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Bettina von Kleist
Mein Mann liebt einen Mann

Bettina von Kleist

Mein Mann

liebt einen Mann

Wie Frauen das Coming-out
ihres Partners bewältigen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Juli 2016

entspricht der 1. Druckauflage vom September 2003

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32 - 0

Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: KahaneDesign, Berlin

unter Verwendung eines Fotos von Arno Kiermeir

Lektorat: Heike Olbrich, Andernach

ISBN: 978-3-86284-344-2

Inhalt

Vorwort

Wenn die andere ein Mann ist

Bisexualität: Sexuelle Orientierung oder Tarnbegriff?

Wahl eines schwulen Partners

Die unbewusste Wahl: Der Reiz des Unbekannten

Die bewusste Wahl: Ein untypischer Mann

Warum homosexuelle Männer eine Familie gründen

Laura Brahms: »Ich dachte, ich sei die Frau, die ihn auf die andere Seite zieht«

Wenn der Verdacht zur Gewissheit wird

Zwischen Wissen und Nichtwissenwollen

Auf Schleichwegen zur Wahrheit – Signale der Männer

Cornelia Hagen: »Ich habe mir die Augen ausgeheult«

Lore Schütz: »Liebe macht blind. Und ich fühlte mich wohl dabei«

Wechselbad der Gefühle

Plötzlich wird alles ungewiss

Wie Frauen auf den Liebesverlust reagieren

Das Stadium der Konfusion

Marie Stern: »Am schlimmsten sind die Lügen«

Karen Helms: »Manchmal habe ich nur noch Hass auf den Kerl«

Rosemarie Kohn: »Sein Verstand rutscht in die Unterhose«

Ende des Versteckspiels

Der Kampf an vielen Fronten

Großmut oder Selbstaufgabe?

Partner des Mannes – integrieren oder ausgrenzen?

Reaktionen des sozialen Umfeldes

Barbara Mühlen: »Man fällt aus jeder Norm«

Johanna Tannen: »Wir spielen Familie. Aber wir sind es nicht mehr«

Trennung mit Trauschein

Räumliche Trennung

Warum Frauen sich nicht scheiden lassen

Gründe für die Trennung

Martina Koch: »Ich habe vieles ausgeblendet, damit er in meine Welt passt«

Hannah Kerzin: »Ich bin auf die nächste Stufe der Liebe gekommen«

Brigitte Weißfeld: »Zum Trost stellte er mir manchmal was Schönes hin«

Seitenwechsel

Wie Männer das Coming-out schildern

Das neue Leben

Claus Grieger: »Es kommen in mir andere Teile zum Schwingen«

Verteidigung des Glücks

Den eigenen Frieden wiederfinden

Wege aus dem Tief

Birgit und Heiner Pfeifer: »Unsere Ehe war nie ein sicherer Hafen«

Gislinde Seifert: »Wir haben uns unglaubliche Dinge zugemutet«

Michael Henning: »Ich machte ihren Liebhaber zu meinem«

Schlusswort

Erste Krisenhilfe für betroffene Frauen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über die Autorin

»Sie waren einander verfallen und vermieden,
sich kennen zu lernen.«

Hans Arndt, Im Visier

Vorwort

Ein Buch zu einem Thema, das mein eigenes Leben betrifft? »Es wird dir helfen, Erlebtes zu verarbeiten, aber vielleicht ist es noch zu früh«, meinten Freunde, als ich vor zwei Jahren begann, Partnerinnen homosexueller Männer zu befragen. Damit griff ich ein Thema auf, mit dem ich mich vor langer Zeit schon einmal beruflich beschäftigt hatte. Damals stellte ich mir diese Beziehungskonstellation zwar als schwierig vor, jedoch bot sie aus meiner Sicht im besten Fall auch die Chance, den Lebensrahmen weit zu stecken und kleinmütige Besitzansprüche zu überwinden. Dass mich das Thema selbst jemals einholen würde, ahnte ich nicht.

Heute weiß ich, dass ich die Last des geheimen Doppellebens und die Auswirkungen des Coming-out auf das Familienleben damals nicht annähernd ermessen konnte. Merkwürdig leichtfertig kam mir später mein Blick auf die vielen Facetten des Begehrens und auf die Grenzgänger der Liebe vor, als ich in meiner größten Krise steckte.

In diesem Buch berichten 13 Frauen und drei Männer im Schutz der Anonymität über einen Lebensumbruch, der noch immer umgeben ist von Schweigen. Meine Interviewpartnerinnen und -partner sprechen über ein Tabu. Freunde, Verwandte und Beratungsstellen vermittelten mir die Kontakte. Während ich einige Frauen seit geraumer Zeit kenne, gewährten mir andere in langen Gesprächen Einblick in ihre Lebenswende. Alle Frauen zeichnete die Fähigkeit aus, Dinge von mehreren Seiten zu betrachten. Die mit dem Coming-out häufig verbundene Selbstbezogenheit ihres Mannes und seine oft rigorose Aufkündigung der geltenden Familienregeln treffen Frauen bis ins Mark, weil sie sein Verhalten oft nicht mehr mit dem Bild vom zuverlässigen Partner vereinbaren können, den sie gewählt haben.

