

»Nicht dein Ernst!«

»Du erinnerst dich an das Bombenattentat in Kabul, Afghanistan?«

»Ja, klar. Vor fünf Jahren ging in der Nähe der City Hall eine Autobombe hoch.«

»Korrekt. Dann die Geiselnahme in dem Kino in Fresno, Kalifornien.«

»Verdammt …« Bei der Premiere eines Blockbusters hatte ein Teenager über vierzig Besucher mit einem Maschinengewehr getötet. Seitdem war Cotton die Lust vergangen, sich den Film jemals selbst anzuschauen.

»Das Selbstmordattentat in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Und last but not least der Amoklauf in Atlanta, Georgia, im letzten Jahr. So ein irrer Typ hat auf offener Straße neun Menschen erstochen.«

»Ja, die Presse war voll davon. Warum hast du das nicht gleich gesagt, Mann?«

»Hab ich jetzt deine Aufmerksamkeit, Cotton?«, ignorierte Brandenburg den Vorwurf.

»Allerdings. Warum schickt jemand eine solche Liste an das NYPD?«

»Ich gratuliere: Die erste richtige Frage heute Morgen, Kumpel. Ich rechne mit dem Schlimmsten.«

Cotton überkam eine Ahnung. »Was ist mit den beiden Männern, die am Leben sind?«

»Der eine ist ein zwanzigjähriger Student, der seit einem halben Jahr in einem Sanatorium in Long Island untergebracht ist. Soweit ich herausfinden konnte, ist er nur noch ein sabberndes Etwas. Nicht mehr bei Verstand, geschweige denn ansprechbar.«

»Und der andere?«

»Ist seit einer Woche verschwunden.«

»Du meinst, er ist untergetaucht?«

»Ja, die Familie hat nichts mehr von ihm gehört. Sie machen sich Sorgen.«

»Wurde er als vermisst gemeldet?«

»So ist es, aber er ist ein erwachsener Mann, der niemandem darüber Rechenschaft ablegen muss, wo er sich aufhält.«

Das war der Haken an Vermisstenfällen. Cotton fuhr sich über den Dreitagebart. »Und was hältst du davon?«

»Ich verwette meinen Arsch, dass da was faul ist. Die Männer müssen in irgendeinem Zusammenhang stehen.«

»Warum ermittelt das NYPD nicht selbst weiter, Joe?«

»Du weißt, warum. Hör dich um, setz Zeery auf die Sache an. Captain Larkin wird mir den Kopf abreißen, wenn ich das versaue. Und wenn ich recht habe, dann sind wir den Fall schneller los, als wir bis drei zählen können.«

»Du meinst …?«

»Ganz genau: Das Schreckgespenst des Terrors zeigt wieder seine hässliche Fratze, Cotton. Der Typ wird durchdrehen, hundertpro. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er aus der Versenkung auftaucht und bis an die Zähne bewaffnet auf irgendwen losgeht.«

2

Cotton und Hunter betraten hintereinander die Eingangshalle des einstöckigen Bürogebäudes einer unscheinbaren Softwarefirma. Die Agents ließen den Empfang hinter sich, fuhren mit dem Aufzug ins Untergeschoss und passierten eine Sicherheitsschleuse. Im Headquarter des G-Teams herrschte die übliche Betriebsamkeit. Über die riesige Monitorwand flimmerten Bilder von verschiedenen Überwachungskameras, die die Hot Spots von New York im Blick hatten. Stimmengewirr und das Klappern von Computertastaturen erfüllten das Großraumbüro. Hunter folgte Cotton in den Serverraum, in dem sie Zeerookah hinter seinem Schreibtisch sitzend vorfanden. Der schwarze Lockenkopf verdeckte einen Bildschirm.

»Hi Zeery«, begrüßte Cotton den Intelligence Analyst und IT-Crack des G-Teams.

Der Drehstuhl ächzte, als Zeerookah sich zu ihnen umdrehte. »Welch Glanz in meiner Hütte. Schön, dass du wieder im Lande bist, Sarah.«

Hunter lächelte schief.

»Nehmt Platz!« Zeerookah wies auf die beiden Besucherstühle.

»Hast du schon irgendetwas für uns?« Cotton räumte einen Stapel fettiger Pizzakartons von einem Stuhl und setzte sich.

»Du kommst gleich zur Sache. Gefällt mir.«

»Bei dem ganzen Hightech-Spielzeug«, sagte Cotton und deutete auf Zeerookahs Ausrüstung, »darfst du dich nicht wundern, dass wir schnelle Ergebnisse erwarten.«

»Nur keinen Druck, Mann. Aber ich kann dich beruhigen: Ich bin tatsächlich fündig geworden.«

Cotton hatte die E-Mail mit der Namensliste, die Brandenburg ihm geschickt hatte, an Zeerookah weitergeleitet, um den anonymen Absender zu identifizieren.

