Umschlag

Marion Griffiths-Karger verbrachte ihre Kindheit auf einem Bauernhof in Ostwestfalen. Nach Kaufmannslehre und Studium der Sprach- und Literaturwissenschaft wurde sie Werbetexterin in München, später Teilzeitlehrerin und Autorin. Die Deutsch-Britin ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, lebt mit ihrem Mann bei Hannover und schreibt und liest mit Leidenschaft Kriminalromane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/knäckeboot
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-100-0
Küsten Krimi
Originalausgabe

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Die Tafelrunde ist entehrt,
wenn ihr ein Falscher angehört.

Wolfram von Eschenbach

Der Leseclub von Carolinensiel

Heike Bornum: liegt tot im Hafenbecken

Hilde Thomassen: alleinerziehende Oma

Tomke Drillich: Hildes Freundin

Else Tudorf: Nachbarin von Heike Bornum, Sohn Klaus war mit Heikes Tochter Nina verheiratet

Renate Stöckl: nervöse Freundin von Else

Knut Besemer: ehemaliger Lehrer, ist sehr beliebt bei den weiblichen Clubmitgliedern, hat etwas zu verbergen

Silke Husemann: Heikes Rivalin um Besemers Gunst

Lothar Semmler: möchte gern einen Krimi schreiben und gerät in Schwierigkeiten

Wilko Reinert: hat ein pikantes Geheimnis und pflegt seine kranke Frau

Bendine Hinrichs: Tante von Hauptkommissarin Fenja Ehlers, führt eine Pension in Carolinensiel

Heini Sammers: Bendines Freund, macht eine Dummheit

Lore Berglin: Bendines Freundin

Kalle Berglin: Lores Mann

Prolog

 

Was war denn bloß geschehen? Sie lag da, die nackten Beine seltsam verdreht. Auf den Fußnägeln schimmerten noch Reste von Nagellack. Rosa Nagellack, einfach scheußlich! Sie trug einen Morgenmantel. In der letzten Zeit hatte sie dauernd diesen Morgenmantel getragen. Alt war er, abgewetzt und schmuddelig weiß. Sie hatte sich gehen lassen, ohne Zweifel. Immer wieder war es deswegen zum Streit gekommen zwischen ihnen. Und dann das Kind. Ständig hatte es geschrien. Jetzt schrie es auch. Es war nicht auszuhalten! Dabei hatten sie nur über alles reden wollen, jetzt, wo er abgehauen war. Aber sie wollte sich ja einfach nicht überzeugen lassen! Stattdessen war sie furchtbar wütend geworden! Hatte geschrien und gedroht, alles zu sagen. Und das ging doch nicht! Das war ganz und gar unmöglich! Und dann war die ganze Situation völlig aus dem Ruder gelaufen. Deswegen war es geschehen! Nur deswegen lag sie jetzt da, den Kopf mit den dunklen Locken auf dem Teppich, während das Blut langsam aus ihr heraussickerte.

Aber vielleicht war es am besten so. Eine andere Lösung war eben unmöglich. Es war so vieles falsch gelaufen. Und das mit dem Kind hätte nicht sein dürfen. Das war einfach zu viel gewesen! Ja, bestimmt war es am besten so!

Draußen dunkelte es bereits. Es war zu gefährlich hier! Weg! Nichts wie weg! Bevor jemand etwas mitbekam. Durch die Hintertür und den Garten. Noch war Zeit, alles zu regeln. Es musste nur schnell gehen. Dann würde alles gut.

EINS

Carolinensiel, Ostfriesland, Dienstag, 7. Oktober

Heike Bornum ärgerte sich wie immer, dass sie nicht den Mut fand, dieses lästige Geschwätz zu unterbinden.

»Man bedenke die luzide Sprache, die komplexen Satzgebilde und die philosophische Abhandlung menschlicher Unzulänglichkeiten …«, drang es dumpf und träge wie klebriger Honig in ihr Bewusstsein, »… ganz zu schweigen von der Mannigfaltigkeit der Charaktere …«

»Ach, du immer mit deinem wissenschaftlichen Besteck. Hier geht’s um Gefühle!«

Heike seufzte innerlich. Wenigstens Bendine traute sich, Knut in die Parade zu fahren. Wieso musste der sich bloß immer so aufspielen? Okay, er war Deutschlehrer gewesen, in Wittmund in der Oberstufe, aber war das ein Grund, in diesem Kreis ständig die eigene Überlegenheit zu demonstrieren? Sie selbst hatte vor acht Jahren den Lesekreis in Carolinensiel ins Leben gerufen.

Anfangs waren sie nur zu viert gewesen, und ausschließlich Frauen. Sie trafen sich jeden ersten Dienstag im Monat im Groot Hus des Sielhafenmuseums und sprachen über Literatur. Manchmal stellte eine von ihnen ein Buch vor, das ihr besonders gefallen hatte, manchmal wurde einfach nur vorgelesen. Sie hatte weder Zeit noch Mühen gescheut, um ihren Kreis zu erweitern. Hatte Lesungen veranstaltet und einmal sogar eine Art literarisches Quartett.

Das war der Köder für Knut gewesen. Mittlerweile war ihr Leseclub auf dreizehn Personen angewachsen, fünf davon waren Männer. Und dass Knut Besemer, der der Chance, sein sprachwissenschaftliches Know-how öffentlich präsentieren zu dürfen, nicht hatte widerstehen können, sich dazugesellt hatte, war für sie eine besondere Freude gewesen. Heike hatte nun mal ein Faible für gebildete Männer. Und das war Knut ohne Zweifel.

Seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren und auch schon lange davor hatte Heike die Nähe und Fürsorge eines männlichen Partners vermisst. Und Knut war nicht nur gut aussehend und gebildet, er war auch noch wohlhabend. Sehr wohlhabend, nannte ein großes Haus und eine geräumige Yacht sein Eigen. Die hatte er sich vor ein paar Jahren gekauft, da war seine Frau schon eine Weile tot. Er hätte schon viel eher in Pension gehen können, hatte er Heike mal anvertraut. Das hatte er einigen klugen Transaktionen an der Börse zu verdanken.

Wie auch immer, Heike hatte nichts gegen Geld. Und sie selbst, als Bibliothekarin auch nicht ungebildet und für ihr Alter äußerlich noch recht annehmbar, würde wunderbar zu ihm passen. Silke Husemann sah das allerdings anders. Es war ja schon fast peinlich, wie die sich Knut an den Hals warf. Und ihm gefiel das offenbar. Er war ein eitler Pfau, das ließ sich nicht leugnen. Aber glücklicherweise hatten sich die Dinge mittlerweile geändert. Sie hatte jetzt noch ein weiteres Eisen im Feuer, auch wenn das nur die zweitbeste Lösung war und sie außerdem in Schwierigkeiten bringen konnte. Nun, das musste sie eben für sich behalten.