Viele Frauen waren bewegt und aufgewühlt, als sie die Zeit zwischen Verdacht und Wissen, zwischen ersten Signalen und dem Bekenntnis ihres Partners in ihrem Bericht noch einmal durchlebten. Die Hoffnung, anderen betroffenen Frauen zu helfen, gab oft den Ausschlag dafür, ihre Geschichte zu erzählen. An dieser Stelle danke ich meinen Gesprächspartnern und -partnerinnen für ihr Vertrauen. Ihre unterschiedlichen Geschichten zeigen, dass es »das typisch betroffene« Paar nicht gibt. Die Beziehung zu einem homosexuellen Mann ist kein Gleichmacher. So verschieden wie die Frauen sind auch ihre Wege, nach dem Coming-out ihrer Partner eine andere Lebensform zu finden. Dennoch lassen sich in ihren Berichten Parallelen erkennen. In vielerlei Hinsicht erleben und erleiden sie etwas anderes als die Frauen, deren Partner eine Geliebte haben.

Dieses Buch will Frauen ermutigen, den Teufelskreis von Lügen und Leugnen zu durchbrechen. Es will ihnen helfen, das Dickicht widersprüchlicher und verworrener Gefühle zu lichten. Nichts ängstigt mehr, als Veränderungen ausgesetzt zu sein, die man sich nicht erklären kann. Ursachen zu erkennen und Verhaltensweisen zu verstehen ist der erste Schritt, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden. Das Buch möchte betroffenen Frauen helfen, zwischen Weitherzigkeit und Selbstverleugnung zu unterscheiden und klarer einzuschätzen, was der sexuelle Seitenwechsel bewirkt und welche Eigenschaften er vielleicht nur verstärkt. Es möchte dazu beitragen, dass Männer die Gefühle ihrer Partnerin nicht aus dem Blick verlieren und sorgsam mit Verletzungen umgehen. Auch an Verwandte und Freunde betroffener Frauen richtet sich dieses Buch: Wenn nichts mehr gewiss ist, sind sie oft ein lebensnotwendiger Halt. Ihr Verständnis für einen komplizierten seelischen Prozess gibt betroffenen Paaren ein Stück Heimat, wenn sie zu fremden Ufern aufbrechen.

Berlin, im Juni 2003

Bettina v. Kleist

Wenn die andere ein Mann ist

Je nach Blickwinkel als spannend oder verworren etikettiert, sind unkonventionelle Verhältnisse fast immer ein Objekt der Neugier. Was für eine Ehe führt der Professor, der seit Jahren wechselweise mit seiner Frau in Bonn und mit seinem Freund in Berlin eine Wohnung teilt? Wie erträgt es die Redakteurin, dass ihr Lebensgefährte jede Woche für 24 Stunden in die schwule Szene abtaucht? Was gibt einer dreifachen Mutter den Mut, nach dem homosexuellen Coming-out ihres Partners nochmals schwanger zu werden? Und trennte sich die Nachbarin deshalb von ihrem Mann, weil sie von dessen schwulem Doppelleben erfuhr?

Takt und Diskretion halten jedoch viele Menschen davon ab, mit Paaren über den Spagat zwischen Frau und Freund oder den Hintergrund ihrer Trennung zu reden. Selbst dann, wenn Paare ihre dauerhafte Dreiecksbeziehung nicht verhehlen, empfinden Nachbarn und Bekannte, aber auch Freunde und Verwandte es häufig fast als ungehörig, dass sie von den homosexuellen Kontakten des Mannes Kenntnis haben. Für den allenfalls flüchtigen Blick hinter die Familienkulisse wird meist als Grund angegeben, die Privatsphäre anderer nicht verletzen zu wollen. Auch die liberale Einstellung »Jeder soll lieben, wen er will« ist oft mit der Scheu verbunden, den Deckel über dem Geheimnis zu lüften.

Wie viele Frauen mit dem Verdacht leben, dass ihr Mann auch Männer liebt, oder das Coming-out ihres Partners bewältigen müssen, lässt sich nur schätzen. Erhebungen zufolge bevorzugen fünf bis zehn Prozent aller Männer sexuell ihr eigenes Geschlecht oder bezeichnen sich als bi.1 Experten glauben, dass jeder fünfte schwule Mann und jede dritte lesbische Frau Kinder hat und es in Deutschland mindestens eine Million homosexuelle Eltern gibt.2 Etwa 40 Prozent der Männer, die in der schwulen Szene verkehren, leben oder lebten mit einer Frau zusammen.3 Nicht zuletzt die Anzahl der Beratungsangebote zeigt, dass der sexuelle Seitenwechsel so ungewöhnlich nicht ist. Immer mehr Homosexuelle befreien sich aus dem gesellschaftlichen Randdasein. Eine immer größere Anzahl von Familienvätern bekennt sich dazu, schwul zu sein.

Doch ihre Partnerinnen kommen im öffentlichen Bewusstsein kaum vor. Während homosexuelle Männer im schwulen Netzwerk Unterstützung erhalten, fühlen Frauen sich nach dem Coming-out ihres Partners oft völlig isoliert. Scham und die irrtümliche Annahme, dass kaum jemand ihr Schicksal teilt, sind Gründe, weshalb viele Frauen allein eine Situation bewältigen, die nicht nur den Verlust des Partners bedeutet, sondern meist auch die eigene Identität erschüttert und alles – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – in Frage stellt.

