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Wolfgang Kulow

In Zusammenarbeit mit Iris Hadbawnik

Das Unvorstellbare wagen

Mein Leben als Extremsportler

VERLAG DIE WERKSTATT

„Wenn du es träumen kannst, dann kannst du es auch tun.“

Walt Disney

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH

ISBN 978-3-7307-0269-7

VORWORT

Jedem Radfahrer, der die Worte „Race Across America“ hört, leuchten sofort die Augen. Hat man diese Sportart zu seinem Hobby gemacht, dann will man diesen verrückten Wettkampf unbedingt einmal im Leben fahren: mit dem Rennrad vom Pazifik zum Atlantik, quer durch die USA, knapp 5.000 Kilometer, die man in einem Zeitfenster von zwölf Tagen absolviert haben muss. Es geht durch mindestens zwölf Staaten und drei Zeitzonen, 52.000 Höhenmeter sind zu absolvieren, und das bei Temperaturunterschieden von knapp über dem Gefrierpunkt bis hoch auf über 40 Grad. Das berühmt-berüchtigtste Amateurradrennen der Welt habe ich insgesamt dreimal absolviert, das letzte Mal im Zweierteam mit Jutta Kleinschmidt, der Paris–Dakar-Siegerin. Man wechselt sich ständig ab beim Fahren, doch selbst wenn man Pause macht und im Wohnmobil der Crew seinem Partner hinterherfährt, kommt man kaum zur Ruhe. Das geht nonstop so, jeden Tag, 24 Stunden am Stück.

Die Härtesten, die bei diesem Rennen starten, sind die Solofahrer. Einen davon trafen wir zufällig bei einem Wechselstopp mitten in den Rocky Mountains. Er versuchte gerade krampfhaft, von seinem Rad abzusteigen, und ich erkannte an seinem Shirt, dass er ein Deutscher sein musste. Ich fragte ihn, wie es denn so bei ihm laufe und wie es ihm gehe. Er aber gab mir total kryptische Antworten und erzählte mir stattdessen, dass er ein Riesenproblem mit seiner Crew habe, er wolle nicht mehr trinken, und überhaupt sei das Ganze doch alles überbewertet. Wolfgang Kulow war in seinem eigenen Renntunnel gefangen, hatte die Außenwelt schon komplett abgeschaltet. Nach fünf Tagen auf dem Rad, mit Schlafdefizit und Nahrungsmangel, funktionierte er nur noch, kein Mensch dieser Welt hätte ihn in diesem Moment aus seiner Matrix herausreißen können. Als ich Wolfgang später von unserem ersten Treffen erzählte, konnte er sich zwar schemenhaft an mich erinnern, nicht aber an unser Gespräch. Noch heute wird diese lustige Geschichte unseres Kennenlernens gern hervorgekramt, wenn wir uns treffen.

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Joey Kelly und Wolfgang Kulow

Wolfgang Kulow hat über viele Jahre hinweg den Extremsport verinnerlicht und ist ein glänzendes Vorbild für viele Menschen, die bisher nicht den Mut aufbrachten, einfach mal loszulaufen und alles zu versuchen. Dabei ist er trotz seiner vielen Erfolge ein bodenständiger Kerl geblieben, der sich seiner Stärken bewusst ist, aber genauso ehrlich seine Fehler erkennt. Wer diese Qualitäten nicht vereint, hat schon verloren, bevor er an der Startlinie steht. In vielen Bereichen des Extremsports hat Wolfgang Außergewöhnliches geleistet. Er gibt sich nicht mit dem Machbaren zufrieden, sondern reizt stets die Grenzen des Unmöglichen aus. Das ist eine Eigenschaft, die ihn immer weitertreibt, weil er sich stets selbst besiegen möchte. Es ist immens wichtig, sich seine Ziele immer höher zu setzen, als man sie sich selbst zutraut. Nur dann wächst man über seinen eigenen Schatten hinaus und erreicht Siege, die vorher unvorstellbar waren.

