Rolf Köster
Mervyn Schmucker

IRRT zur Behandlung anhaltender Trauer

Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy in der Praxis

Klett-Cotta LebenLernen

Impressum

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Leben Lernen 286

Klett-Cotta

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Titelbild: SkyLine/fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89745-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10047-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20338-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Widmung

R. K.

Für Silvia – wie immer –

und für meinen Bruder Bernd mit Kati, Johanna und Paul,

die einen schweren Verlust hinnehmen mussten.

M. S.

Für Willow und Sebastian, meine Enkelkinder, die immer bereit sind, ihre Lebenslust, ihre Neugier und ihren Erfindergeist mit mir zu teilen.

Inhalt

Vorwort (Andreas Maercker)

1 Einleitung

2 Die Geschichte des Konzepts der anhaltenden Trauer

2.1 Was ist Trauer?

2.1.1 Phasenmodelle

2.1.2 Stressmodelle

2.1.3 Coping-Modelle

2.1.4 Biologische Modelle

2.2 Gesunde vs. anhaltende Trauer

2.3 Therapiemethoden, Therapieforschung

2.4 Verbreitete klinische Interventionen und Therapietechniken zur Behandlung anhaltender Trauer

2.5 Die therapeutische Grundhaltung von Trauertherapeuten

2.6 Das Trauerverständnis aus Sicht der IRRT

3 Das IRRT-Behandlungsmodell: Eine Zusammenfassung

3.1 Grundprinzipien

3.1.1 Imagination

3.1.2 Sokratische Haltung des Therapeuten

3.1.3 Arbeit mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen

3.1.4 Sprachliche Genauigkeit

3.1.5 Konzeptuelle Genauigkeit

3.2 Die drei Phasen einer IRRT-Sitzung

4 Das IRRT-Modell bei anhaltender Trauer

4.1 Grundprinzipien im Unterschied zu klassischen IRRT-Sitzungen

4.1.1 Das FUSIONIERTE ICH begegnet dem Verstorbenen

4.1.2 Die entscheidenden Impulse (Schlüsselszenen) kommen vom Verstorbenen

4.1.3 Einstiegsbilder und Phasenabläufe

4.1.4 Abschluss der Imagination: sechs Abschlussfragen

4.1.5 Nachbesprechung und Nachbehandlung

4.2 Anwendungsgebiete und Indikationsstellung

4.3 Kategorien von (anhaltenden) Trauerprozessen

4.3.1 Den Tod nicht wahrhaben wollen/nicht akzeptieren wollen (Nicht-loslassen-Können)

4.3.2 Unzureichender Ausdruck von Trauer

4.3.3 Mangelnde oder fehlende Verabschiedung vom Verstorbenen

4.3.4 Unerledigtes mit dem Verstorbenen (»unfinished business«)

4.3.5 Schuldgefühle dem Verstorbenen gegenüber

4.3.6 Wutgefühle dem Verstorbenen gegenüber

4.3.7 Trauer nach Suizid

4.3.8 Persistierende Verlassenheitsgefühle

4.3.9 Larvierte Trauer (verborgene, versteckte, verdrängte Trauer)

4.3.10 PTBS und Trauer (Traumatische Trauer)

4.4 Zusätzliche therapeutische Schritte außerhalb der Imagination

5 Fallbeispiele

5.1 Fallbeispiel Henriette »Ich bin immer noch bei dir«

5.2 Fallbeispiel Viviane »Es ist, wie es ist«

5.3 Fallbeispiel Jörg »Das ist geil, das ist einfach toll!«

5.4 Fallbeispiel Hannah »Die Trauer darf jetzt da sein«

5.5 Fallbeispiel Florian »Nun bist du tot, weil du nicht aufgepasst hast!«

5.6 Fallbeispiel Philipp »Opa will zu Oma zurück«

5.7 Fallbeispiel Paul »Ciao Papi!«

5.8 Fallbeispiel Moritz »Ne, das musst du selber machen«

5.9 Fallbeispiel Antonia »Doch, Vertrauen ist machbar!«

5.10 Fallbeispiel Sissi »Jetzt bringt mich wieder zurück!«