Viele Frauen, deren Partner sich Männern zuwendeten, berichten von einer Phase, in der sie sich von aller Welt verlassen und von ihrem Mann entwertet und ausgebootet fühlen. Dass die andere ein Mann ist, löst bei vielen Frauen besondere Verlustängste aus. Sie sind wehrlos, werden nie mit dem Rivalen konkurrieren können. Andere Frauen reagieren gelassener, als es bei einer Rivalin der Fall wäre. Da sie mit einem Mann ohnehin nicht wetteifern können, wird ein homosexuelles Verhältnis nicht in dem Maße als Bedrohung empfunden. Während einige berichten, dass sich ihre Phantasie gerade am Fremden entzündet, sagen andere, dass die Sexualität zwischen Männern sich schonungsvoll ihrer Vorstellungskraft entzieht.

Bisexualität: Sexuelle Orientierung oder Tarnbegriff?

Der Modeschöpfer Wolfgang Joop beschreibt seine bisexuelle Lebensweise »als emotionale Potenz, auf die ich stolz bin« und erläutert den Kick: »Rollenwechsel und Tabubruch finde ich erotisch. Natürlich habe ich den Helden gespielt bei Frauen, obwohl es mich manchmal angestrengt hat. Ich finde es verlockend, auch mal eine andere Seite zu zeigen, die Seite des Opfers einem Mann gegenüber, oder ihn dazu zu bringen, den Helden zu spielen vor mir. Ich kann eine Frau auch ganz anders verführen als einen Mann.«4

Auch der Sexualwissenschaftler Oswalt Kolle bricht eine Lanze für die bisexuelle Lust. Im Buch mit dem anzüglich plastischen Titel »Nach beiden Seiten offen« bedauern er und seine Koautorin Sabine zur Nieden, dass Bisexualität der Ruf anhafte, die feigere Version der Homosexualität und die begriffliche Tarnung schwuler Neigungen zu sein. Selbst unbeschwert zwischen den Geschlechtern wechselnd, stellte sich für Kolle jedenfalls noch nie die Frage, ob er eigentlich ein verkappter Schwuler sei, schreibt er. Er schildert seine gelegentlichen Beziehungen zu Männern als Vergnügen, das das Spektrum erotischer Genüsse erweitere: »Es waren glückliche Stunden mit großer Lust (…) Schwieriger war es mit Männern, die ihre offene oder verborgene Angst vor Homosexualität nicht vergessen konnten, auch in den orgiastischen Momenten noch Furcht vor den lustvollen Berührungen durch einen anderen Mann zeigten, aber dann doch selbst lachen mussten, wenn ich ihnen sagte, sie seien doch deshalb nicht etwa homosexuell, sondern nur über ihren eigenen Schatten gesprungen und im Wesen eben offen für beide Geschlechter wie ich auch.«5

Der Trend zur doppelten Lust

Keine Frage: Der Flirt mit der doppelten Lust gedeiht besonders im großstädtisch künstlerischen Milieu. Immer fließender wird der Übergang zwischen den Geschlechtern. Nicht nur im androgynen Kleidungsstil, auch im Lebensentwurf weichen ehemals gültige Rollenmuster mehr und mehr auf. Der renommierte Sexualforscher Gunter Schmidt, Professor an der Universität Hamburg, stellt die These auf, dass die Heterosexualität ihre Vorreiterrolle verlieren und durch eine Vielzahl sexueller Orientierungen ersetzt werden wird.6

Dennoch: Als lediglich eigenwillige Variante wird die gleichgeschlechtliche Liebe auch heute noch nicht angesehen. Obwohl Geschichte und Gegenwart nicht gerade arm sind an verheirateten Männern, deren schwule Beziehungen bekannt wurden: Friedrich der Große, Baudelaire, Heinrich Heine, Tschaikowsky, Marcel Proust, Gustav Gründgens, James Dean, Horst Buchholz, Mick Jagger, David Bowie. Die Verbindung von Graf Eulenburg mit Wilhelm I. erschütterte das damalige Kaiserreich. William Sommerset Maughams Ehe wurde aufgrund seiner Homosexualität geschieden. Der Schauspieler Ernie Reinhardt – alias Lilo Wanders ausschließlich in Frauenkleidern auf der Bühne – lebte mit Frau, Freund und seinen Kindern zusammen. Colette, Greta Garbo, Käthe Kollwitz, Marlene Dietrich, Frida Kahlo, Inge Meysel, Gianna Nannini gehören zu den Frauen, die außer Männern auch Frauen liebten.7 Auch heute jedoch kommt die Mitteilung, verheiratet und homosexuell zu sein, einem Bekenntnis gleich. Das Eingeständnis, dass der eigene Mann auch Männer liebt, die eigene Frau auch Frauen, bricht mit gesellschaftlichen Normen.

Die Dunkelziffer betroffener Paare ist hoch. Mehrere hunderttausend Frauen leben nach vorsichtiger Schätzung mit einem Mann zusammen, der sexuelle Kontakte zu Männern hat, manchmal sogar mit ihrem Wissen.8 Oft viele Jahre und mitunter das ganze gemeinsame Leben, ohne dass die Ehefrau von der schwulen Veranlagung ihres Partners erfährt.