»Und?«

»Bei der Adresse handelt es sich um eine sogenannte Wegwerfadresse.«

»So eine Fake-Addy, die nur wenige Stunden gültig ist?«

»Exakt, Sarah. Um genau zu sein: in diesem Fall sechs Stunden. Danach löscht sich der Account automatisch. Es gibt mehrere Anbieter, die Einrichtung dauert nur ein paar Sekunden.«

»Wofür braucht man so was?« Cotton gähnte.

»Nun, viele Foren- und Chat-User benutzen solche provisorischen Adressen, um im World Wide Web wirklich anonym zu bleiben und sich vor Spam zu schützen.«

»Okay. Aber wenn diese E-Mail-Adresse jetzt nicht mehr existiert, wie finden wir dann den Absender?«

»Ganz einfach: über die IP-Adresse, Cotton. Noch nicht ganz wach, was?«

Damit hatte Zeery nicht ganz unrecht. Cotton war die halbe Nacht auf gewesen und hatte Sarah beim Schlafen zugeschaut. Das behielt er allerdings lieber für sich.

»Wie auch immer. Eine IP-Adresse identifiziert einen Rechner in einem Netzwerk und erleichtert die Kommunikation«, fuhr Zeery fort. »Sie adressiert Datenpakete, damit sie die richtigen Empfänger erreichen. Ich habe das Internetprotokoll analysiert und den Rechner geortet. Das Ding steht in einem Berliner Internetcafé.«

»In Deutschland?« Sarah Hunter zog die Stirn kraus.

»Ja, aber das ist noch nicht alles. Ich hab mich in die Überwachungskamera des Cafés gehackt. Anhand von Uhrzeit und Computerterminal konnte ich die Zahl der User eingrenzen.« Zeerookah drehte den Monitor in ihre Richtung. »Das ist der Mann.«

Auf dem Bildschirm war ein hageres Gesicht zu sehen. Rotblondes Haar, Brille, Vollbart. Cotton schätzte den Mann auf Anfang vierzig.

»Ich habe das Foto bearbeitet und durch eine Gesichtserkennungssoftware gejagt.« Zeery machte eine dramatische Pause. »Wir haben einen Namen: Doktor Marten Schneider.«

Cotton beugte sich vor. »Was wissen wir über den Kerl?«

»Deutscher Wissenschaftler, vor zehn Jahren in die USA ausgewandert.«

»Was macht er in Berlin?«, fragte Hunter. »Heimatbesuch?«

»Nein, er ist auf einer Konferenz.«

»Was ist sein Fachgebiet?«

»Biochemie, Cotton.«

»Verdammt, wenn Brandenburg recht hat …«

»… dann haben wir es vielleicht bei dem untergetauchten Mann von der Namensliste mit einem islamistischen Terroristen zu tun, der an Biowaffen gekommen ist!«, beendete Sarah Hunter den Satz.

*

»Das ist eine ernste Angelegenheit, Herrschaften.« Mr High blickte über den Konferenztisch in seinem Büro, in das der Special Agent in Charge Cotton, Hunter und Decker zitiert hatte. Er saß kerzengerade auf dem Stuhl, seine Miene war verschlossen.

»Wie lautet Ihr Einsatzbefehl, Sir?« Philippa Decker steckte in einem dunkelblauen Hosenanzug und hatte die Hände auf der Tischplatte gefaltet.

»Da wir noch keine Kenntnis darüber besitzen, womit wir es zu tun haben, werden wir zweigleisig fahren: Sie und Cotton spüren diesen Saed …«

»Saed Abaaoud«, ergänzte Decker.

»Diesen Saed Abaaoud auf. Befragen Sie seine Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen. Drehen Sie jeden verdammten Stein um, bis Sie ihn gefunden haben.«

»Ja, Sir.«

»Und Sie, Special Agent Hunter, nehmen den nächsten Flieger nach Deutschland. Sprechen Sie mit Doktor Schneider, von Kollege zu Kollege. Vielleicht finden Sie heraus, warum er dem New York Police Departement diese Liste geschickt hat.«

Hunter war nicht nur Forensikerin, sondern auch Biologin und Chemikerin. Wenn jemand etwas von der Materie verstand, mit der sich Marten Schneider befasste, dann war sie es. Obwohl diese Argumentation bestechend war: Cotton war alles andere als begeistert. Denn es bedeutete, dass er Sarah in den kommenden Tagen wieder nicht zu Gesicht bekommen würde. Und so langsam ging ihm die Geduld aus. Er musste ihr endlich sagen …

»Sind Sie noch bei uns, Cotton?« John D. High trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Sein Adamsapfel tanzte.

Cotton richtete sich auf. »Natürlich, Sir.« Die Sache war zu ernst, er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.

»Gut, Sie wissen, was Sie zu tun haben. An die Arbeit!«

Die Agents verließen das Büro. Durch die Glasfront sahen sie, dass Mr High sitzen geblieben war und ins Leere starrte.

»Er macht sich Sorgen«, sagte Hunter gedämpft.