5.11 Fallbeispiel Anna »Gebrochene Frau, stiller Schrei, Entsetzen«

5.12 Fallbeispiel Urs »Die tote Katze lächelt«

5.13 Fallbeispiel M. S. »Warum hast du mich verlassen?!«

6 Literatur

Hinweis zu Ergänzungsmaterialien per Download

Alle Abbildungen aus dem Kapitel 5.11 (Fallbeispiel Anna) finden sich in Farbe auf der Website des Verlages (www.klett-cotta.de) bei dem Titel dieses Buches. Eine zu-sätzliche Fallgeschichte steht ebenfalls zum kostenfreien Download zur Verfügung.

Vorwort

Mit den Themen von Trauer und Tod möchte sich nicht jeder konfrontieren – auch nicht jede Psychotherapeutin oder jeder Psychotherapeut. Andererseits üben diese Themen eine seltsame Faszination auf uns aus, die wohl in unserem Wissen begründet liegt, dass ihnen letztendlich niemand ausweichen kann. Wir haben alle die Erfahrung des Verlusts von nahen und lieben Menschen gemacht, oder wir werden sie machen – das gehört zum Menschsein dazu.

Hier liegt nun also ein Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy-Buch vor, das sich den Trauerverläufen widmet, die therapeutische Hilfe brauchen. Rolf Köster und Mervyn Schmucker sind seit einiger Zeit ein erfahrenes Autoren- und Weiterbildungsteam, die IRRT bisher vor allem auf Traumafolgestörungen angewendet haben. Dass beide immer schon neben klassischen Traumapatienten auch Patienten mit anhaltender Trauer behandelt haben, das wird in den Kapiteln und Fallgeschichten dieses wichtigen und inspirierenden Buchs ausführlich belegt. Beide Autoren sind damit der intensiven Begegnung mit Trauer und Tod nicht aus dem Weg gegangen und zeigen denjenigen, denen das vielleicht noch schwerer fällt, eine gut handhabbare und gut erlernbare psychotherapeutische Methode auf.

Es ist noch eine recht neue Erkenntnis, dass einige Trauerverläufe zu einer verlustbezogenen psychischen Störung mit Therapiebedarf werden können. Früher wurden die meisten dieser Patienten als depressiv angesehen, diagnostiziert und behandelt. Was übrigens vor Jahrzehnten auch für die meisten Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung der Fall war – auch sie subsumierte man unter Depressionen. Man hat ihnen entweder Antidepressiva verschrieben oder mit ihnen verschiedene, auf die Depressivität ausgerichtete Psychotherapien durchgeführt. Die anhaltende Trauerstörung – oder komplizierte Trauer – ist nach der Aussage eines führenden amerikanischen Psychiaters (Michael B. First) seit den 2000er-Jahren die am ausgiebigsten und besten untersuchte »Nicht-Diagnose« der jetzigen diagnostischen Klassifikationssysteme. Das wird sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im ICD-11 ändern, wenn dieses 2018 erscheint und erstmals die Diagnose der Anhaltenden Trauerstörung (engl. prolonged grief) beinhaltet. In den letzten fünf Jahren gab es weltweit, auch in vielen Kulturen außerhalb der europäischen und amerikanischen, viele Studien dazu, die zeigten, dass es überall Menschen gibt, deren psychisches Leiden auf eine anhaltende Trauer zurückgeht. Schon die ersten nach heutigen Entwicklungsstandards für Psychotherapien durchgeführten spezifischen Trauertherapien hatten übrigens bereits imaginative Übungen in den Mittelpunkt gestellt und waren damit erfolgreich (am Londoner Institute of Psychiatry, 1980er-Jahre).