Joey Kelly, im Frühjahr 2016

ABENTEUER VOR DER HAUSTÜR

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„Wie lebendig begraben“, schoss es mir durch den Kopf. Ich lag in meinem Schlafsack. An meiner Nasenspitze klebte die Plane des Zeltes, das dem Wind nicht länger standhielt. Vor wenigen Sekunden war es in sich zusammengebrochen und bedeckte mich nun wie ein riesiges Leichentuch. Oben drauf sammelte sich der Sand, der durch den Sturm aufgewirbelt worden war und nun in Tausenden kleinen Sandkörnern durch jede noch so kleine Ritze auf meinen Körper niederrieselte. Der Wind tobte in ohrenbetäubender Stärke. Zitternd lag ich auf dem harten Boden, unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt war es nachts in der Wüste nicht gerade kuschelig. Zudem fühlte ich mich bereits so kraftlos, so ausgemergelt, dass mir schlichtweg die nötige Energie fehlte, mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. „Was mach ich hier bloß?“ Diese Frage ging mir seit der Ankunft im Camp immer wieder durch den Kopf. War ich körperlich tatsächlich in der Lage, die Strapazen der kommenden Tage zu ertragen? War ich fit genug, 500 Kilometer zu Fuß durch die Wüste zu bewältigen? Und viel wichtiger: Könnte ich es mental ertragen, mich vor Millionen von Fernsehzuschauern zu blamieren?

„Ihr müsst euch jetzt küssen!“ Erika, meine Klassenkameradin, saß lachend im Boot. Blitzschnell war sie aufs offene Meer hinausgepaddelt. Edith und ich hingen dagegen mitten im Wasser auf einem Dalben, einer flexiblen Anlegestelle für Schiffe, fest. Es war ein lauer Sommertag, irgendwann im August Anfang der 1960er Jahre. Zu dritt genossen wir ausgelassen die letzten Ferientage, bevor das neue Schuljahr beginnen sollte. „Ihr müsst euch auf der Stelle küssen, sonst fahre ich alleine zurück“, forderte Erika erneut. Man sah, es bereitete ihr höllisch Spaß, uns hilflos auf der Plattform sitzen zu sehen, auf die wir vor wenigen Minuten noch so tollkühn geklettert waren. Ich sah mich um. Die Ostsee lag ruhig in der Abendsonne. Bis zum Ufer zu schwimmen, war machbar, aber vollständig bekleidet nicht wirklich erstrebenswert. Das hübsche Mädchen an meiner Seite zu küssen, war dagegen weitaus reizvoller.

Edith sah mich schüchtern an. Ich wusste, dass ich von ihrer Seite keine Initiative zu erwarten hatte. Also schritt ich kurzerhand entschlossen zur Tat, beugte mich nach vorne und gab ihr schnell einen Kuss auf den Mund. Doch Erika protestierte. „Was war denn das?“, lachte sie uns aus. „Dann jetzt mit Zunge!“, forderte sie erneut von weitem und amüsierte sich köstlich. Ich stutzte kurz. Natürlich wollte ich vor den beiden Mädels keinerlei Schwäche zeigen. Als Mann der Tat zögerte ich also nicht länger und nahm Edith fest in meine Arme. Der erschrockene Blick aus ihren strahlend blauen Augen war das Letzte, was ich registrierte, bevor ich sanft meine Zunge zwischen ihre Lippen schob und sie minutenlang zärtlich küsste.

„Du hast nur noch Wasser und Mädchen im Kopf!“, schimpfte meine Mutter vorwurfsvoll, als ich an jenem Abend viel zu spät nach Hause kam. Meine Familie saß längst beim Abendessen, als ich lautstark durch unsere Haustür polterte. „Entschuldigt“, murmelte ich vor mich hin. Ich konnte schlecht als Verteidigung anbringen, dass ich auf einer Plattform festsaß und mich nur durch einen Zungenkuss von dort freikaufen konnte. Also lächelte ich bedauernd und setzte mich schnell an den Esstisch. Meine beiden jüngeren Brüder kicherten vergnügt und stopften munter ihre dick belegten Brote in sich hinein. Vater thronte am Kopfende des Tisches und sah mich streng an. Er sagte kein Wort, aber oftmals genügte bereits ein einziger Blick, um uns Kinder in die Schranken zu weisen. Wenn wir etwas ausgefressen hatten, überließ er die Strafpredigten nur allzu gerne unserer Mutter – und das kam bei drei aufgeweckten Jungs im Haus leider nicht selten vor.