»Ich finde, Knut hat recht«, sagte Lothar Semmler, »es geht beim Geschichtenerzählen nicht nur um den Inhalt der Geschichte, sondern auch um die Sprache, also das Mittel, mit dem ich diese Geschichte erzähle …«

»Ja, aber dann sollte man sich über die Sprache in einer Sprache unterhalten, die auch jeder versteht.« Lore Berglin eilte ihrer Freundin Bendine zu Hilfe. »Das solltest du auf jeden Fall bedenken, wenn du deinen Krimi unter die Leute bringen willst. Dieses hochgestochene Gedöns will ich jedenfalls nicht lesen.«

»Natürlich«, stimmte Lothar Semmler eilfertig zu. »Ich schreibe so, dass mich alle verstehen.«

»Wollen wir’s hoffen«, brummte Else Tudorf. »Und wehe, ich komme in deinem Geschreibsel vor! Werde mir das ganz genau angucken, was du da verzapfst.«

»Mach das, mach das«, frohlockte Lothar Semmler, der seinen noch zu realisierenden Krimi bereits in den Bestsellerlisten wähnte. Allerdings hatte er seine umfangreiche Recherche bis dato noch nicht beendet, und der Plot war ebenfalls noch nicht in trockenen Tüchern. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, alle Welt von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen.

»Wir wollten doch über Jane Austen sprechen«, meldete sich Heike endlich zu Wort. Sie fand Lothars Pläne pietätlos, und noch pietätloser fand sie es, dass er sie in diesem Kreis überhaupt thematisierte.

Hilde Thomassen war blass geworden, als er sie darauf angesprochen hatte. »Du hast doch nichts dagegen … ich meine, sie war ja deine Tochter, aber die Psychologen sagen doch immer, es ist sinnvoll, über diese Dinge zu reden.«

»Ja, aber nicht mehr nach zwanzig Jahren!«, hatte Tomke Drillich Lothar zurechtgewiesen. Tomke und Hilde hatten gemeinsam den kleinen Boje, Hildes Enkel, großgezogen, nachdem seine Mutter unter tragischen Umständen ums Leben gekommen war. Boje war mittlerweile einundzwanzig Jahre alt und studierte Kommunikationswissenschaften in Bamberg. Er war der ganze Stolz seiner Großmutter. Die beiden hatten ein enges Verhältnis, denn sie hatten niemanden mehr außer einander.

»Du hast recht, Bendine«, sagte Heike jetzt etwas lauter als nötig, »hier geht es um Gefühle, wobei man natürlich die geniale Sprache von Jane Austen durchaus erwähnen darf.«

»Ja, sagt ja keiner was dagegen, aber ich finde die Figuren viel bemerkenswerter«, mischte sich Silke Husemann jetzt ein, während Wilko Reinert, der Silkes Enthusiasmus für »Stolz und Vorurteil« nicht teilte, die Augen verdrehte.

»Überlegt doch mal«, schwärmte Silke, »die Bennets haben fünf Töchter, und alle sind irgendwie … besonders.«

Heike hörte nicht mehr hin, sie war froh, die Gruppe von Lothars Krimiplänen abgelenkt zu haben. Nicht nur, weil sie Hilde die Erinnerung nicht zumuten wollte. Nein, sie wollte auch sich selbst die Erinnerung nicht zumuten, konnte nur hoffen, dass niemand ihre Zerstreutheit und ihre zitternden Hände bemerkt hatte, als Lothar davon angefangen hatte. Und das gerade jetzt, wo die Vergangenheit sie sowieso wieder eingeholt hatte.

Vielleicht hätte sie das mit den schlafenden Hunden nicht erwähnen sollen. Nun ja, zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Heike neigte zum Grübeln. Sie beneidete die Menschen, die sich rigoros von einem Problem, das nicht zu ändern war, ablenken konnten. Wie machten sie das nur? In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie in einem Karussell wieder und wieder um dieselbe Angelegenheit, ohne dass sie zu einer Lösung kommen würde.

Und in diesem Fall war es genauso gewesen. Damals. Sie hatte viele Jahre gelitten, litt immer noch, wenn sie ehrlich war. Und jetzt kam Lothar und wühlte im Schlamm herum. Gott weiß, was er alles ausgraben würde in seiner Besessenheit.

Sie plauderten noch eine Weile über die große englische Schriftstellerin, und dann beendete Heike den Abend, etwas früher als sonst. Sie hatte sich nicht mehr am Gespräch beteiligt und als Lektüre für das nächste Treffen Theodor Fontanes »Effi Briest« vorgeschlagen.

»Der schreibt doch genauso gefühlsduselig wie Jane Austen«, murrte Wilko Reinert. »Was findet ihr Frauen bloß an der? Können wir nicht mal was von Håkan Nesser oder Tess Gerritsen besprechen?«

Heike antwortete nicht, und die Clubmitglieder machten sich langsam auf den Heimweg. Das war um kurz vor zweiundzwanzig Uhr.

Bendine Hinrichs ließ sich von Heini Sammers noch bis zu ihrer Pension begleiten, die nicht weit vom Museumshafen entfernt Richtung Harlesiel in einem malerischen Garten lag.

Heini Sammers, ein stämmiger Friese, der sich selbst als einen Mann in den besten Jahren bezeichnete, obwohl er die sechzig bereits überschritten hatte, war unwesentlich kleiner als seine zwei Jahre jüngere Freundin Bendine. Aber vielleicht lag das auch nur an seinem stets etwas geneigten Kopf und seinem leicht gebeugten Gang. Der Wind wehte schwach an diesem milden Abend im Oktober. Die Sommergäste waren in ihre Stadtwohnungen oder ihre bergische Heimat zurückgekehrt, bis sie sich im nächsten Sommer wieder an die Küste begeben würden. Hierher, wo der Wind alle schweren Gedanken auf die weite See trieb. Bendine und Heini schlenderten im trüben Licht der Laternen an der Harle entlang.

»Dass du mir bloß nicht mit so einem Blödsinn anfängst«, knurrte Bendine. »Krimi schreiben! Als ob’s davon noch nicht genug gäbe. Man weiß ja schon gar nicht mehr, was man kaufen soll. Wenn man in einen Buchladen geht, wird man ja regelrecht erschlagen von dieser Büchermasse.«

»Nein, Bendine, ganz bestimmt nicht«, versicherte Heini beflissen. »Auf so einen blöden Gedanken würde ich nie kommen. Und außerdem hab ich ja auch gar keine Zeit, ich hab ja den Kiosk.«

»Stimmt allerdings«, murmelte Bendine, die sich fragte, wie lange Heini sich an seiner Brötchentheke noch die Beine in den Bauch stehen wollte. Und im Winter lief das Geschäft sowieso schlecht. Glücklicherweise bezog Heini eine kleine Unfallrente, die ihm ein akzeptables, wenn auch nicht gerade respektables Auskommen sicherte. Außerdem verdienten seine fünf Kinder aus einer gescheiterten Ehe mittlerweile ihr eigenes Geld.

»Heike war heute irgendwie komisch, findest du nicht auch?«, fuhr Bendine fort.

»Was meinst du mit komisch?« Heini legte die Hände auf den Rücken und beugte den Kopf noch ein bisschen weiter nach vorn, um Bendine ins Gesicht sehen zu können.

»Na irgendwie … fahrig.«

»Nö, sie war doch wie immer.«

Bendine seufzte leise. Meine Güte, dachte sie, Männer merkten aber auch gar nichts. Das war bei ihrem verstorbenen Friedhelm auch schon so gewesen. Bei dem waren alle Sensoren nur auf sein Boot gerichtet gewesen. Seine Ludmilla. Bendine hatte sie immer nur die Heilige Kuh genannt. Friedhelm hatte das gar nicht gerne gehört, hatte ihr sogar Eifersucht unterstellt. Ph, Eifersucht, sie war ja froh gewesen, wenn er beschäftigt war! Und das möglichst weit entfernt von ihrem eigenen Dunstkreis.