Die IRRT war und ist für die Therapie der Traumafolgestörungen eine sehr bewährte und verdienstvolle Methode. Ihre klug konzipierte Zusammenstellung von Imagination, sokratischem Dialog, Einbezug aversiver Emotionen sowie ihrer konzeptuellen und sprachlichen Genauigkeit war bisher vielen Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer Arbeit äußerst hilfreich. Die Fallgeschichten in allen IRRT-Büchern, wie auch im vorliegenden, geben davon ein lebendiges Zeugnis. Wenn das Autorenteam Köster und Schmucker sich jetzt sorgfältig der IRRT bei anhaltender Trauer zuwendet, ist dies eine ganz große Bereicherung für die Therapie in diesem Bereich. Dass sie erprobte weitere therapeutische Techniken der Trauertherapien außerhalb der Imagination miteinbeziehen, wie das Schreiben von Briefen oder das gemeinsame Anschauen von Memorabilien, bereichert die Methode zusätzlich.

Die beiden Autoren schlagen bei anhaltender Trauer ein modifiziertes IRRT-Vorgehen vor, das unbedingt Sinn macht: die Begegnung mit dem fusionierten Ich, und sie beschreiben dies ausführlich in ihren Fallgeschichten. Manchmal gibt es Konstellationen, die dennoch das übliche IRRT-Vorgehen erfordern, wenn beispielsweise die Bezugsperson gestorben ist, als man Kind war, oder im Falle von Suizidüberlebenden – so nennt man die Angehörigen von Suizidenten –, die dies in einer späteren Lebensphase bearbeiten wollen.

Mervyn Schmucker lässt in seinem hier wieder abgedruckten eigenen Fallbeispiel erkennen, dass die Trauer um seinen eigenen Vater und der Versuch ihrer Bearbeitung in einer gestalttherapeutischen Selbsterfahrungsgruppe vor Jahrzehnten ein ganz wichtiger Meilenstein für die Entwicklung der IRRT-Methode war. Fast scheint es, dass ohne diesen Verlust und ohne die Selbsterfahrungsstunde, über die er berichtet, es die IRRT so nicht gegeben hätte. Auch andere Therapeutinnen und Therapeuten haben aus ihrer Selbsterfahrung heraus Fallbeispiele zur Trauerbearbeitung beigesteuert. Das macht dieses Buch so besonders lesenswert und faszinierend: eine wunderbare Erweiterung der IRRT-Methode, die hoffentlich von vielen Lesern zum Nutzen unserer Patientinnen und Patienten angewendet werden wird.

Andreas Maercker*

1 Einleitung

Vor einigen Jahren besuchte ich (R. K.) mit meiner Frau einen Freund in England, der uns einen Nachmittag und Abend zu seinen betagten Eltern eingeladen hatte. Zum Abendessen deckte seine Mutter den Tisch nicht nur für die anwesenden fünf Personen, sondern für sechs. Auf unser Nachfragen reagierte die Mutter mit befangenem Schweigen, womit sie, so empfanden wir spontan, eine tiefe Trauer verdeckte. Unser Freund erklärte, es sei für seinen Bruder mitgedeckt, der fünf Jahre zuvor – wieder im Elternhaus lebend – vierzigjährig unerwartet an einem Herzinfarkt verstorben sei. Später, unter sechs Augen, berichtete er uns des Weiteren, seine Mutter sei über den Tod ihres Sohnes nicht hinweggekommen. Er zeigte uns das Zimmer des Bruders, das seit dessen Tod nicht mehr verändert worden war: Die zuletzt getragenen Kleider hingen unberührt über dem Stuhl, das zuletzt gelesene Buch lag aufgeschlagen auf dem Nachttisch. Offensichtlich handelte es sich um einen Fall einer anhaltenden Trauer einer Mutter, deren Trauerprozess nach dem Verlust des geliebten Sohnes blockiert war, wahrscheinlich an dem Punkt, wo es um die endgültige innerliche Verabschiedung ging. Genauere Hintergründe erfuhren wir nicht mehr.