Forschung mit Scheuklappen

Will man die Kontroverse vereinfachen, ob Menschen von Natur aus sexuell festgelegt sind, oder ob gesellschaftliche Moralvorstellungen sie im Bett in ein Korsett zwängen, bilden sich zwei Ansichten heraus. Während viele Wissenschaftler annehmen, dass sich nach der Pubertät eindeutig die hetero- oder homosexuelle Veranlagung herausschält, gehen andere davon aus, dass im Grunde alle Menschen auch danach noch bisexuelle Neigungen haben. Dass heterosexuelle Menschen oft gleichgeschlechtliche Erfahrungen sammeln, bewies zum ersten Mal der amerikanische Sexualwissenschaftler Alfred C. Kinsey, als er im Jahre 1948 Männer (und fünf Jahre später Frauen) in einer bis heute einzigartigen Studie nach ihren Sexualpraktiken und Phantasien befragte. Auf einer siebenstufigen Skala von ausschließlich heterosexuellen bis zu homosexuellen Neigungen kreuzten Probanden ihre sexuelle Veranlagung an und erbrachten den Beweis, dass viele Menschen zu Zwischengraden neigen. 46 Prozent aller Auskunft gebenden Männer verhielten sich zeitweise bisexuell oder berichteten, dass beide Geschlechter auf sie erregend wirken.9

Wie sensationell beziehungsweise skandalös das Ergebnis seiner Erhebung war, lässt sich ermessen, wenn man bedenkt, dass Homosexualität über Jahrhunderte verteufelt wurde. Während homo- und bisexuelle Verhaltensformen in der Antike üblich und geachtet waren, wurden sie im Mittelalter als Todsünde verdammt und in der Neuzeit als Krankheit eingestuft.10

Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts setzte voraus, dass Frauen und Männer erotisch »normalerweise« nur auf das andere Geschlecht reagieren. Die vermeintlich objektiven Forschungsergebnisse, die bei Homo- und Bisexuellen seelische und geistige Fehlentwicklungen diagnostizierten, entbehren aus heutiger Sicht nicht der Komik. Mit wissenschaftlichem Eifer vermaß beispielsweise der Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper Ende des 19. Jahrhunderts homosexuelle Hinterteile und stellte an den Pobacken »dutenförmige Einsenkungen« fest. Der französische Wissenschaftler Ambroise Tardieu vertiefte sich bei 200 »Subjekten« in die Sonderform des Penis und wurde prompt fündig, was anatomische Abweichungen betraf.11

Für die Betroffenen war die gesellschaftliche Diskriminierung folgenschwer. Als abnorm und gefährlich klassifiziert, standen Homosexuelle oft vor dem Ruin ihrer bürgerlichen Existenz, sofern ihre Veranlagung publik wurde. Erst 1994 wurde in West-Deutschland der Paragraph 175 abgeschafft, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte.

Beim Blick in die Seele und in die Betten der Deutschen entdecken Sexualwissenschaftler auch heute noch eine tief verwurzelte Homophobie. Während Frauen Zärtlichkeiten austauschen dürfen, ohne gleich als lesbisch zu gelten, würden Berührungen zwischen Männern als Ausdruck bisexueller Neigung gedeutet und diese Neigung schnell als Homosexualität stigmatisiert, rückt Oswalt Kolle kritisch Vorurteile zurecht. (Ob er etwa allerdings selbst gesellschaftlichen Vorbehalten aufsitzt, indem er betont, auf keinen Fall schwul zu sein?)

Homo, hetero oder bi?

In ihrem Buch »Wenn die andere ein Mann ist« unterscheidet die Soziologin Brigitte Honnens, die an der Universität Bremen das Institut Schwul-Lesbische Studien mitbegründete, zwischen a) dem eher homosexuellen Mann, b) dem bisexuell veranlagten und c) dem unklar Definierten.12

a)Nach ihrer Definition hat der homosexuelle Mann seine Triebstruktur schon immer geahnt oder gewusst, oder er hat insgeheim befürchtet, schwul zu sein, wobei Honnens die Möglichkeit einräumt, dass manche homosexuellen Männer ihre Veranlagung erst im Laufe der Ehe erkennen.

b)Wie die Soziologin bemerkt, muss der Begriff Bisexualität oft als Sammelbecken für Lebens- und Liebesformen herhalten, die nicht mit den eindeutigen Kategorien Hetero- und Homosexualität zu fassen sind. Männer und Frauen, die beide Geschlechter gleichermaßen begehren, sind bisexuell. Nicht zuletzt die Gründung bisexueller Netzwerke zeigt, dass es eine beträchtliche Anzahl von Männern und Frauen gibt, die offen hetero- wie homosexuelle Partnerschaften eingehen, manchmal parallel, manchmal nacheinander, manchmal im Wechsel. Da viele offen Schwule und Lesben über heterosexuelle Erfahrungen verfügen und, umgekehrt, auch manche Heterosexuelle schon mal ein gleichgeschlechtliches Verhältnis hatten, bleibt bisexuell ein dehnbarer Begriff. Weder »Fisch noch Fleisch«, werden Bisexuelle von beiden Seiten ausgegrenzt. Heterosexuelle wenden sich oft ab, weil Bisexuelle mit ihrer polygamen Lebensweise tradierte Normen überschreiten, weil sie anders und fremd sind. Schwule begegnen ihnen mit Skepsis und Distanz, weil sie nicht eindeutig anders, sondern – sozusagen auf einem Bein – noch immer »normal« sind. Wie kompliziert es ist, sexuelle Verhaltensweisen zu etikettieren, zeigt der Umstand, dass homosexuelle Männer auch dann in der »Schwulen-Ecke« bleiben, wenn sie sich in eine Frau verlieben. Das Bekenntnis »ich bin homosexuell« ist biografisch offensichtlich irreversibel. Heterosexuelle Männer, die mit einem Mann ein Verhältnis haben, verlieren hingegen ihre ehemalige eindeutige Zugehörigkeit und landen in der Schublade »bi« oder werden als getarnte Schwule angesehen. Bleibt man gleichwohl bei der begrifflichen Unterscheidung, so zeichnen sich Bisexuelle dadurch aus, dass ihre erotischen Gefühle mehr von der Persönlichkeit eines Menschen als von dessen Geschlecht abhängen, während für schwule oder heterosexuelle Menschen das Geschlecht den Ausschlag gibt, ob jemand als Liebespartner in Frage kommt.