Seitdem ich denken konnte, hielt Mutter die Zügel in unserer Familie fest in der Hand. Sie managte unseren Alltag und war immer für uns da, während Vater lange arbeitete und abends meist spät nach Hause kam. Mutter war stark und unglaublich zäh. Eigenschaften, die sie bereits als Kind erwarb, als sie auf einem der großen Bauernhöfe der Region aufwuchs. Dort musste sie früh mit anpacken, lernte Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und vor allem, sich niemals zu beschweren, egal wie schwer die Arbeit oder wie hart eine Herausforderung war. Zudem war sie eine hübsche und schlanke Frau, deren Attraktivität auch den Männern nicht verborgen blieb. Einer der eifrigsten Verehrer war unser Vater.

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Die Bühne meines ersten Kusses …

Um Geld für die Familie zu verdienen, arbeitete Mutter als junge Frau nach Kriegsende in einer Bäckerei in Eckernförde. Vater, der nach seiner Kriegsgefangenschaft in Ostholstein geblieben war und sich aus einem Marineboot einen kleinen Fischkutter baute, war sofort Feuer und Flamme, als er die gutaussehende Verkäuferin zum ersten Mal erblickte. Von da an betrat er täglich den Verkaufsraum. Manchmal sogar mehrmals. Er hatte sich Hals über Kopf verliebt und versuchte mit allen Mitteln, das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen. Auch unserer Mutter gefiel der stattliche junge Mann, und sie ließ sich gerne von ihm umschwärmen. Sie war 18, mein Vater zwei Jahre älter, als sie sich das Jawort gaben. Drei Jahre später erblickte ich bereits das Licht der Welt.

Mädchen und Wasser. Mutter war eine äußerst kluge und vorausschauende Frau. Was sie damals aber noch nicht ahnen konnte: Viele Jahre später trat eine dritte große Leidenschaft in mein Leben – die Wüste. Meine Mutter schüttelte nur ungläubig den Kopf, als ich ihr mit Mitte 40 von meinem Plan erzählte, an einem Lauf durch die Sahara teilzunehmen. Und das zu einer Zeit, in der extreme Wüstenläufe noch nicht in aller Munde waren. „Wie kommt man denn auf eine solche Idee?“, fragte sie bestürzt. Und noch bevor ich antworten konnte: „Ist das denn nicht gefährlich?“ Sie klang äußerst besorgt. Welche Resonanz meine Teilnahme in den Medien auslösen sollte, konnten wir beide nicht erahnen.

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Wasser war von klein auf mein Element.

Bis in hohe Alter verfolgte meine Mutter stolz meine sportlichen Aktivitäten und wurde zu einem meiner größten Fans. Sie war aber auch diejenige, die sich um mein Wohlergehen die meisten Sorgen machte. Bis zuletzt genoss sie es jedoch, wenn ich ihr von den unerträglich heißen, aber wunderschön geschwungenen Formen der Sandwüsten dieser Erde erzählte. Voller Interesse sog sie alles auf, was ich ihr von der extremen Kälte der einsamen Eiswüsten berichtete. Ich sah das Leuchten in ihren Augen und spürte das tief in ihr schlummernde Fernweh, das uns wohl beide verband.