Trauer ist einer der grundlegenden menschlichen existenziellen und emotionalen Zustände. Sie tritt üblicherweise nach dem Verlust eines nahestehenden, geliebten Menschen auf und verweist auf die Bedeutung des Sozialen, auf unser Ausgerichtetsein auf ein Du. Der Begriff der Trauer beschreibt neben einer momentanen Befindlichkeit mit einer bestimmten emotionalen Qualität und dazugehörigen physiologischen Reaktionen, z. B. Weinen, auch etwas Prozesshaftes; der Trauer ist das Streben nach Bewältigung, Veränderung, Auflösung und Neuorientierung eingegeben. In allen Kulturen und Religionen sind Rituale entwickelt worden, die einer individuellen oder kollektiven Trauer einen Rahmen geben und den Trauerprozess erleichtern helfen sollen.

Ein zur Trauer führender Verlust kann sich allerdings nicht nur auf geliebte oder nahestehende Mitmenschen (Partner1, Kinder, Eltern, Freunde, Bekannte) beziehen, sondern auch auf verehrte Mitmenschen (Politiker, Künstler, Vorbilder) und auch auf amputierte oder zerstörte/funktionslose Körperteile oder Organe, auf Haustiere, auf das eigene Haus, auf Heimat, Eigentum, Beruf oder Arbeitsplatz, d. h. auf alle Personen und sogar Dinge, zu denen wir eine engere emotionale und existenzielle Beziehung aufgebaut haben und welche zur Bildung unserer eigenen Identität beigetragen haben.

Zur Beschreibung dessen, was einen Trauerprozess eigentlich ausmacht, sind seit Freud verschiedene Modelle und Konzepte vorgeschlagen worden (eine kurze Zusammenfassung liefert Kap. 2). Dabei wird Trauer als ein phasenhaft ablaufendes Geschehen, als Herausforderung, verschiedene Aufgaben zu bewältigen, als Stressreaktion, als Inkonsistenzquelle (Anspannung aufgrund unerfüllter Grundbedürfnisse), als Coping-Modell oder als biologisches Geschehen angesehen, wobei sich aus unserer Sicht diese verschiedenen Modelle eher ergänzen als miteinander zu konkurrieren.

Trauer an sich ist keine Krankheit, sondern ein unter bestimmten Bedingungen (meist der Verlust einer nahestehenden Person) seelisch notwendiger, gesunder Zustand bzw. Vorgang. Ein Teil der Betroffenen erlebt aber im Trauerprozess ein Stocken, eine Blockade, die den Prozess ähnlich einer Schallplatte mit einem Sprung immer wieder am selben Hindernis anrennen lassen, sodass die eigentlich angestrebte oder zu erwartende Bewältigung des Verlusts nicht vollendet werden kann. Der Begriff für dieses Phänomen hat eine jahrzehntelange Geschichte, wobei mittlerweile der Terminus der anhaltenden Trauer am weitesten akzeptiert ist (s. Kap. 2).

In welcher Phase des Trauerprozesses bzw. im Zusammenhang mit welcher seelischen Herausforderung die Blockade auftritt, ist sehr unterschiedlich. Es bestehen sicher Bezüge zur Lebensgeschichte des Betroffenen und vor allem auch Bezüge zur Geschichte seiner Beziehung zum Verstorbenen. Manchmal findet sich die Ursache der Blockade auch im Ablauf der letzten Tage oder Stunden vor dem Tod, z. B. wenn die hinterbliebene Ehefrau Wutgefühle auf ihren durch Suizid verstorbenen Ehemann empfindet oder wenn der Sohn nicht mehr rechtzeitig vor dem Tod seines Vaters anreisen konnte, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen, und dadurch Schuldgefühle oder das Empfinden von Unerledigtem (»unfinished business«) entstanden. In diesem Zusammenhang ist sicher die Beobachtung zu berücksichtigen, dass bei anhaltender Trauer eine ausgeprägte Komorbidität vorliegt, d. h. bei mehr als zwei Dritteln der Fälle von anhaltender Trauer andere psychische Störungen gleichzeitig vorhanden sind, in erster Linie Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörungen.