c)Im Unterschied zu Bisexuellen befindet sich nach Brigitte Honnens’ Einteilung der unklar Definierte im Suchprozess. Äußere Umstände, wie zum Beispiel ein langer Aufenthalt in einer reinen Männergesellschaft, schlimmstenfalls im Gefängnis, Experimentierfreude und Neugier sowie psychische Faktoren begünstigen die – zeitweilig – homosexuelle Umorientierung.

Von Psychologen als Homosexualität im Dienste der Abwehr eines seelischen Konflikts definiert, lindert das gleichgeschlechtliche Verhältnis emotionale Armut oder dient mangels gegengeschlechtlicher Partner als sexueller Notbehelf und pragmatische Übergangslösung.13

Dass verheiratete homosexuelle Männer neben einem Liebhaber auch noch Frauenaffären haben, ist eines der verblüffenden Ergebnisse des Leipziger Sexualforschers Kurt Starke. In der zu Ende gehenden DDR befragte Kurt Starke 546 homosexuell orientierte Männer zu ihrem Sexualverhalten. Trotz ostdeutscher Eigenheiten korrigiert die 1994 veröffentlichte Studie »Schwuler Osten« das Bild des triebgesteuerten Schwulen und unterstreicht ebenfalls, wie fließend die Übergänge sexueller Orientierungen sind. Obwohl sich 89 Prozent der Männer als homosexuell und nur sieben Prozent als bisexuell bezeichnen (vier Prozent ordnen sich anders oder gar nicht ein), gab knapp die Hälfte der Männer an, auch heterosexuelle Erfahrungen zu haben. Jeder zehnte Mann ging während einer festen Partnerschaft mit einer Frau sowohl mit Männern als auch mit anderen Frauen ins Bett, wobei die Partnermobilität in den mittleren Jahren (25 bis 40 plus) steigt. In dieser Überkreuz-Konstellation erstaunt es kaum mehr, dass 44 Prozent der Männer berichteten, auch mit heterosexuellen Männern Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Ihren One-Night-Stand oder ihren Liebhaber ordneten sie durchaus nicht immer dem schwulen Lager zu.14

Wahl eines schwulen Partners

Die unbewusste Wahl: Der Reiz des Unbekannten

Es geschieht eher selten, dass Frauen wissentlich einen schwulen Partner wählen und heiraten. Frauen, die von vornherein die homosexuelle Veranlagung ihres Partners kennen, lassen sich häufig von der schmeichelhaften Vorstellung leiten, die Ausnahmefrau zu sein. Die Illusion, dass sie ihren Mann bekehren und von seiner homosexuellen Veranlagung »heilen« können, ermutigt Frauen, trotz der Vergangenheit ihres Partners die Ehe mit ihm einzugehen. Zumindest zu Beginn der Bekanntschaft erhöht die Mitteilung, dass ihr Geliebter über homosexuelle Erfahrungen verfügt, mitunter sogar das Interesse an ihm. Der Normbruch, der Reiz des Unbekannten und Unkonventionellen wirkt besonders auf Frauen, die sich in einer traditionellen Partnerschaft eingeengt gefühlt haben und für sich selbst Autonomie beanspruchen.

Aber nicht nur Vertrauen in die eigene Potenz und die Hoffnung, aus ihrem Partner die dauerhafte Hinwendung zum weiblichen Geschlecht »herauslieben« zu können, veranlasst Frauen, sich an einen schwulen Mann zu binden. Abgesehen von gesellschaftlichen Vorteilen (die so genannte gute Partie) können auch geringes Selbstvertrauen und Zweifel an der eigenen weiblichen Attraktivität Gründe sein, sich einen Partner auszusuchen, der zur gesellschaftlichen Minderheit gehört und ebenfalls Abschätzung zu spüren bekommt. Einigen Frauen passt ein untypischer Mann gut ins Lebenskonzept, da sie sich selbst als Außenseiterin empfinden. Auch die bedrückende Ehe der Eltern begünstigt die Wahl eines anderen Beziehungsmodells.

Einige Frauen verbergen vor ihrem Partner ihre Mitwisserschaft. Aus Furcht, schlafende Hunde zu wecken, aus Angst, das Pendel durch Herbeireden zur anderen Seite ausschlagen zu lassen, lassen sie sich auf das Wagnis einer völlig ungeklärten Beziehung ein.