»Das ist sein Job.« Cotton berührte sie leicht am Arm. »Hör zu …«

Sarah Hunter blieb stehen und sah ihn aufmerksam aus ihren grünen Augen an. »Was wolltest du sagen?«

Cotton zog sie in einen Abstellraum mit Büromaterialien und schloss die Tür. »Ich habe dich vermisst. Du weißt, dass solche Sätze normalerweise nicht zu meinem Wortschatz gehören. Ich … Der Gedanke, dass du gleich nach Deutschland aufbrichst …«

Sarah verschloss seinen Mund mit einem Kuss. Eine süße Ewigkeit später löste sie sich wieder von ihm. »Ich weiß. Und ich bin schneller zurück, als du denkst. Und dann wirst du mich nicht mehr los.«

»Okay, ich erinnere dich bei Gelegenheit dran. Wir sollten los, bevor Decker noch eine Vermisstenanzeige aufgibt.«

»Ja«, sagte Hunter und küsste ihn noch einmal. »Und pass auf dich auf, hörst du?«

*

»Was ist los mit Ihnen? Seit Wochen sind Sie nicht mehr ganz bei der Sache. Ihnen ist klar, dass der SAC Sie jederzeit feuern kann, wenn Sie sich nicht endlich zusammenreißen.« Philippa Decker warf einen finsteren Seitenblick auf Cotton, der sich tiefer in den Beifahrersitz des Porsche GT 3 drückte.

»Ich glaube, mich hat es richtig erwischt.«

»Was?« Philippa Decker bog rechts ab auf den Franklin D. Roosevelt Drive. Über ihnen auf der Brooklyn Bridge donnerte der Verkehr.

»Ich bin verliebt.« Cotton lenkte seinen Blick auf die Meerenge, die den Long Island Sound mit der Mündung des Hudson River verband. Das Wasser wälzte sich im fahlen Licht des Vormittags träge an ihnen vorbei.

»Das geht vorüber. Die Welt müssen wir heute retten.«

»Seit wann sind Sie so unromantisch, Decker?« Cotton dachte an den Kuss zurück. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass Sarah ihn nicht zurückgewiesen hatte.

»Das ist nichts Neues. Liebe ist nur eine Frage der Körperchemie.«

»Wir sind alle hormongesteuerte Roboter? Klaro.« Cotton lächelte in sich hinein.

»So ähnlich.«

»Hatten Sie noch nie Schmetterlinge im Bauch?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Herzklopfen?«

»Das ist wohl eher ein Fall für den Kardiologen.«

»Mal ehrlich: Wer hat Ihnen das angetan?«

»Wie bitte?«

»Welcher Mann hat Sie derart verletzt, dass Sie zu einem Eisklotz mutiert sind?«

»Worüber reden wir hier eigentlich? Die Befragung der Familie Abaaoud wird nicht leicht werden. Also sparen Sie sich die Rhetorik für später!«

»Natürlich, Eisprinzessin.«

Sie passierten die Manhattan Bridge und ließen kurz darauf auch die Williamsburg Bridge hinter sich. Nach zehn Minuten tauchte Roosevelt Island vor ihnen auf, über das sich die Queensboro Bridge spannte. Eine Baustelle zwang sie, den autobahnähnlichen Parkway zu verlassen und mitten durch die Upper East Side zu fahren. Halb Manhattan war mit dem Auto unterwegs und verstopfte die Straßen, sodass sie für den Rest der Strecke nach Harlem doppelt so lange brauchten. Decker fluchte, als ein silberner 2000er Chevrolet Suburban in der Lenox Avenue in die Parklücke fuhr, die sie angesteuert hatte. Es dauerte drei Runden um den Block, bis sie endlich einen Parkplatz fanden.

»Das ist es.« Decker blieb vor einem sechsstöckigen Brownstone-Haus stehen, an das sich eine rostige Feuerleiter klammerte.

Sie nahmen die fünf Stufen zum Eingang. Decker studierte die Namensschilder und drückte auf eine messingfarbene Klingel.

»Ja, bitte?«, knackte es durch die Gegensprechanlage.

»Special Agent Decker vom FBI. Mr Abaaoud, wir müssen Sie und Ihre Familie dringend sprechen.«

Der Summer ertönte, Decker stieß die Tür auf. Im Treppenhaus, das in dunklen Grüntönen gestrichen war, herrschte eine angenehme Kühle. Die Holzstufen knarzten unter ihren Schritten. Im dritten Stock empfing sie ein kleiner, drahtiger Araber in den Siebzigern. Über einer weiten Hose trug er einen schlichten Kaftan. Das schüttere Haar und der Vollbart waren ergraut, aber seine Augen strahlten den Geist eines jungen Mannes aus.

»As-salãmu aleykum – Friede sei mit dir.«

»Wa’aleykumu s-sãlam – Friede sei auch mit dir«, erwiderte Philippa Decker den Gruß und unterließ es, dem Mann die Hand zu reichen.

»Treten Sie bitte ein!«

Philippa Decker streifte ihre Pumps ab, bevor sie der Einladung folgte. Cotton hatte keine Zeit, sich Gedanken über den Zustand seiner Socken zu machen, und zog die Lederschuhe aus.