»Ist ja auch egal«, nahm sie das Gespräch mit Heini wieder auf, »jedenfalls finde ich, dass Lothar langsam ein bisschen tüdelig wird. Aber irgendwie muss sich ein Mann, der so eine hohe Meinung von seiner Intelligenz hat, ja beschäftigen als Rentier. Und was liegt da näher, als ein Buch zu schreiben.«

»Wirklich?«

Bendine verdrehte die Augen. »Jo, Heini, wir sind da. Den Rest kann ich alleine gehen.« Sie drückte dem verdutzten Heini einen Kuss auf die Wange und ging dann schnellen Schrittes über den Weg an der Cliner Quelle vorbei Richtung Nordseestraße zu ihrer Pension, wo hoffentlich ihre Nichte und eine heiße Tasse Tee auf sie warteten.

Als sie den Haustürschlüssel ins Schloss steckte, hörte sie Stimmen und Musik. Ach ja, Fenja und ihr Kochclub hatten ja heute wieder die Küche vereinnahmt. Das hatte sie ganz vergessen. Im Grunde mochte sie das Quartett aus drei Damen und einem Herrn ja auch gerne, aber die Art und Weise, wie sie ihre gemeinsamen Treffen gestalteten und dabei Bendines Küche in ein Waterloo verwandelten, missfiel ihr doch manchmal. Heute zum Beispiel. Sie hängte ihre schwarze Outdoorjacke an die Garderobe und warf den Schlüssel in den Schlüsselkasten. Immerhin, es roch gut, auch wenn Bendine nicht allzu viel von den Kochkünsten der Belagerer hielt. Sie betrat die Küche, wo eine der drei Frauen hektisch eine Zigarette in die Spüle warf und mit den Händen vor ihrem Gesicht herumwedelte.

»Das hilft jetzt auch nicht mehr«, sagte Bendine und öffnete das Fenster über der Spüle.

Fenja, ihre Nichte, saß am Tisch, auf dem abgegessene Teller und leere Weingläser herumstanden. »Oh, hey, Bendine, du bist ja schon da«, sagte sie und rappelte sich auf. Dabei fiel eine Gabel auf die Fliesen. Die anderen waren ebenfalls aufgesprungen und guckten betreten.

Bendine sah auf die Uhr. »Es ist fast halb elf, später komm ich selten. Wo ist Nele?«

»Schläft«, antwortete Fenja, und alle begannen hektisch die Teller zusammenzustellen.

»Willst du noch was essen? Es gibt Tofu-Auflauf.« Fenja nahm mit spitzen Fingern die Kippe aus der Spüle und warf sie in den Mülleimer.

Deshalb sind alle betrunken, dachte Bendine. Ihnen fehlte die Grundlage. »Nein, danke«, sagte sie laut. »Möchte jemand Tee?«

Erstaunlicherweise wollte niemand außer Fenja. Die beiden Frauen und der Mann, Bendine vergaß immer die Namen, verabschiedeten sich und verließen eilends Bendines Haus.

»Wer von denen kann denn noch fahren?«, fragte Bendine, während sie Wasser in den Kessel füllte.

»Die machen jetzt einen Spaziergang zum Sielhafen und lassen sich dort von einem Taxi abholen. Jedenfalls hoffe ich das.« Fenja klappte die Tür der Spülmaschine zu und nahm zwei Becher aus dem Schrank. »Wie war dein Leseabend?«

»Ach, eigentlich wie immer, bisschen langweilig. Allerdings …« Bendine kicherte. »Der Lothar Semmler, du weißt doch, der seit einem Vierteljahr in Rente ist …«

»Der mit dem missratenen Sohn, der ihn nie besucht?«, unterbrach Fenja.

»Genau, er jammert zwar immer, aber ehrlich gesagt, mich wundert’s nicht, dass der Junge nicht öfter kommt. Der Semmler kriegt doch schon einen Anfall, wenn die Enkel seine Fernsehzeitung anfassen. Das hätte es zu Brigittes Lebzeiten nicht gegeben.«

Bendine goss kochendes Wasser über die Teebeutel – das Teesieb mit losem Tee gab’s nur für die Touristen.

»Na ja«, fuhr Bendine fort, »Lothar will einen Krimi schreiben. Stell dir das vor.«

Fenja bearbeitete unsanft mit dem Löffel den Teebeutel. »Nun gib dem Beutel eine Chance, okay?« Bendine zog die Stirn kraus. »Mir wird immer ganz anders, wenn ich sehe, wie du mit dem Tee umgehst.«

»Tut ihm nicht weh, glaub mir. Was war das mit dem Krimi vom Lothar?«

»Ach, eigentlich unwichtig. Er will einen Todesfall, der sich hier vor ungefähr zwanzig Jahren zugetragen hat, verarbeiten. Klar, dass der sich nichts ausdenken kann.«

»Ach ja? Was war denn das für ein Todesfall, etwa Mord?« Fenja Ehlers, Erste Hauptkommissarin bei der Kripo in Wittmund, interessierte sich schon von Berufs wegen für Mordfälle, und wenn sich diese auch noch im beschaulichen Carolinensiel zutrugen, waren sie umso interessanter. Auch wenn sie sich lange vor ihrem Umzug dorthin ereignet hatten.

Bendine trank einen Schluck Tee, den sie mit ein paar Tropfen Sahne angereichert hatte. Den Kandis sparte sie sich aus Eitelkeit. Ob das nun wirklich ihrer Figur zugutekam, wusste sie nicht, aber es beruhigte ihr Gewissen. In den letzten Jahren hatte sie ein bisschen zugelegt.

»Ja, ein Mann hat damals seine Frau erschlagen. Sie haben ihn verurteilt und eingesperrt, irgendwo bei Hannover, ich glaube, Celle heißt die Stadt. Soll sehr hübsch sein. Das hat mir Tomke erzählt. Was jetzt mit ihm ist, weiß ich nicht.«

»Aber dann ist doch alles klar, was will denn der Lothar noch darüber schreiben? Ich denke, Krimis liest man nur zu Ende, weil man wissen will, wer der Mörder ist.«

Bendine trank ihren Tee aus und stand auf. »Der Mann hat immer behauptet, er sei unschuldig, aber keiner hat ihm geglaubt. War wohl ein ziemlich komischer Typ.«

»Gut möglich, Mörder sind meistens komische Typen.« Fenja stellte ihre Tasse in die Spülmaschine und gähnte. »Ich geh schlafen, muss morgen zum Gericht.«

»Na dann, gute Nacht«, sagte Bendine. »Ich räum noch ein bisschen auf.« Sie blickte ihrer Nichte vorwurfsvoll hinterher, aber die war schon verschwunden.

* * *

Mittwoch, 8. Oktober

Meine Güte, nun beweg dich doch mal, dachte Werner Karlssen und zerrte an der Hundeleine, an der ein betagter Dackel mit Hängebauch in Zeitlupe hinter seinem Herrchen herschlich. Der Hund war auch einfach viel zu dick, kein Wunder, dass der so lauffaul war. So langsam bekam er eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Namen, Herkules. Wenn Ilse, Karlssens Frau, bloß mal auf ihn hören würde, aber nein! Sie konnte es einfach nicht lassen, den Hund auch vom Tisch zu füttern. Dabei bekam er doch schon seine tägliche Ration Dosenfutter. Wahrscheinlich schloss Ilse von ihrem eigenen Appetit auf den des Hundes.