Wenn Betroffene sich der Problematik bewusst werden und – von sich aus oder auf Empfehlung anderer – therapeutische Hilfe suchen, stellt sich für die Psychotherapeuten nach entsprechender diagnostischer Abklärung die Frage, ob, und wenn ja, wie sie helfen können. Dazu benötigen Therapeuten ein Verständnis dafür, worum es in einem Trauerprozess geht und durch welche Mechanismen dieser im individuellen Fall gestört sein kann. Oft geht es einfach darum, eine mitfühlende Anteilnahme und menschliche Begleitung anzubieten, wobei diese Rolle keinesfalls auf Psychotherapeuten beschränkt ist. Manchmal kann es ausreichen, darauf zu verweisen, dass gewisse emotionale Reaktionen (z. B. Wutgefühle dem Verstorbenen gegenüber) normal sind und keinen Grund für eine Verunsicherung oder für Schuldgefühle darstellen müssten, oder dem Betroffenen zu erklären, worum es in der Fortführung des Trauerprozesses möglicherweise gehen würde (z. B. »Vielleicht müssten Sie sich endgültig von ihm verabschieden können.«). Auch diese Funktion muss nicht zwingend von einem Psychotherapeuten eingenommen werden, sondern kann auch von Freunden, Verwandten, vertrauten Bekannten oder Seelsorgern ausgefüllt werden. Manchmal reichen die menschliche Begleitung und einfache Sachinformationen aus (»Psychoedukation« von Fachleuten, »gute, einfühlsame Ratschläge« von Bekannten), oft aber auch nicht. Die Einsicht bei den Betroffenen ist dann intellektuell vielleicht vorhanden, aber zum inneren Vollzug fehlt ihnen irgendetwas. Diese Situation ist die Domäne zur Durchführung einer Psychotherapie bei Trauerfällen im Allgemeinen und zum Einsatz der IRRT (Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy) im Besonderen.

Psychotherapeuten jeglicher Provenienz, insbesondere die, welche sich bereits umfassend mit der Behandlung anhaltender Trauerreaktionen beschäftigt haben, werden vom Einsatz der IRRT in ihrer praktischen Arbeit sehr profitieren können. Die Therapien werden effektiver, gezielter und schneller durchgeführt werden können. Die IRRT eignet sich zur Integration in jegliche therapeutische Ausrichtung. Eine Psychotherapie anhaltender Trauerreaktionen kann aber auch mit einer ausschließlichen Fokussierung auf die IRRT durchgeführt werden.

Als Schmucker in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die Grundlagen der IRRT entwickelte, ging es ihm zunächst um die Behandlung erwachsener Opfer mit Posttraumatischen Belastungsstörungen infolge körperlicher Misshandlungen oder eines sexuellen oder psychischen Missbrauchs im Kindesalter. Sein eigenes, viele Jahre zurückliegendes, erstes persönliches Erlebnis mit der Arbeit in der Imagination auf der Inneren Bühne handelte aber tatsächlich von einer imaginativen Begegnung mit seinem früh verstorbenen Vater im Sinn eines Auflösens einer larvierten anhaltenden Trauerreaktion (Schmucker u. Köster 2014 a, S. 20 ff., Fallbeispiel M. S. in diesem Buch). So war von Beginn der Entwicklung der Methode an deutlich, dass die IRRT auch bei dieser Problematik indiziert sein könnte.

Wir haben im Praxishandbuch IRRT (Schmucker u. Köster 2014 a) im theoretischen Teil (S. 51, S. 106 ff.) und auch bei den Fallbeispielen (Fallbeispiele 13 bis 15) die IRRT-Behandlung von anhaltenden Trauerreaktionen bereits kurz beschrieben. Mit dem vorliegenden Buch stellen wir den theoretischen Hintergrund und die detaillierte konkrete Vorgehensweise auch in komplexeren Fällen systematischer und umfassender dar.