Wenn man mich heute fragt, wo fühlst du dich wirklich frei, ist meine Antwort stets: im Wasser, in der Wüste und – ich kann es nicht leugnen – in den Armen einer schönen Frau. Nicht von ungefähr habe ich in meinem Leben dreimal geheiratet. Aber all das ahnte ich als Kind noch nicht. Damals wollte ich in erster Linie ständig auf Achse sein und Spannendes erleben. Großenbrode, mein Heimatort direkt an der Ostsee, war perfekt dafür geeignet. Hier hatte ich einen wunderbaren Spielplatz direkt vor der Haustür, wo ich meine Kindheitsfantasien ausleben konnte: Der Strand, der Hafen mit den dort ansässigen Fischern, die Bunkeranlagen oder die verlassene Steilküste mit ihren bizarr schroffen Felsen waren herrliche Schauplätze meiner Abenteuerlust. Insbesondere die Ostsee hatte es mir angetan. Tief unter Wasser, dort wo sonst niemand hinkam, fühlte ich mich am wohlsten. Die geheimnisvolle Unterwasserwelt mit ihrer artenreichen Flora und Fauna, aber auch die alten Schiffs- und Flugzeugwracks aus dem Zweiten Weltkrieg galt es dort beim Schnorcheln und Tauchen zu erkunden. Das war genau meine Welt! Und vielleicht auch der Schlüssel zu meinem späteren Leben. Denn wie anders wäre dies wohl verlaufen, wäre ich nicht inmitten dieser Natur, sondern in den Hochhausschluchten einer Großstadt aufgewachsen?

Der Tag hat 24 Stunden, aber das reichte mir als Kind schon nicht aus. Früh morgens schnurrte ich mit meinen Brüdern los, und erst wenn es abends langsam dunkel wurde, kehrten wir nach Hause zurück. Oft zog es uns zum Hafen in Großenbrode, wenn die Fischer, begleitet von einer riesigen Möwenschar, mit ihren Fischkuttern einfuhren. Die Fischer waren kernige Burschen, sie arbeiteten hart und liebten diesen Job mit den unwägbaren Bedingungen des Meeres. Fischbestände gab es zu jener Zeit noch im Überfluss. Manchmal so viel, dass man schon von weitem an der Schieflage der Schiffe und am Rauch, der durch den Schornstein stieß, erkennen konnte, wie viel die Kutter geladen hatten. Die Männer standen bis zum Bauch in ihrem Fang, dabei glitzerten die Schuppen der Fische genauso in der Sonne wie die Augen der Männer. Damals konnten die Fischer noch sehr gutes Geld verdienen. Heute ist dies leider nicht mehr der Fall.

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Spielplatz direkt vor der Haustür: der Ostseestrand

War es uns am Hafen zu langweilig, zogen wir weiter zu einem der zahlreichen Bauern und halfen dort auf den Feldern oder bei der Fütterung der Tiere. War das erledigt, ging es hinunter zum Strand. Magisch wurden wir von den alten Kriegsbunkern angezogen, die man zahlreich in der Nähe des alten Fliegerhorstes von Großenbrode vorfand. Am Fehmarnsund, dem Meeresarm, der die Insel Fehmarn vom Festland trennt, gab es zudem ein Königsgrab aus der Jungsteinzeit, das von uns genauestens erforscht werden wollte. Ein wahres Eldorado für uns junge Abenteurer.

Aber ich war auch sportlich sehr aktiv. Im Sommer kickte ich auf dem Fußballplatz mit meinen Freunden, schwamm im Meer oder tauchte nach Unterwasserschätzen. Im Winter spielten wir Eishockey auf einem der zugefrorenen Seen der Umgebung. Die alten Milchdosen meiner Mutter dienten als Puck, armdicke Äste waren unsere Schläger. In der Schule bin ich von allen Kindern am schnellsten gelaufen und am weitesten gesprungen. Was mir viele Jahre später erst klar wurde: Bereits damals war ich im Vergleich zu anderen körperlich äußerst leistungsfähig und mental sehr stark. Wenn meine Freunde längst schon keine Lust mehr zum Spielen hatten, blühte ich gerade auf. Wenn andere müde waren und nach Hause gingen, wurde es für mich erst richtig interessant. Schon damals suchte ich instinktiv das Besondere, egal ob bei Sport oder Spiel. Wenn es etwas gab, was noch niemand zuvor gemacht hatte, übte das einen ganz besonderen Reiz auf mich aus. Während die anderen Kinder kopfschüttelnd resignierten: „Wolfgang, das kann doch gar nicht funktionieren“, spornte mich die Herausforderung umso mehr an. Diese Eigenschaft, gepaart mit einer extremen Neugierde, habe ich mir bis zum heutigen Tag erhalten. Und genau diese Eigenschaften waren es, die mir viele Jahre später diverse Weltrekorde, beispielsweise im Unterwasserradfahren oder im Unterwassermarathon, einbrachten. Die es aber auch ermöglichten, sportliche Herausforderungen anzugehen, die bis dato kaum ein Mensch wagte.