Aber Ilse war ja schon immer eine Wuchtbrumme gewesen. Eine rundum gesunde, überaus wendige Wuchtbrumme. Sie erklomm die Treppen in ihrer Doppelhaushälfte immer noch flinker als Karlssen, der schon nach den ersten vier Stufen nach Luft schnappen musste. Dabei war er doch so dünn.

Alles Quatsch, was die Ärzte erzählten, fuhr es ihm durch den Kopf. Er fröstelte. Es war früh am Morgen, die Sonne warf ihre ersten Strahlen auf den Alten Hafen, der Himmel war milchig blau. Die Schiffe lagen still im trüben Wasser, außer ihm und Herkules war noch niemand unterwegs. Wehmütig betrachtete er die alten Segelschiffe, dachte an vergangene Segeltouren mit seinem Freund Rudi. Aber der war ja nun auch schon tot.

Nutzlose Gedanken, wieder zerrte er am Halsband, und plötzlich sah er es. Es dümpelte neben dem Schiffsrumpf, hatte sich in einem der Seile verfangen. Werner Karlssen legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen. Das sah ja aus wie 

Er schluckte. Das sah nicht nur so aus wie ein Mensch, das war einer. Der Mensch lag auf dem Bauch, das Gesicht im Wasser, und er rührte sich nicht. Dieser Mensch war mit Sicherheit tot.

Karlssen schnappte nach Luft, wusste zunächst nicht, wohin, dann klemmte er sich den strampelnden Herkules unter den Arm und trabte los.

* * *

Fenja hatte den Wecker auf acht Uhr dreißig gestellt. Das hieß, sie würde ausgeschlafen, ausgeruht und mit einem reichhaltigen Frühstück im Magen um zehn Uhr dreißig im Zeugenstand stehen. Leider hatte sie vergessen, ihr Smartphone auszuschalten. Na gut, eigentlich nicht vergessen, sie hatte es einfach nicht für nötig gehalten. Die Gewaltdelikte in ihrem Zuständigkeitsbereich im Wittmunder Kommissariat hielten sich normalerweise in Grenzen. Aber was konnte man schon planen?

Jetzt drängelte sich ihr Klingelton um sechs Uhr zwölf in ihre Träume. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie im Schlaf gelächelt hatte, bevor sie den Anruf entgegennahm. Es musste wohl ein angenehmer Traum gewesen sein, aus dem die Marseillaise sie gerissen hatte. Warum sie die französische Nationalhymne zu ihrem Klingelton erkoren hatte, konnte sie auch nicht so genau sagen. Sie gefiel ihr einfach. Hatte so etwas Dynamisches, Kämpferisches. Wie auch immer, nach dem Anruf sah sie sich gezwungen, ihren Plan vom reichhaltigen Frühstück und vom Ausgeruhtsein über den Haufen zu werfen, schnellstmöglich in ihre Jeans und eine warme Jacke zu schlüpfen und sich zum Sielhafen zu begeben.

Wenn sie das richtig verstanden hatte, schwamm dort eine Leiche im Hafenbecken. Bendine, die in ihrem hellblauen verwaschenen Morgenmantel in ihrer Zimmertür gestanden hatte – wahrscheinlich war sie von Fenjas Halbschlafgepolter wach geworden –, hatte sie besorgt angesehen. Sie hielt es für unverantwortlich, das Haus ohne anständiges Frühstück zu verlassen.

Fenja passierte im Laufschritt die Cliner Quelle und bewältigte die kurze Strecke zum Alten Hafen an der Harle entlang in wenigen Minuten. Es versprach ein schöner Tag zu werden, denn der noch trübblaue Himmel war wolkenlos. Am Alten Hafen erwarteten sie wie immer mehrere Gaffer. Wo zum Kuckuck kamen die bloß schon wieder her? Sie schob protestierende Leiber beiseite und trat auch schon mal auf jemandes Fuß. Auf der Brücke stand ein Streifenwagen, die Beamten versuchten, die Gaffer zum Weitergehen zu bewegen. Zwei betreten schauende Feuerwehrmänner und der Notarzt erwarteten Fenja am Rand des Hafenbeckens. Vor ihren Füßen lag der leblose Körper einer Frau mit roten halblangen Haaren. Sie trug Jeans, eine beigefarbene Jacke mit Kapuze und schwarze Pumps. Oder besser gesagt einen Pumps, der andere Schuh fehlte. In ihrem Haar klebte Blut.

»Also«, sagte der Notarzt, der sich als Ralf Burmester vorstellte, »die Frau ist anscheinend ertrunken. Wahrscheinlich ist sie auf die Reling des Schiffes gestürzt, daher die Wunde am Kopf, und dann bewusstlos ins Wasser gefallen.«

»Ein Unfall also«, sagte Fenja, »wozu brauchen Sie mich dann?«

Burmester hob die buschigen Brauen und wies auf die linke Kopfseite der Toten.

»Weil ich das hier seltsam finde.«

Fenja folgte seinem Fingerzeig und betrachtete das zerrissene linke Ohrläppchen der Frau. »Ja, und? Ein abgerissener Ohrring, das ist wahrscheinlich beim Sturz passiert.«

»Das glaube ich eher nicht. Es gibt weder am Ohr noch in der umliegenden Region am Schädel irgendwelche Hämatome oder Verletzungen, und die gäbe es, wenn sie draufgefallen wäre oder irgendwo langgeschrammt. Sie ist aber mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, ins Wasser gefallen und ertrunken. Für mich sieht es so aus, als habe jemand den Ohrring festgehalten, als sie stürzte, der andere ist nämlich noch völlig intakt, sehen Sie?«

Fenja betrachtete das kegelförmige, etwa fünf Zentimeter lange Gehänge am rechten Ohr der Toten. »Vielleicht ist die Wunde ja schon älter?«, gab sie zu bedenken.

Burmester zog die Stirn kraus. »Wer läuft denn mit einem zerrissenen Ohrläppchen herum und lässt den anderen Ohrring drin? Außerdem ist die Wunde ziemlich frisch und dann … schauen Sie sich mal die Bluse an. Der obere Knopf ist rausgerissen. Könnte auch jemand in den Ausschnitt gegriffen haben.«

Fenja musste Burmester recht geben. Das war in der Tat merkwürdig, die Kleidung der Frau war sonst tadellos gepflegt. Fenja hatte nicht den Eindruck, dass das Opfer sich üblicherweise schlampig kleidete. Im Gegenteil, die Garderobe wirkte eher elegant.

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Da kann ich nur vage schätzen, mehrere Stunden. Ich denke, der Tod trat gegen Mitternacht ein.«

»Und Sie meinen, sie war nicht allein, als sie stürzte?«

»Gut möglich.«

»Okay«, sagte Fenja, »dann brauchen wir hier Verstärkung.« Sie blickte in die Runde. Außer Burmester stand niemand in Hörweite. Die beiden Feuerwehrleute waren damit beschäftigt, die Zuschauer auf Abstand zu halten.