Wie schon das Praxishandbuch IRRT besteht auch dieses Buch zu einem großen Teil seines Umfangs aus Fallbeispielen. Diese illustrieren die Beschreibungen des Theorieteils, geben einen Eindruck von der Vielfalt möglicher Verläufe und therapeutischer Interventionen einer IRRT-Trauersitzung, und sie zeigen nicht nur Sitzungsausschnitte, sondern auch komplette IRRT-Sitzungen von der Einleitung bis zum Abschluss. Gerade dieser letzte Aspekt kann für Psychotherapeuten, die sich die IRRT zur Arbeit mit Patienten mit Trauerreaktionen aneignen wollen, eine ganz konkrete Anleitung und damit wertvolle Hilfe sein. Betonen möchten wir aber auch, dass die therapeutische Anwendung der IRRT nur schwierig allein aus Büchern gelernt werden kann. Die persönliche Anleitung und Supervision erscheinen uns unerlässlich. So einleuchtend, logisch und systematisch die IRRT wirkt, so schwierig ist sie doch anfangs in der konkreten Anwendung durchzuführen, was wir anhand zahlreicher Beispiele in unseren Supervisionen immer wieder bestätigt finden.

An dieser Stelle seien aber nicht nur die Schwierigkeiten erwähnt, die sich für Psychotherapeuten am Anfang bei der Durchführung von IRRT-Sitzungen zeigen können, sondern es soll vor allem auf die Befriedigung hingewiesen werden, die sich nach einiger Übung bei den Therapeuten einstellen kann. Und wir haben immer wieder den Eindruck, dass durch die Anwendung der IRRT die Fähigkeit von Therapeuten, das Phänomen des posttraumatischen Wachstums (Pearlman u. Saakvitne 1995) zu erleben, durchaus gefördert wird.

Danksagungen

An erster Stelle gebührt unser Dank unseren Patienten und Supervisanden, von denen wir einerseits viel lernen durften, während sie uns erlaubten, als ihre Therapeuten und Selbsterfahrungs-Supervisoren an den Entdeckungsreisen in ihre Seele teilzunehmen und sie zu begleiten, die andererseits bereit waren, ihre persönliche Geschichte in anonymisierter Form und zum Teil auch ihre sehr persönliche katamnestische Rückmeldung hier zu veröffentlichen, um dazu beizutragen, dass auch anderen Menschen auf diese sowohl sanfte als auch wirksame Art geholfen werden kann.

Ein besonderer Dank geht an die Kolleginnen und Kollegen, die sich die Zeit und die Mühe genommen haben, um uns in Theorie- und Falldiskussionen und mittels kritischer Durchsicht des Manuskripts wertvolle Hinweise und Anregungen zu geben. Besonders erwähnen möchten wir Monika von Ancken, Silvia Köster, Anja Möller, Rahel Rodenkirch, Rolf Senst und Matthias Wiemann.

Monika von Ancken, Petra Hartmann, Silvia Köster und Klaus Dilcher sei hier noch einmal extra gedankt, weil sie eigene Fälle ausgewählt, nachbearbeitet und zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben.

Andreas Maercker danken wir für die Empfehlung zur Begriffs- und Titelfindung.

Rahel Rodenkirch hat wesentlich bei der Literaturrecherche geholfen, herzlichen Dank dafür.

Christine Treml vom Klett-Cotta Verlag danken wir wieder herzlich für das angenehme, freundliche, engagierte und umsichtige Lektorat.

Unseren Familien gebührt der wichtigste Dank, denn ohne deren Unterstützung und vor allem deren verständnisvolle Toleranz wäre dieses Buch nie und nimmer zustande gekommen.

2 Die Geschichte des Konzepts der anhaltenden Trauer

Wenn Patienten mit einer Trauerproblematik psychotherapeutisch behandelt werden, sollten Therapeuten eine Vorstellung davon haben, was Trauer eigentlich ist. Die hier vorgestellte Darstellung der verschiedenen Modelle ist kurz zusammengefasst und orientiert sich vor allem an den aktuellen ausführlicheren Veröffentlichungen zweier kognitiver Verhaltenstherapeuten sowie eines systemischen Therapeuten (Znoj 2012, Wagner 2013, Kachler 2014). Leser, die tiefer in diese Materie einsteigen wollen, seien auf diese Bücher verwiesen, welche auch eine umfassendere Literaturliste aufweisen.