Schon vor ihrer Heirat steckten Freunde ihr, dass ihr Mann schwule Neigungen habe, erzählt mir Kerstin Lange. Doch erst nach einer langen Zeit des beiderseitigen Versteckspiels offenbarte sie ihrem Mann ihre Kenntnis der Dinge: »Dieter wusste bei unserer Heirat nicht, dass ich wusste, dass er schwul ist. Das teilte ich ihm erst neun Jahre später nach einem Besuch bei meiner Schwägerin und deren Mann mit. Ich war mit ihr einkaufen, unsere Männer blieben zu Hause. Als wir zurückkamen, fragte sie ihren Mann: ›Wie war es denn?‹ Da sagte der: ›Wie soll es gewesen sein? Was soll man mit einem Homosexuellen schon reden?‹ Das hat mich schockiert und war dann der Anlass, ihm zu sagen, dass ich es schon vor unserer Heirat erfahren hatte. Ich fragte ihn, warum er nicht so viel Vertrauen gehabt hatte, mit mir darüber zu reden.«

Andere Frauen sehen die ungewöhnliche Beziehungskonstellation als Herausforderung, enge Besitzansprüche zu überwinden. Doch Eifersucht und das Gefühl, aus einer fremden Welt ausgeschlossen zu sein, sind oft nicht mit Vernunft zu besiegen. Der gemeinsam geschaffene bürgerliche Rahmen beeinflusst mehr und mehr die Lebenseinstellung. In die wohlgeordneten Verhältnisse passen die schwulen Eskapaden des Ehemannes und Familienvaters nicht mehr hinein.

In ihrer ersten Ehe mit einem schwulen Mann verheiratet, von dessen Neigung sie jedoch erst später erfuhr, habe sie sich nochmals wissentlich für einen homosexuellen Partner entschieden, berichtet Ute Paskow. Doch obwohl sie an ihre jetzige Ehe keine Bedingungen knüpfte außer die des absolut ehrlichen Umgangs miteinander, erzählt die 40-Jährige, fiel es ihr anfangs schwer, ihre eigenen Ansprüche einzulösen und die Affären ihres Mannes zu akzeptieren: »Als Georg fragte, ob wir heiraten, habe ich keine Auflagen gemacht. Mir war klar, er ist schwul und braucht seine schwulen Kontakte. Trotzdem musste ich zu Beginn unserer Beziehung immer alles ganz genau wissen. Wir haben oft Gewaltmärsche um die Alster gemacht und dann musste alles raus. Georg hatte anfangs große Schwierigkeiten, mir Details zu erzählen. Aber ich habe dann immer forsch gesagt: ›Wer es tun kann, kann auch darüber reden.‹ Ich musste haarklein hören, was passiert ist, wirklich alles. Lange Zeit hatte ich mit einigen Sachen unheimliche Probleme. Das habe ich bestimmt hundert Mal ansprechen müssen, aber irgendwann wusste ich alles, was ich wissen musste. Wenn Georg heute allein ausgeht, ist es für mich nicht mehr wichtig, ihn zu löchern: ›Ist da was gelaufen oder hast du nur die ganze Nacht gequatscht mit irgendwelchen Leuten?‹«

Auch eigene gleichgeschlechtliche Erfahrungen können zu homosexuellen Männern eine Seelenverwandtschaft stiften, die Frauen bei heterosexuellen Männern nicht finden. Obwohl keine der Frauen, die im Buch zu Wort kommt, ein solches Verhältnis erwähnt, äußern alle die Ansicht, dass Menschen latent bisexuell veranlagt sind. Zwar schildern Frauen, dass sie ihren Mann seit seinem Coming-out häufig als egoistisch und egozentrisch empfänden. Aber selbst ihre leidvolle Erfahrung schränkt die grundsätzlich liberale Einstellung zur Homosexualität nicht ein.

Die bewusste Wahl: Ein untypischer Mann

Ist die Wahrheit auf dem Tisch, werden Frauen von Freunden, Verwandten und Kollegen oft gefragt, ob sie denn nichts bemerkt hätten, wobei der ungläubige Tonfall die erwartete Antwort schon mit transportiert: Sie waren naiv, sie haben Hinweise nicht sehen wollen. »Jetzt, wo es bekannt ist, sagen einige, sie hätten es immer geahnt. Ich frage mich, weshalb hat es mir dann keiner gesagt?«, formuliert eine meiner Interviewpartnerinnen, Cornelia Hagen, die manchmal rückwärts gewandte Prophetie, die betroffenen Frauen unterstellt, dass ihr eigenes Wahrnehmungsvermögen versagte. Auch sie fragen sich allerdings häufig, warum sie diesem Partner den Vorzug gaben und welche Charakterzüge ihren Mann von anderen Liebhabern unterschied.

So sehr die Schilderungen meiner Gesprächspartnerinnen in vielem differieren, auffallend oft verliebten sie sich in Männer, deren Eigenschaften in unserer Gesellschaft als weiblich gelten. Fast übereinstimmend berichten sie, dass ihr Mann »kein Macho« ist, dass er fürsorglicher und weicher als andere Männer war, als sie ihn wählten. Seine Mithilfe im Haushalt, zumindest zu Beginn der Ehe, seine Kochkünste und sein überdurchschnittliches Engagement als Vater werden positiv hervorgehoben. Häufig drängten die Männer darauf, schnell eine Familie zu gründen. Die gängige Vorstellung, dass die Ehe für einen homosexuell veranlagten Mann als gesellschaftliche Fassade oder nur als Zweckgemeinschaft fungiert, wird aus der Sicht von Frauen nicht bestätigt.