»Ich muss Sie ja nicht darauf hinweisen, dass Diskretion in einem solchen Fall besonders wichtig ist«, ermahnte sie Burmester, während sie ihr Smartphone bearbeitete.

»Versteht sich ja von selbst«, brummte der und warf einen bedauernden Blick auf die Tote. »Sie war übrigens meine Patientin. Ihr Name ist … war Heike Bornum.«

Nachdem Fenja die nächste Verwandte von Heike Bornum, eine Tochter in Hamburg, gefunden hatte, bat sie die Kollegen vor Ort, sie zu informieren. Dann wartete sie noch auf die Ankunft der Spurensicherung und begab sich im Laufschritt zurück zur Pension ihrer Tante. Sie stiefelte hinauf in die erste Etage, wo sie eines der beiden Zwei-Zimmer-Apartments bewohnte. Ihr Zuhause war nicht besonders geräumig, aber äußerst gemütlich.

Bendine hatte die Pension erst vor wenigen Jahren komplett renoviert, die alten dunklen Möbel entsorgt und durch moderne, helle ersetzt. Die dichten Stores vor den Sprossenfenstern waren weißen schmalen Spitzenbordüren gewichen, sodass die Sonnenstrahlen ungehindert ihren Weg in die gute Stube fanden.

Fenja betrat das kleine Schlafzimmer, warf ihre Klamotten auf das französische Bett, duschte heiß und stand eine Viertelstunde später bei Bendine in der Küche. Sie nahm sich Kaffee und eins von den Croissants, die Bendines Freund Heini jeden Morgen vorbeibrachte, was ihn Fenja nur unwesentlich sympathischer machte. Heini Sammers nahm in ihrer persönlichen Rangliste der beliebtesten Zeitgenossen nicht gerade einen Spitzenplatz ein. Bendines Freundschaft zu ihm gehörte zu den wenigen Angelegenheiten, in denen Fenja mit ihrer Tante nicht einer Meinung war. Eine andere war Bendines Vorstellung von der Erziehung ihrer Enkelin Nele, der sechsjährigen Tochter von Fenjas verstorbener Kusine Stella. Nele hatte fast ihr ganzes Leben bei ihrer Oma verbracht, denn Stella war bei Neles Geburt gestorben, ohne den Namen des Vaters preiszugeben.

Bendine saß am Tisch und las im Anzeiger für Harlingerland. Als Fenja sich zu ihr setzte, nahm sie die Brille ab und sah ihre Nichte fragend an.

»Was ist denn da passiert? Hat sich angehört wie Katastrophenalarm.«

Fenja bestrich ihr Croissant mit Butter, biss hinein und kaute mit geschlossenen Augen. Bendine beobachtete sie neidisch.

»Weißt du eigentlich, wie viel Fett in so einem Croissant schon drin ist, ohne dass du noch Butter draufschmierst?«

»Mir egal«, seufzte Fenja und nahm einen Schluck Kaffee. »Und was am Hafen los war, wirst du früh genug erfahren. Allerdings …«, Fenja nahm sich von der Erdbeermarmelade und platzierte eine Portion auf dem Buttercroissant, »kennst du eine Heike Bornum?«

Bendine richtete sich auf. »Jaaa«, antwortete sie zögerlich, »sie leitet unseren Leseclub. Was ist mit ihr?«

»Tatsächlich?« Fenja hörte auf zu kauen. »Dann hast du sie gestern Abend noch gesehen?«

»Natürlich. Jetzt sag schon, was los ist.« Bendines Stimme zitterte ein bisschen.

Fenja sah ihre Tante mitfühlend an. »Sie ist tot.«

Bendine fasste sich ans Herz. »Du meine Güte, was ist passiert?«

»Ein Spaziergänger hat sie heute Morgen im Hafenbecken liegen sehen. Es sieht so aus, als wäre sie ertrunken.«

Fenja zog es vor, die Mordtheorie von Dr. Burmester zumindest so lange für sich zu behalten, bis die Spurensicherung und Dr. Friedrichsen, der Rechtsmediziner, sie bestätigten.

»Aber …«, Bendine schluckte, »… das kann nicht sein, ich … wir haben doch gestern Abend noch zusammengesessen, ich meine …«

Fenja fragte sich jedes Mal, warum Menschen so auf den Tod eines guten Bekannten reagierten: »Aber wir haben doch letzten Sonntag noch zusammen gegrillt« oder »Ich habe doch vor ein paar Tagen noch mit ihr telefoniert« oder »Wir waren doch gestern noch zusammen joggen«. Als ob ein kürzlich stattgefundener Kontakt mit einem Menschen dessen Tod ausschloss. Wahrscheinlich brauchte das Gehirn einfach ein wenig Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass dieser Mensch nun für immer auch aus dem eigenen Leben verschwunden war.

»Aber, wie kann sie denn im Hafenbecken ertrinken?« Bendine hatte sich gefasst. »Sie konnte doch schwimmen, soweit ich weiß, und hätte um Hilfe rufen können.«

»Wie es scheint, ist sie auf eines der Boote gefallen und dann bewusstlos ins Wasser gestürzt.«

»Herrje, dann ist sie wohl gestolpert. Was für ein Pech!«

Fenja fand, ihre Tante drückte sich ziemlich euphemistisch aus, ließ das Gesagte aber so stehen. Wenn an diesem Todesfall etwas nicht stimmte, dann würden ihre Tante und Carolinensiel früh genug davon erfahren.

»Wie lange genau hat der Leseabend gestern gedauert?«, fragte Fenja.

»Na ja, das muss so gegen zehn gewesen sein, als wir gegangen sind. Du weißt doch, wann ich nach Haus gekommen bin.«

»Weiß ich doch nicht, was du unterwegs noch alles anstellst, wenn du mit deinem Heini zusammen bist.« Fenja sah ihre Tante prüfend an. »Ihr seid doch gemeinsam heimgegangen, oder nicht?«

»Natürlich«, antwortete Bendine schroff, »du bist einfach gemein.«

Sie stand auf und setzte den Wasserkessel auf. Das machte sie immer, wenn sie erregt war. Eine Tasse Tee brachte sie dann wieder ins Gleichgewicht.

»Tut mir leid«, Fenja schämte sich, »ich weiß, dass du ihn magst. Ist ja auch okay.« Fenja trank ihren Kaffee aus und stellte ihre Tasse in die Spülmaschine.