2.1 Was ist Trauer?

Trauer ist einer der grundlegenden menschlichen existenziellen Zustände. Gleichzeitig ist Trauer eine der sieben Grundemotionen, die sich in allen menschlichen Gesellschaften und Kulturen auf gleiche Weise im Gesichtsausdruck äußern (Ekman 2010). Trauer tritt üblicherweise auf, wenn eine nahestehende Person verstirbt, und umfasst ein breites Spektrum an emotionalen und physiologischen Reaktionen, die sich phasenhaft über einen Zeitraum von einigen Monaten bis zu vielen Jahren erstrecken können. Die Qualität und Intensität der Reaktion auf den Verlust einer nahestehenden Person verweist auf die Ausrichtung auf ein Du (Buber 1923), auf die Bedeutung des Sozialen und der mitmenschlichen Bindung (Bowlby 1980). Trauer kann auch auftreten, wenn Verluste allgemeinerer Art erlebt werden, etwa wenn jemand seine Arbeit oder seinen Sinn im Leben verliert, ein angestrebtes Ziel nicht erreicht oder sich Hoffnungen nicht erfüllen. Zudem ist Trauer nicht nur als individuelle Reaktion zu verstehen, sondern es gibt auch kollektive Trauer, wenn ein Idol, ein Politiker oder ein Künstler verstirbt oder sich Katastrophen auf kollektiver Ebene ereignen, wenn z. B. eine Schlacht oder ein ganzer Krieg verloren wird oder eine Katastrophe passiert (z. B. der Anschlag auf das World Trade Center in New York 2001 oder der Tsunami in Asien 2006). Anhand dieser Beispiele wird zudem deutlich, dass Trauerreaktionen gewisse Ähnlichkeiten mit Traumareaktionen aufweisen (vgl. Maercker u. Lalor 2012).

Trauer hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits beschreibt Trauer einen Zustand, der durch eine bestimmte emotionale Befindlichkeit gekennzeichnet ist (Trauer, Niedergeschlagenheit, Ohnmacht, Verlassenheit, Sehnsucht, evtl. Wut, Schuld und Scham). Damit verknüpft sind typische Kognitionen (z. B. pessimistische Zukunftsperspektiven, ständiges Denken an den Verstorbenen), physiologische (z. B. körperliche Schmerzen, Krankheitsanfälligkeit) und verhaltensbezogene Reaktionen (z. B. sozialer Rückzug). Trauer kann aber andererseits auch als Prozess verstanden werden. Verschiedene Ansätze aus den letzten Jahren und wenigen Jahrzehnten versuchen, diesen Prozess in beschreibbaren Phasen zu definieren.

2.1.1 Phasenmodelle

Schon Freud (1917) grenzte die Trauer von der Melancholie ab und beschrieb sein Phasenmodell des Trauerprozesses, in dessen Verlauf sich nach der Realisierung des Verlusts zunächst die emotionalen Bindungen zum Verstorbenen lösen sollten, also die Libido vom verstorbenen Objekt abgezogen werden sollte, bevor dann das emotionale Leben wieder aufgenommen, auf die Zukunft ausgerichtet und neue Beziehungen aufgebaut werden könnten.2

Bowlby (1980), Psychoanalytiker und Begründer der Bindungstheorie, beschrieb ein Phasenmodell von Trauerprozessen, das sich an Kübler-Ross (1969) anlehnte, die ein – allerdings eher auf Sterbende als auf Hinterbliebene ausgerichtetes – Modell mit den Phasen des Nicht-wahr-haben-Wollens, der Wut, des Verhandelns, der Depression und letztlich der Akzeptanz beschrieben hatte. Bowlbys Modell umfasst die Phasen der Betäubung, der Sehnsucht und Suche nach dem Verstorbenen, der Desorganisation und Verzweiflung und dann der Reorganisation. In einer Studie (Maciejewski et al. 2007) konnte gezeigt werden, dass in einer größeren Gruppe von Trauernden innerhalb eines halben Jahres nach dem Verlust genau diejenigen Reaktionstypen konsekutiv phasenhaft gehäuft auftraten, die Bowlbys Phasenmodell entsprachen.