»Freunde können die Trennung oft gar nicht fassen, weil gerade dieses Paar ein Traumpaar war«, korrigiert auch Charlotte Steffen-Pistor, Leiterin der Gesprächsgruppe Tangiert in Wuppertal, das Klischee eines eher geschwisterlichen Verhältnisses, in dem Leidenschaft ein Fremdwort bleibt. Vor elf Jahren wurde die Selbsthilfegruppe von betroffenen Frauen ins Leben gerufen, um Erfahrungen auszutauschen und das Gefühl der Isolation zu überwinden. Insgesamt rund 200 Frauen aus ganz Deutschland kamen seither zu den vierteljährlichen Treffen in Wuppertal.

Dass nach dem Coming-out des Partners das einstmals intakte Familienleben beschönigt wird, ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch selbst wenn sich im Rückblick manches verklärt: Frauen schildern fast immer eine große Liebe, die nicht selten eine Jugendliebe war. Der sexuelle Seitenwechsel, die allmählichen Veränderungen im Bett kränken Frauen umso mehr, weil ihr Partner ein guter Liebhaber war und treuer als andere Ehemänner schien.

Die Schattenseiten der Partnerschaft

Zwar sind Schweigen, unterschwellige Konkurrenz und mangelnde gegenseitige Anerkennung ebenso in anderen Ehen ein Problem. Die emotionale Verriegelung des Partners, das Gefühl, bei ihm innerlich oft gegen eine Wand zu laufen, beklagen nicht nur Frauen homosexueller Männer. Allerdings lässt sich beobachten, dass Eheleute oft in Gesellschaft anderer Paare einen stärkeren Einklang entwickeln und bekunden, als es der Fall ist, wenn sie zu zweit sind. Meine Interviewpartnerinnen schildern hingegen häufig genau das Gegenteil: Viele bedauern, ihr Partner habe vor anderen nie richtig zu ihnen gestanden. Als müsse er sich gegen ihre Stärken, ihre Leistungen behaupten und sich innerlich gegen eine mögliche Vereinnahmung zur Wehr setzen, rücke er in Gegenwart Dritter stets ein wenig von seiner Partnerin ab. Obwohl nach Beobachtung betroffener Frauen homosexuelle Partner ihren Ehestatus (»meine Frau«) oft betonen – das berühmte Glänzen im Auge des Partners bleibt vielen Frauen verwehrt.

Welche Kriterien der gegenseitigen Partnerwahl tiefenpsychologisch den Ausschlag geben, ist bislang nicht erforscht. Das Bild der androgynen Ehefrau mit knabenhafter Figur oder die Vorstellung von der mütterlichen Glucke wurden auf meiner Rundreise nicht bestätigt: Mal schlank, mal rundlich, mädchenhaft oder sportlich herb, konservativ elegant oder bequem gekleidet, decken Frauen schwuler Männer ein breites Typenspektrum ab.

Warum homosexuelle Männer eine Familie gründen

Männer mit schwuler Vergangenheit oder mit eindeutig homosexueller Präferenz, die eine feste Partnerschaft mit einer Frau eingehen, hegen nach eigenen Aussagen oft die Hoffnung, dass sie ihre Veranlagung »wegheiraten« können. Der Wunsch, eine Familie zu gründen, und das Bestreben, sich einzureihen, zur Mehrheit der Bevölkerung zu gehören, sind zwei Beweggründe, gleichgeschlechtliche Neigungen zu verbergen oder sie zunächst ins Reich der Phantasie zu verbannen. Dass manche Männer ihre homosexuellen Neigungen erst spät, mit 30, 40 Jahren oder sogar jenseits der 50 entdecken, scheint für Außenstehende oft eine Glanzleistung von Verdrängung und mangelnder Introspektion zu sein. Diesen Männern wird pauschal unterstellt, dass sie sich und andere über Jahre, gar Jahrzehnte getäuscht haben und im Grunde nie richtig am anderen Geschlecht interessiert waren. Ihre Partnerin gerät dadurch in Verdacht, Anhaltspunkte naiv ausgeblendet und so das Versteckspiel des Mannes mitgespielt zu haben.

In seinem 1994 erschienenen Buch »Mann liebt Mann« befragt Thomas Hölscher 19 verheiratete oder geschiedene schwule Männer nach den Umständen ihres Coming-out und dem Verhältnis zu ihrer Frau oder Ex-Frau.

Obwohl die Mehrheit der Auskunft gebenden Männer (der jüngste war 30, der älteste 60 Jahre alt) schon früh von ihren homosexuellen Neigungen wusste, sie zumindest ahnte, haben sie eine Familie gegründet. Die Hoffnung, ihre Neigungen zu überwinden, die bedrohliche Perspektive des schwulen Lebens, der häufig starke Kinderwunsch sowie die Rücksichtnahme auf kirchliche, familiäre und gesellschaftliche Werte werden als Gründe für die meist jung geschlossene Ehe genannt. Einige bestätigen, sich Diskriminierungen gebeugt zu haben. Verinnerlichte Homophobie (»Ein Schwuler, das war für mich damals kein richtiger Mann«) und Abscheu vor den eigenen »schmutzigen« Gedanken (»Das ist doch krankhaft, das kann nicht sein«) stellen zunächst die Weichen für ein Leben in unangefochtener Normalität. »Weil es gesellschaftlich das Normalste war und ich mich nicht damit abfinden konnte, möglicherweise bi oder schwul zu sein. Heiraten, Kinder kriegen, Karriere machen, darauf kam es doch an. So hatte man gesellschaftliches Ansehen, gehörte dazu. Natürlich waren da auch Gefühle für meine Frau. Die ersten Jahre zumindest«,15 bringt ein 55-jähriger Mann seine an Kalkül grenzende Anpassung auf den Punkt. Erst nach jahrelangem psychosomatischen Leiden offenbarte er seiner Frau seine »Schauspielerei«.