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Bereits mit 13 Jahren trat ich in den privaten Tauchklub der Marine ein.

Leben in der Runde

Wasser war die erste große Liebe meines Lebens. Bereits mit acht Jahren schloss ich mich der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V. (DLRG) an, in der Hoffnung, dort meine Leidenschaft intensiv ausleben zu können. Schließlich hatten die dort sogar eine Tauchflasche, was damals etwas ganz Besonderes war. Und ich wurde nicht enttäuscht: Ich lernte richtig zu schwimmen, zu schnorcheln und zu tauchen, aber auch – und das war unser Hauptjob – lebensrettende Maßnahmen bei Badeunfallopfern anzuwenden. Ebenso spannend wie meine Fortschritte im Wasser war jedes Jahr aufs Neue die Sommersaison in Großenbrode. Der DLRG hatte seine Wachstation direkt am Südstrand, von wo wir einen Blick über den kompletten Badebereich hatten. Vor allem bei Sommerwetter gab es dort viel zu gucken. Insbesondere, welche Neuzugänge an den Wechseltagen des Campingplatzes in Richtung Strand strömten. Die weiblichen Urlaubsgäste unseres Alters gerieten dabei besonders in unseren Fokus. „Boah, schau mal, die sieht ja super aus!“, stieß mein Kumpel Bernd hervor, als er eine brünette Schönheit entdeckte. „Ich find’ die Blonde daneben besonders süß“, erwiderte ich. Ein Blick genügte, und los ging’s auf Streifzug … Und so dauerte es nie besonders lange, bis die hübschesten Mädels bei uns in der Station saßen. Schwimmen, Tauchen, Boot fahren und vor allem jede Menge Spaß mit den Mädchen – so verbrachten wir damals die Sommer in Großenbrode.

Kurz danach kam die Marine in unseren Ort. Genauer gesagt, wurde das Amphibische Transport- und Umschlagbataillon 4 zum Stützpunkt nach Großenbrode verlegt. Ich war damals 13 Jahre und überaus fasziniert von den Soldaten. Insbesondere die Kampfschwimmer, die in Eckernförde stationiert waren, fand ich wahnsinnig spannend. Trotz meiner jungen Jahre bemerkte ich gleich, dass dies ein anderer, ein ganz besonderer Menschenschlag war. Die sahen super aus – groß und muskelbepackt mit ihren V-förmigen Oberkörpern –, waren locker drauf, aber auch höchst diszipliniert in allem, was sie taten. Das fand ich klasse. So wollte ich auch sein. Was besonders aufregend war: Bei der Marine in Großenbrode wurde von ehemaligen Kampfschwimmern und Minentauchern ein privater Tauchklub gegründet. In diesen musste ich natürlich sofort eintreten.

Was heute undenkbar wäre, war für uns damals alltäglich: Ich ging mit meinen Freunden Hans und Bernd in der Kaserne nach Belieben ein und aus. Die Soldaten zeigten uns, wie man richtig taucht, welche Ausrüstung dazu benötigt wird und wie man diese anwendet. Wir waren in jeder freien Minute Teil des Kasernenlebens. Die Soldaten hatten ihren Spaß mit uns. Doch dann und wann wurde es ihnen auch etwas lästig, sich ständig um uns zu kümmern. Wollten sie einfach mal ihre Ruhe haben, ungestört ein Bier trinken oder Männergespräche führen, gaben sie uns kurzerhand sportliche Aufgaben, die wir voller Eifer absolvierten. „Schwimmt doch mal längs der Küste bis zum Ende des Südstrandes und lauft am Strand wieder hierher zurück.“ „Ja, machen wir!“ Kaum ausgesprochen, begaben wir uns voller Tatendrang auf den Weg, und die Soldaten hatten für drei Stunden ihre Ruhe vor uns.