»Genau«, Bendine schniefte, »es ist okay und sowieso meine Sache.«

Fenja legte ihrer Tante die Hand auf die Schulter. »Du hast ja recht. Sag mal … ist dir gestern irgendwas aufgefallen an Heike Bornum? War sie anders? Hatte sie vielleicht was getrunken?«

»Nein«, Bendine goss das sprudelnde Wasser in die Tasse. »es gibt zwar immer was zu trinken, Wasser, Bier, Saft. Heike trinkt … trank meistens Weißwein, die Männer und ich ein Jever oder zwei, aber wir saufen doch nicht.«

»War sonst irgendwas ungewöhnlich?«

Bendine fuhr sich über die kurzen grauen Haare. »Ja … und das ist seltsam. Heike war irgendwie fahrig, nicht so … überlegen wie sonst. Ich hab noch mit Heini drüber gesprochen, aber der fand, ich bilde mir das ein. Also … normalerweise ist … war Heike immer die Ruhe selbst, und«, sie verzog den Mund, »sie hatte ja eine Vorliebe für Knut. Der war mal Lehrer und tut immer so gebildet, aber gestern Abend hat sie auch mal ein bisschen genervt geguckt. Jedenfalls hatte ich den Eindruck. Normalerweise ist sie katzenfreundlich zu diesem Wichtigtuer.« Bendine überlegte einen Moment. »Meinst du, sie hat Drogen oder so was genommen und ist deswegen gestürzt? Also, das glaub ich nicht. Dann hätte sie doch torkeln müssen, und das hätte ich gemerkt.«

»Nicht unbedingt.« Fenja ging gedankenverloren zur Tür. »Wenn Leute an Drogen gewöhnt sind, merkt man das nicht ohne Weiteres.« Aber ob tatsächlich Drogen im Spiel waren, würde sie genau wissen, wenn die Obduktionsergebnisse vorlagen. Bis dahin hatte sie nur Vermutungen. Bevor Fenja die Küche verließ, fiel ihr noch etwas ein. »Sag mal, trug Heike Bornum gestern Abend Ohrringe? Kannst du dich daran erinnern?«

Bendine sah ihre Nichte verblüfft an. »Na du stellst vielleicht Fragen. Aber ja, Heike trug immer diese langen Gehänge. Vor allem, wenn Knut dabei war.« Sie verzog den Mund. »Schön fand ich die ja nicht … aber … warum willst du denn das wissen?«

»Einfach Routine«, antwortete Fenja mechanisch. »Ist dir an ihrer Kleidung was aufgefallen?«

Bendine kniff die Augen zusammen. »Eigentlich nicht, sie hatte sich fein gemacht, wie immer, wenn Knut dabei ist. Was meinst du denn genau?«

»Nichts Bestimmtes.« Fenja gab ihrer Tante einen Kuss und knatterte wenig später mit ihrem alten grünen Käfer nach Wittmund zum Gericht.

Als sie eine gute Stunde später in Wittmund das Kommissariat betrat, war die Anmeldung verwaist, und aus dem Büro, das sich Gesa Münte, Jannes Tiedemann und Geert Frenzen teilten, erscholl Gelächter. Offensichtlich war Kriminalrat Haberle außer Haus. Ach ja, der war bestimmt noch nicht wieder zurück vom achtzigsten Geburtstag seiner Tante Gertrud in Aurich.

Na, dann wollen wir die Party mal auflösen, dachte Fenja und marschierte in das Büro ihrer Kollegen. Die drei Kommissare standen mit dem Rücken zur Tür vor Gesas Schreibtisch, auf dem irgendetwas höchst Interessantes vor sich zu gehen schien, denn niemand bemerkte Fenjas Eintreten.

»Moin, Leute, spielt ihr Hütchenspiele, oder was ist so lustig?«

Die drei drehten sich abrupt zu ihr um und gaben den Blick auf die Schreibtischplatte frei. Fenja schnappte nach Luft. Auf dem Tisch saß ein … Plüschtier und nagte an einer Möhre.

»Moin, Fenja«, grunzte Tiedemann, »wollte nur kurz vorbeikommen und euch mein neues Haustier vorstellen.« Er wies auf das Plüschtier, das die Möhre mittlerweile vertilgt hatte und nun schnüffelnd nach Nachschub suchte. »Gestatten, das ist Schröder.«

»Ist der nicht süüß?«, quiekte Gesa, und Geert Frenzen meinte, so was wäre auch was für seine Tochter.

»Bist du verrückt?« Fenja wollte zwar keine Spielverderberin sein, aber ein Waschbär im Kommissariat, das ging nun wirklich zu weit. »Der nimmt doch hier alles auseinander. Bring das Tier weg!«

Fenja war an den Tisch getreten und schmunzelte unwillkürlich. Niedlich war er ja, der Schröder, wie er sich da so ausgiebig mit den Händen … oder besser den Vorderpfoten über das Gesicht fuhr.

»Nein, nein«, wiegelte Tiedemann ab, »den hab ich von meinem Bruder in Lüneburg, der hat ihn in seinem Garten gefunden, saß im Mülleimer fest. Und jetzt hab ich ihn.« Tiedemann grinste stolz und streichelte Schröder. »Der kann sogar Purzelbäume, guck mal!« Tiedemann machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger, lockte das Tier mit einem Stück Apfel, und im nächsten Moment kullerte der Waschbär über den Schreibtisch, um sich seine Belohnung abzuholen. »Oh guck mal«, Gesa warf entzückt die Hände an die Wangen. »Ist das nicht total genial?«

»Ja«, knurrte Fenja, »du darfst uns gerne mal zu einer Zirkusdarbietung zu dir nach Hause einladen, Jannes, aber jetzt ruft die Arbeit. Was machst du überhaupt hier? Du hast doch heute noch Urlaub.«

»Ja, ich wollte auch nur zum Tierarzt und dachte, ich zeig euch den Kleinen mal.« Tiedemann nahm Schröder vom Tisch und setzte ihn auf den Boden. »Also dann, wir gehen. Vielleicht üben wir noch ein paar Kunststückchen ein, dann geh ich mit ihm auf Tournee.« Tiedemann zwinkerte seinen Kollegen zu und führte Schröder, der brav hinter ihm hertrippelte, an der Leine hinaus.

»Wie ein Hund, nur putziger«, sagte Gesa und seufzte hingerissen.

»Okay, Leute«, Fenja setzte sich an Tiedemanns Schreibtisch, »es gibt Arbeit.«

Die beiden anderen nahmen ebenfalls an ihren Schreibtischen Platz.

»Du meinst die Tote vom Sielhafen, oder?«, fragte Gesa. »War das nicht ein Unfall, sie ist doch ertrunken, oder nicht?«

»Der Notarzt vor Ort, übrigens der Hausarzt meiner Tante, war anderer Meinung. Ich habe also die Spusi angefordert und die Leiche in die Rechtsmedizin transportieren lassen.«

»Was hat denn den guten Hausarzt dazu bewogen, an einen unnatürlichen Todesfall zu glauben?«

Geert Frenzen, der sich in den letzten Monaten im Fitnesszentrum einen beachtlichen Brustumfang antrainiert hatte, öffnete seinen obersten Hemdknopf und entblößte ein filigranes Goldkettchen mit einem Kreuz als Anhänger. Ein Talisman, den er seit der schwierigen Geburt der kleinen Tochter vor knapp einem Jahr nicht mehr abgelegt hatte. Der Schmuck wirkte lächerlich auf seiner behaarten Brust, aber Frenzen war abergläubisch. Und außerdem war Fenja überzeugt, dass der sportliche Ehrgeiz, den der Kollege neuerdings an den Tag legte, eine Folge der häuslichen Unruhe durch die zunehmende Mobilität der kleinen Rieke war. Im Fitnesszentrum hatte er seine Ruhe und brauchte nicht ständig seine krabbelnde und höchst neugierige Tochter zu überwachen.

»Er glaubt, dass die Tote nicht allein war, als sie ins Wasser fiel«, beantwortete Fenja Frenzens Frage, »und er schließt das aus einem abgerissenen Knopf, einem fehlenden Ohrring und einem eingerissenen Ohrläppchen.«

»Ach?« Gesa Münte wischte mit einem Taschentuch auf ihrem Schreibtisch herum.