Andere ahnten nichts von ihrer Neigung: »Als wir heirateten, hatte ich nicht das Gefühl, etwas anderes in mir zuzuschütten oder zu unterdrücken« und »Ich weiß es eben erst seit dem Augenblick, als es nach oben kam«, äußern sich zwei Männer in Hölschers Buch. »Es ist ein großer Unterschied zwischen wissen und akzeptieren«, schildert Rob, ein 30-jähriger Sozialarbeiter, den oft jahrelangen Prozess der Selbstannahme: »Es ist so: Du fühlst, dass da zwar irgendetwas nicht in Ordnung ist, aber das ist in deinem Denken noch ganz klein und unbedeutend. Ich hatte auch zig Erklärungen, um mir zu sagen, dass es etwas anderes ist. Jedenfalls konnte ich dieses Stückchen Gefühl in mir erklären, ohne den Stempel darauf zu setzen: Ich bin schwul. Vor allem durch Bemerkungen in der Familie hatte ich ein sehr negatives Bild mitgekriegt von dem, was Schwule angeblich sind. Ich wollte nicht so sein, also war ich es auch nicht. Schwulsein hatte für mich zu tun mit einer völlig fremden Sorte von Männern, und ich hatte einfach nicht die Vorstellung, dass ich zu denen gehöre.«16

Aber nicht nur zur gesellschaftlichen Anpassung knüpfen homosexuell veranlagte Männer mit Frauen den Lebensbund. Die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen kann die schwule Szene selten einlösen. Der respektable Status als Ehemann, Stolz auf die Vaterrolle und die häufig übernommene Verantwortung, Haupternährer der Familie zu sein, schaffen auch innerlich ein Gerüst. Mehr als in wechselnden Männerbeziehungen, in der langjährige Vertrautheit sich oft nicht aufbaut, bietet die Partnerin Geborgenheit: seelisch, körperlich und indem sie einen häuslichen Rahmen schafft.

Ehemänner, die sich zu ihren homosexuellen Neigungen bekennen, brechen die sexuelle Beziehung zu ihrer Frau meist nicht gleich ab, sondern streben zunächst eine Dreiecksbeziehung an. Einige erkennen bald, dass sich ihre Lust immer mehr in Richtung Männer verschiebt. Anderen gelingt der Spagat, wie Karel: »Ich halte nichts von solchen Etiketten wie schwul, bi oder heterosexuell. Solche eindeutige Trennung gibt es doch gar nicht. Es ist nicht so, dass ich einen Schlagbaum passiere und bin in einem anderen Land«, verwahrt sich der 49-jährige Bankangestellte dagegen, nur einer »Welt« anzugehören.17

»Wenn man sich auf ein Gefühl einlässt, werden die hundertprozentigen Randpositionen Homosexualität und Heterosexualität zu Monstern. Wenn man Gefühle nicht fest im Griff hat, ist es heute so und dann wieder so«, formulierte ein Mittvierziger, der sowohl mit Frauen als auch mit Männern liiert war, einmal im Gespräch mit mir den zeitgenössischen Anspruch auf eine Liebes- und Lebensform, die sich nicht in Schubladen zwängen lässt.

Dass Sex zwischen Männern direkter und weniger emotional befrachtet ist, macht nach Auskunft verheirateter Männer den Reiz oft rein sexueller und anonymer Kontakte aus, der aus ihrer Sicht nicht mit ihrem Familienleben kollidieren müsste. Mit der Steigerung körperlicher Gefühlsreize oder einer jäh aufbrechenden Triebrichtung lässt sich der oft späte Seitenwechsel jedoch nicht allein erklären. Erst im vorangeschrittenen Erwachsenenalter werden mitunter frühe Prägungen akut, die auch die sexuelle Präferenz beeinflussen.18 Enttäuscht erzählen betroffene Frauen oft, dass ihr Mann seit seinem Coming-out ein Ellenbogenverhalten zeige, das sie vorher nicht an ihm kannten. Verheiratete, homosexuelle Männer suchen und finden in ihrem Partner offenbar einen »Geburtshelfer«, der sie durchsetzungsfähiger, härter und »männlicher« werden lässt.

Laura Brahms: »Ich dachte, ich sei die Frau, die ihn auf die andere Seite zieht«

Lebt sie zwei Leben? Gar drei? Staunend verfolge ich Laura Brahms’ Umtriebigkeit. Sie ist in vielen Welten zu Hause, schafft es scheinbar mühelos, Familie, Beruf, Freunde, Kultur und Reisen zu verbinden. Mit spielerischer Leichtigkeit gelingt ihr der Spagat zwischen Großbürgertum und Bohème. Klein, sehr schmal ist die 50-jährige Ärztin, die vor drei Jahren meine Freundin wurde. Ihr Mann Stefan taucht ab und zu auf wie ein Komet und seilt sich schnell wieder ab. Ein liebenswertes Paar, geistreich und in Gesellschaft häufig in flapsiger Weise uneins, was die Sicht auf das Leben betrifft. Das Interview habe sie ihrem Mann zu lesen gegeben, berichtet Laura und war enttäuscht über dessen lakonische Reaktion. Er habe bloß bemerkt, so sei es eben.