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Meine Kumpel und ich (rechts) kurz vor dem nächsten Tauchgang

Viele der Soldaten tauchten auch in ihrer Freizeit. Einer war sogar schon mal im Mittelmeer unterwegs gewesen. Er schwärmte von der blauen See, der klaren, weiten Sicht unter Wasser und von zahllosen bunten Fischen, die die Taucher neugierig umringten. Davon konnten wir beim Tauchen in der Ostsee nur träumen. Die Sicht war begrenzt und bunte Fische leider Fehlanzeige. Ich hing an seinen Lippen und sog die prächtigen Beschreibungen wie ein Schwamm in mir auf. „Wie tief kann man dort tauchen?“, fragte ich ihn. „Welche Fische hast du gesehen? Gibt es dort auch Schiffswracks?“ Ich konnte gar nicht genug davon kriegen, und mir war sofort klar: Da muss ich auch mal hin! Das will ich auch erleben! Es sollte zwar noch etwas dauern, aber Jahre später tauchte auch ich ein in die farbenfrohe und äußerst beeindruckende Unterwasserwelt von Norwegen, Italien, Spanien, Ägypten, Kenia, Mexiko, Sri Lanka und den Malediven.

So war ich als Kind immer auf Achse und suchte nach Action. Ein Leben vor dem Computer oder der PlayStation wäre für mich undenkbar gewesen, wenn es das damals bereits gegeben hätte. Zuhause herumzusitzen war für mich eine Qual. Ich wollte hinaus, die Welt erleben und meine Abenteuerlust befriedigen. Die Streifzüge in der Natur, die einsame Unterwasserwelt und die spannende Freundschaft mit den Soldaten – all das prägte mich. Dadurch hatte ich schon früh viele Träume und ganz konkrete Vorstellungen von meinem späteren Leben, das in meiner Fantasie selbstverständlich ebenso aufregend und abenteuerlustig weiter verlief. Ganz im Gegensatz zu dem Leben meines Vaters, den ich, wenn ich abends nach Hause kam, todmüde auf der Couch liegen sah. Das Leben als Fischer war hart. Als die gesundheitlichen Probleme stärker und die Fische immer weniger wurden, ließ er sich zum Feinmechaniker umschulen. Davon gab es zum damaligen Zeitpunkt deutschlandweit nur wenige. Sie waren insbesondere in der Kunststoffindustrie heiß begehrt. Ich sehe es noch genau vor mir, wie der zukünftige Chef meines Vaters mit einem großen Wagen eigens von Kopenhagen auf unseren Hof gefahren kam, um meinen Vater für sein Unternehmen zu gewinnen. In Heiligenhafen sollte eine Zweigstelle eröffnet werden, für die händeringend ein Abteilungsleiter gesucht wurde. Vater schlug ein und leitete fortan das stark expandierende Unternehmen.

Das war ein toller Job. Aber jetzt arbeitete mein Vater noch mehr, und auch am Wochenende war er immer seltener zuhause. Dabei verdiente er viel Geld. Geld, von dem wir uns sogar ein Auto und ein Farbfernsehgerät leisten konnten, was Ende der 1960er Jahre noch etwas ganz Besonderes war. Und auch für mich persönlich war der neue Arbeitsplatz meines Vaters ein Glücksgriff. In den Schulferien nahm er mich mit, und ich konnte in Ruhe allerlei technisches Gerät für meine damaligen Exkursionen zusammenbasteln: Tauchermesser, Bleigewichte, Halterungen für Tauchflaschen und einen selbstgebauten Katamaran.