»Und ich muss ihm recht geben«, fuhr Fenja fort. »Das ist seltsam. Laut meiner Tante hat sie nämlich gestern Abend noch beide Ohrringe getragen.«

»Und was hat deine Tante damit zu tun?«, fragte Frenzen.

»Die Tote war Leiterin eines Leseclubs, dem auch meine Tante und noch weitere elf Mitglieder angehören. Und der Club hat sich gestern Abend, wie jeden ersten Dienstag im Monat, im Sielhafenmuseum getroffen.«

»Also das finde ich jetzt ein bisschen weit hergeholt«, Gesa Münte warf das Tempotuch in den Papierkorb, »so einen Ohrring kann man sich doch sonst wo abreißen.«

»So einen nicht. Das war so ein glatter, langer Kegel, wüsste nicht, wie man damit irgendwo hängen bleiben soll, außer jemand reißt vorsätzlich dran herum.«

»Kann doch trotzdem schon eine Weile vorher passiert sein«, sagte Frenzen.

»Möglich«, meinte Fenja, »finde ich aber merkwürdig. Das tut doch weh, und das blutet vor allem. Wenn die Spusi auf ihrer Jacke etwas findet, wissen wir, dass es kurz vor ihrem Tod passiert sein muss. Außerdem war die Tote an dem Abend anders als sonst. Jedenfalls sagt das meine Tante. Na ja, bis wir die Ergebnisse aus dem Labor haben, werden wir die Anwohner am Alten Hafen und die Herren und Damen vom Leseclub mal ein bisschen ausfragen. Meine Tante müsste mittlerweile die Liste mit den Namen gemailt haben. Schau mal bitte im Posteingang nach, Gesa, und such die Adressen raus, die noch fehlen. Ich werde jetzt erst mal Dr. Hambrock anrufen.«

Fenja ging in ihr Büro, um diese leidige Aufgabe hinter sich zu bringen. Der Staatsanwalt war ein sturer, mürrischer Mensch, der allerdings mit einem scharfen, analytischen Verstand ausgestattet war. Wenigstens etwas, das den Mann auszeichnete. Fenja fragte sich nämlich immer wieder, wie ein Mensch mit der Eloquenz einer Stubenfliege es überhaupt zum Staatsanwalt hatte bringen können. Normalerweise erledigte den Kontakt Kriminalrat Haberle, und Fenja war heilfroh, dass er morgen wieder da sein würde.

Das Gespräch verlief wie erwartet, Fenja berichtete über den Todesfall, und Dr. Hambrock warf hin und wieder brummig eine Frage dazwischen.

Fünfzehn Minuten später befand sich Fenja zusammen mit Geert Frenzen bereits auf dem Weg nach Carolinensiel. Frenzen, der sich nur ungern in Fenjas alten Käfer setzte, »Da verrenke ich mir ja die Wirbelsäule«, folgte ihr im Dienstwagen und klebte während der gesamten knapp fünfzehn Kilometer provozierend an ihrer Stoßstange.

Frenzen sollte die Anwohner am Hafen übernehmen, doch Fenja glaubte nicht, dass sich dabei noch Hinweise ergeben würden. Wenn jemand dort zum Zeitpunkt des Todes etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hätte, dann hätte er sich doch gemeldet. Es sei denn natürlich, es handelte sich um einen Verdächtigen.

Fenja würde zunächst den Pensionär Knut Besemer aufsuchen und hoffte, den ehemaligen Deutschlehrer um diese Zeit zu Hause anzutreffen. Besemer wohnte am Schifferweg, nicht weit von der Cliner Quelle entfernt. Wenige Sekunden nach Fenjas Klingeln öffnete ein mittelgroßer, schlanker Mann in Jeans und blau-weiß kariertem Oberhemd die Tür. In der Hand hielt er ein Handy.

»Ja?«, fragte er und blickte Fenja aus grauen Augen unter buschigen Brauen an.

Die hielt ihm ihren Ausweis hin und stellte sich vor.

»Also stimmt es wirklich«, hauchte der Mann, »ist es Heike?«

Fenja nickte. »Darf ich hereinkommen?«

»Oh, Verzeihung, ich bin ganz durcheinander, ja, kommen Sie bitte.« Er trat zur Seite und ließ Fenja eintreten. »Gerade hab ich noch mit einer Bekannten aus dem Leseclub telefoniert. Wir können es gar nicht glauben, dass Heike … und dann so plötzlich.« Er ging voraus durch einen marmorgefliesten Flur und bat sie ins Wohnzimmer, dessen Wände fast komplett mit Bücherregalen bedeckt waren.

»Ich verstehe nicht recht, was die Polizei mit diesem Todesfall zu tun hat … Nehmen Sie doch Platz.« Er wies auf die schwarze moderne Polstergarnitur und ließ sich selbst in einem Ohrensessel nieder, der ihm eine gewisse Würde verlieh. Über der großzügigen Essecke hing das farbenfrohe Bild eines modernen Künstlers.

Fenja glaubte als Motiv eine Heidelandschaft zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Auf einer hellen Anrichte stand das Modell einer Yacht mit dem Namen »Eos«, der griechischen Göttin der Morgenröte. Ob Besemer der Welt mit diesem Namen etwas mitteilen wollte? Nach Fenjas Erfahrung wollten Deutschlehrer der Welt immer irgendetwas mitteilen. Besemer schien ihre Gedanken zu erraten.

»Aufbruch«, sagte er, »Morgenröte hat etwas mit Aufbruch zu tun, finden Sie nicht?«

Wusste ich’s doch, dachte Fenja. Laut sagte sie: »Schon möglich.«

»Tja, wie kann ich Ihnen denn nun helfen?«

»Es gibt einige Unklarheiten, die noch ausgeräumt werden müssen«, erklärte Fenja vage.

»Tatsächlich, was denn für Unklarheiten?« Besemer nahm eine Lesebrille von dem kleinen Tisch, der neben dem Sessel stand, und kaute an ihrem Bügel.

»Können Sie mir kurz den gestrigen Abend schildern? Welchen Eindruck hatten Sie von Heike Bornum?«

»Welchen Eindruck? Sie glauben doch nicht …? Also, sie war nicht betrunken, falls Sie das meinen. Ich weiß natürlich nicht, was sie gemacht hat, nachdem das Treffen vorbei war, aber …«, er schüttelte den Kopf, »Heike hat doch nicht getrunken.«

»Und wie lange hat das Treffen gedauert? Wann haben Sie Frau Bornum zuletzt gesehen?«

»Also, das muss gegen zehn gewesen sein. Wir haben uns wie immer verabschiedet, und jeder ist seiner Wege gegangen, soweit ich weiß.«

»Frau Bornum wohnte im Gartenweg. Ist sie allein aufgebrochen, oder hat sie jemand begleitet?«

»Also, das weiß ich wirklich nicht, ich bin mit Silke – Silke Husemann, sie gehört auch zum Club und wohnt am Kurzentrum – an der Harle entlang nach Haus gegangen. Was die anderen gemacht haben, weiß ich ehrlich gesagt nicht.«

»Wann sind Sie nach Haus gekommen?«

»Na ja, kurz nach zehn, vielleicht halb elf. Wir – Silke und ich – haben uns nicht beeilt, aber auch nicht getrödelt. Auf die Uhr gesehen hab ich allerdings nicht. Ich hab noch ein bisschen hier am Computer gesessen und bin dann ins Bett gegangen.« Besemer zwinkerte Fenja zu. »Kommt mir vor, als würden Sie mich nach meinem Alibi befragen.«

»Man weiß nie«, sagte sie, legte ihre Karte auf den Tisch und stand auf.

Besemer erhob sich ebenfalls. »Also, jetzt mal ehrlich, Heike ist doch ins Wasser gefallen und ertrunken, oder hab ich da was falsch verstanden?«

»Sieht zumindest so aus«, antwortete Fenja und begab sich zur Tür. »Ach ja«, sie wandte sich noch mal um. »Darf ich mal Ihre Hände sehen?«

»Wie bitte?«

»Ihre Hände. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«

Besemer starrte sie ungläubig an, hob dann seine Hände und wedelte mit ihnen herum wie jemand, der einen Zaubertrick vorführt und den Zuschauern zeigen will, dass sie leer sind.

»Zufrieden? Darf ich fragen, wozu das gut sein soll?«

»Nichts weiter«, antwortete Fenja, »nur so eine Idee.«

Sie überlegte noch, ob es Sinn machte, Besemer nach den Ohrringen und dem fehlenden Knopf zu fragen, entschied sich dann aber dagegen. Männer achteten gewöhnlich nicht auf derlei Dinge, und diese Details wollte sie zunächst noch für sich behalten.

Fenja verließ Besemer, von dem sie nicht den Eindruck hatte, dass er unter seinem Witwerdasein litt. Sie machte sich auf den Weg zu Silke Husemann, die kaum dreihundert Meter entfernt am Kurzentrum wohnte. Ihren Käfer hatte sie bereits zu Hause in der Garage abgestellt. Alle Zeugen, die sie befragen wollte, wohnten vor Ort, und Carolinensiel war gut zu Fuß zu bewältigen.

Silke Husemann wohnte in einem rot verklinkerten einstöckigen Haus mit gepflegtem Vorgarten. Staudengewächse rahmten mit weißen Kieseln bedeckte Gartenwege. Die hüfthohe, akkurat gestutzte Buchsbaumhecke ersetzte den Gartenzaun.

Als Fenja auf die Haustür zusteuerte, nahm sie hinter den weißen Häkelgardinen am Fenster neben der Tür eine Bewegung wahr. Aha, dachte sie, Silke Husemann erwartete sie bereits. Wahrscheinlich wusste mittlerweile ganz Carolinensiel nebst Harlesiel, was am Alten Hafen passiert war. Fenja hoffte, dass Tante Bendine den Mund hielt und die Sache mit dem Ohrring nicht ausplauderte. Fenja wollte das nicht an die große Glocke hängen. Glücklicherweise war Bendine keine Klatschbase.

Noch bevor Fenja den Klingelknopf betätigen konnte, wurde die Tür von einer attraktiven Endfünfzigerin mit kurzem kastanienbraunen Haar aufgerissen. Sie hielt sich ein Tempotaschentuch unter die Nase und schniefte geräuschvoll.

»Sie sind von der Polizei.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Entweder hatte Knut Besemer sie angekündigt, oder man sah ihr die Kommissarin an. Vielleicht sollte sie sich besser tarnen, dachte Fenja, aber wie?

»Knut hat gerade noch mal angerufen und gesagt, dass Sie da waren«, erklärte Silke Husemann und bat Fenja herein. »Sie müssen die Unordnung entschuldigen, aber ich konnte mich heute noch nicht um die Hausarbeit kümmern. Diese Sache mit Heike ist ja wirklich ein Schock«, plapperte Husemann weiter und ging voraus in ein helles Wohnzimmer.

Fenja setzte sich auf die apricotfarbene Couch und fragte sich, von welcher Unordnung Husemann da redete und wie sie den Zustand von Fenjas Apartment dann wohl bezeichnen würde.

»Ja, das ist eine schlimme Sache«, sagte Fenja und legte ihre Karte auf den blitzsauberen Glastisch.

»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Das geht ganz schnell mit meiner Maschine.«

Husemann wollte sich schon auf den Weg in die Küche machen, aber Fenja lehnte dankend ab. Schließlich war das hier kein Kaffeekränzchen, dachte sie und argwöhnte, dass Silke Husemann eine sehr neugierige Person war.

»Wenn Sie meinen.« Husemann setzte sich Fenja gegenüber und sah sie erwartungsvoll an. »Wie ist das Ganze denn bloß passiert? Heike war doch so ein vorsichtiger Mensch. Wie kann sie denn einfach umkippen? Getrunken hatte sie ja wohl nicht, soweit ich das beurteilen kann. Hatte sie vielleicht einen Schlaganfall oder Herzinfarkt oder so was und ist dadurch ins Hafenbecken gefallen …?«

»Das müssen wir alles noch herausfinden.« Fenja sprach etwas lauter als gewöhnlich, vielleicht ließ Husemann sich ja dadurch beeindrucken und hielt für einen Moment die Klappe, dachte sie ungehalten. »Wann haben Sie denn gestern den Leseclub verlassen?«

»Na ja, am Schluss natürlich, als alle gegangen sind. Das muss so um zehn gewesen sein. Und dann bin ich mit Knut zusammen nach Haus gegangen.«

»Wann sind Sie heimgekommen?«

»Ja, zwanzig bis dreißig Minuten später, eben so lange, wie der Weg dauert vom Alten Hafen bis hierher, sind ja nur ein paar hundert Meter. Allerdings haben wir uns nicht beeilt, wir sind an der Harle entlanggegangen und dann an der Cliner Quelle vorbei, es war so ein schöner Abend.« Husemann seufzte schwärmerisch.

»Sie leben allein hier?«

»Ja, ich bin geschieden. Mein Mann … na ja, da will ich jetzt gar nicht drüber reden. Das wäre eine endlose Geschichte, aber bis vor drei Monaten hat meine Mutter noch hier gelebt. Aber die ist jetzt im Heim. Das ging gar nicht mehr, wissen Sie. Ich habe ja alles versucht, sie hierzubehalten, aber man muss sich irgendwann eingestehen, dass man überfordert ist. Meine Mutter hatte vor knapp einem Jahr einen Schlaganfall und ist seitdem … na ja, Sie wissen schon.« Husemann beschrieb mit dem Zeigefinger kleine Kreise neben ihrem Kopf. Das sollte wohl heißen, dass die Mutter durchgedreht war, schlussfolgerte Fenja. »Und mein Sohn wohnt mit seiner Freundin in Aurich. Er hat gerade sein Studium beendet und arbeitet jetzt bei der Volksbank …«

»Aha«, durchbrach Fenja den Redeschwall, »ist Ihnen vielleicht gestern Abend etwas aufgefallen? War Frau Bornum anders als sonst? Hatten Sie den Eindruck, dass es ihr nicht gut ging? Oder hat sie etwas gesagt, das uns weiterhelfen könnte? Hatte sie vielleicht noch etwas vor?«

Silke Husemann zog die Stirn kraus und kniff die Lippen zusammen. Es war offensichtlich, dass sie liebend gern etwas Relevantes zu sagen gehabt hätte. Dann schüttelte sie widerwillig den Kopf.