Das Einzige, was meinem Vater nun fehlte, war Zeit. Die hatte er außerhalb seiner Arbeit immer seltener für uns. Und so sah ich ihn früh am Morgen zur Arbeit aufbrechen, und wenn er abends spät und total erledigt nach Hause kam, steuerte er auf direktem Weg die Couch im Wohnzimmer an. Nur für das Abendessen verließ er kurzzeitig seinen Lieblingsplatz, kehrte danach aber zu einem ausgiebigen Fernsehabend wieder dahin zurück. Tag für Tag. Woche für Woche. Nur an Festtagen wurde diese Routine unterbrochen – oder wenn die gesamte Familie zusammentraf. Wir hatten eine große Familie, und wenn alle gemeinsam feierten, ging es nicht selten hoch her. Zu vorgerückter Stunde sah ich meine Tanten ausgelassen auf den Tischen tanzen. Superschlank, voller Energie und überschäumender Lebensfreude, die aus allen Poren zu strahlen schien.

Meine Onkel hingegen saßen behäbig und passiv am Rand des Geschehens. Sie hielten das Bierglas über ihren dicken Bäuchen fest umklammert, rauchten Pfeife und betrachteten stumm, aber mit stolzen Mienen ihre attraktiven Frauen. Vom Türrahmen aus beobachtete ich diese Szenerie. Ich dachte an meinen Vater, der neben der Arbeit kaum noch aktiv war. Ich sah meine Onkel träge in der Ecke sitzen. Dabei wurde mir eines klar: Eher tanze ich später mal auf den Tischen, anstatt unfähig und lethargisch danebenzusitzen. Eher würde ich lebensfroh und ausgelassen mein Leben genießen, als den anderen bei ihrem Treiben zuzuschauen. Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Ein Leben in der Runde. In der Runde des Alltags. Schon mit 13 Jahren schwor ich mir an jenem Abend eindringlich: So werde ich nie, niemals leben!

(Alb-)Traumberuf

Mit dem Abschluss der Schule sollte der Ernst des Lebens beginnen. „Du kannst Maurer, Zimmermann oder Autoschlosser werden“, riet mir mein Vater, als es um die Berufswahl ging. Das waren die Berufe, die zu jener Zeit gemeinhin anerkannt waren. „Irgendwo im Büro zu sitzen und Akten hin- und herzuschieben, ist kein ‚richtiger’ Beruf!“ Mein Vater verzog das Gesicht und machte eine abfällige Handbewegung. „Zudem bringt er nur wenig Geld.“ Ich war ein mittelmäßiger Schüler. Nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht. Ganz so, wie Jungs eben mal sind. Ich habe nie wirklich für Klassenarbeiten gelernt und, abgesehen vom Schulsport, wenig Initiative gezeigt. Die Schule war in meinen Augen eher ein notwendiges Übel, das man eben bewältigen musste. Dennoch hatte sie auch etwas Positives. Im Schulflur stieß ich unerwartet auf meinen späteren Traumberuf. Das Mosaikbild an der Wand, an dem ich mehrmals täglich entlangging, fesselte immer wieder meinen Blick. Bis ich irgendwann völlig fasziniert davor stehenblieb. Ein Kunstwerk aus tausend kleinen Steinchen, perfekt aufeinander abgestimmt und optimal in Szene gesetzt. Etwas nachhaltig Künstlerisches gestalten – so etwas wollte ich auch mal machen. Das war genau mein Ding.

Doch wie nannte sich der Beruf, und wie fand man eine solche Lehre? Heute ließe sich das ganz einfach herausfinden. Man setzt sich an den Rechner und googelt nach entsprechenden Begriffen. Damals ging das noch nicht. Da hieß es, auf dem Postamt Telefonbücher wälzen. Oder auf eine glückliche Fügung hoffen. Und ich hatte Glück: Durch Zufall erfuhren meine Eltern von einem Fliesenleger aus Kiel, der in Oldenburg eine Filiale eröffnete und selbst Lehrlinge ausbildete. Mein Vater schnappte mich, und wir fuhren kurzerhand dahin, damit ich mich im Betrieb vorstellte. Das hinterließ wohl Eindruck, denn kurze Zeit später erhielt ich die Zusage und begann mit gerade mal 14 Jahren meine Ausbildung als Fliesenleger.

Anfangs ahnte noch keiner, welcher Hype um das Thema Fliesen in den kommenden Jahren ausbrechen sollte. Früher waren Küchen und Bäder mit Rohrleitungen über Putz ausgestattet und einfach mit Ölfarbe gestrichen. Zu Beginn meiner Ausbildungszeit trat jedoch ein Gesetz in Kraft, das besagte, dass öffentliche Küchen vollständig gefliest sein müssen. Auch Campingplätze erhielten nur eine Genehmigung, wenn die Bäder mit Fliesen versehen waren. Selbst Einfamilienhäuser, die wie Pilze aus dem Boden schossen, wurden nur noch mit gefliesten Bädern ausgestattet. Lediglich fünf Fliesenleger gab es im gesamten Einzugsgebiet. Die Nachfrage, die plötzlich auf uns niederging, konnten wir unmöglich alleine stemmen. Zudem bekam ich unzählige Anfragen aus meinem privaten Umfeld, so dass ich auch noch nach Feierabend Fliesen verlegte.

Regelmäßig erreichten mich verzweifelte Anrufe wie der vom nahe gelegenen Campingplatz: „Wir haben vom Gesundheitsamt die Auflage erhalten, umgehend die Duschen zu fliesen“, höre ich eine panische Stimme. „Bis wann soll das denn erledigt werden?“, erkundige ich mich sachlich, wohlwissend, dass dazu in den nächsten Wochen keine Zeit sein würde. Kurze Stille in der Leitung. „Geht das auch bis übermorgen?“, kam es daraufhin zögerlich und mit flehender Stimme. Nein zu sagen, fiel mir von jeher schwer. Wenn ich gebraucht wurde, war ich da. Ich hatte unbändigen Spaß an der Sache und war dementsprechend mit voller Leidenschaft dabei. Also habe ich rund um die Uhr gearbeitet. Teilweise saß ich nachts um zwei noch alleine in fremden Bädern und setzte Fliesen – und das als Jugendlicher.

Das ging Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr so. Irgendwann ließ meine Leidenschaft nach, denn ich war völlig überarbeitet. Ich war ständig im Stress und permanent übermüdet. Natürlich verdiente ich dabei gutes Geld. Während meiner Lehrzeit bekam ich das Dreifache des Lohnes meiner Freunde. Unmittelbar danach verdiente ich bereits 3.000 DM. Ich hatte eine teure Uhr, die beste Kleidung und schon mit 18 Jahren einen schicken neuen VW Karmann-Ghia. Im Prinzip konnte ich mir all meine materiellen Wünsche erfüllen. Ich hatte alles, was man sich für Geld kaufen konnte. Dennoch, eines hatte ich nicht: Ich hatte keine Freizeit. Meine Freunde gingen nach dem Job mit den Mädels zum Strand oder feierten am Abend ausgelassene Partys. „Wo ist Wolfgang?“, wunderten sie sich hin und wieder. Doch ich war stets am Fliesenlegen. Der Spaßfaktor in meinem Leben war gleich null. Während andere das Leben genossen, war ich am Arbeiten. Auch für meinen Sport hatte ich keine Zeit mehr. Das Tauchen blieb völlig auf der Strecke und entwickelte sich schließlich zu einem zusätzlichen Stressfaktor.

Vor meinem geistigen Auge sah ich Vater und meine Onkel höhnisch auf mich herabschauen. Ich war 18 und befand mich zu meinem Entsetzen innerhalb nur weniger Jahre in einem Leben, das ich vor gar nicht so langer Zeit noch verächtlich belächelt hatte. Einem Leben, in dem niemals zu landen ich mir geschworen hatte: dem Leben in der Runde. Und jetzt war ich genau dort: Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Was war aus meinen Plänen geworden, ein aktives Leben voller Abenteuer zu führen? Wo waren meine Träume geblieben? Noch hatte ich nicht allzu viel Lebenserfahrung sammeln können, aber instinktiv begriff ich: „Wolfgang, du musst rasch etwas ändern, um nicht frühzeitig vor die Hunde zu gehen.“ Die Frage war nur: Wie sollte ich das tun?

MIT KIND UND KEGEL

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