Einen etwas anders gestalteten Ansatz beschrieb Worden (2009), der einen Trauerprozess eher als die (mehr oder weniger erfolgreiche) Bewältigung verschiedener Herausforderungen denn als gesetzmäßig ablaufendes Geschehen ansieht und damit auch den Coping-Modellen zugeordnet werden könnte. Die vier Aufgaben, die es zu lösen gelte, formuliert er als: 1. Akzeptanz des Todes; 2. Zulassen des Trauerschmerzes; 3. Anpassung an eine Umwelt ohne den Verstorbenen; 4. Aufnahme eines neuen Lebens des Hinterbliebenen und Zuweisung des Verstorbenen an einen neuen Platz in diesem Leben.

2.1.2 Stressmodelle

Verschiedene Autoren haben auf die Gemeinsamkeiten von Trauerreaktionen mit Stressreaktionen hingewiesen (Wagner 2013) und dabei vor allem die Parallelen zu posttraumatischen Störungen betont. Symptomatisch kommt es bei Trauerreaktionen wie bei posttraumatischen Störungen zu Intrusionen und zu Vermeidungsverhalten, allerdings fehlen die Übererregung/Hypervigilanz/Schreckhaftigkeit, dafür kommt es zu Anpassungsproblemen an den Verlust.

Ein relativ neuer Ansatz zur Beschreibung der Trauerphänomene wurde von Znoj (2012) vorgelegt, der auf dem Hintergrund der Konsistenztheorie von Grawe (1998) einen Trauerprozess als Stress- oder psychischen Anspannungszustand beschreibt, welcher dadurch hervorgerufen wird, dass seelische Grundbedürfnisse (Bindung, Kontrolle, Lust und Selbstwertsteigerung) nicht mehr erfüllt sind. Im Fall eines Verlusts sind vor allem das Bedürfnis nach Bindung und das nach Kontrolle unerfüllt.

2.1.3 Coping-Modelle

Coping-Modelle betrachten einen Trauerprozess aus dem Blickwinkel der Fragestellung, was es für den Hinterbliebenen nach dem Verlust zu bewältigen gebe. Das »duale Prozess-Modell« (Dual process model of coping with bereavement) von Stroebe u. Schut (1999) geht davon aus, dass sich die seelische Bewältigung eines Verlusts auf zwei Bereiche zu fokussieren habe: einerseits auf die Trauerarbeit, also die Bewältigung der auftretenden emotionalen und physiologischen Reaktionen, andererseits auf die Gestaltung der Zukunft, also das Leben ohne die verstorbene Person. Einen sehr ähnlichen Ansatz vertreten Rubin (1981, 1999) und Rubin et al. (2012) mit ihrem »Zweigleisigen Modell« (Two-track model of bereavement), in dem es einerseits um die Aufrechterhaltung des biopsychosozialen Funktionierens (Track I) und andererseits um die Gestaltung der weiteren Beziehung zum Verstorbenen (Track II) geht. Diesen letzten Aspekt in Bezug auf die Zukunftsplanung, in Abgrenzung von Freud mit dem Verstorbenen (auf der inneren Bühne) und nicht ohne ihn hebt auch Kropiunigg (2009) hervor. Die Arbeitsgruppe um Klass et al. (1996) betont ebenfalls die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung einer Bindung zum Verstorbenen, und die Autoren zeigen, dass nach dem Verlust einer geliebten Person eine dauerhafte, über die Zeit auch veränderbare, innere Repräsentation des Verstorbenen vom Hinterbliebenen entwickelt wird. Weitere Arbeitsgruppen, deren Modelle in eine ähnliche Richtung weisen, werden von Kachler (2014) erwähnt.

2.1.4 Biologische Modelle

Verschiedene Untersuchungen seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts haben biologisch-medizinische Auswirkungen von Verlusterlebnissen beschrieben. Dabei finden sich eine höhere Mortalität (vor allem bei Männern) und Stressantworten ähnlich posttraumatischen Reaktionen mit Aktivierung des Cortisol-Systems und Herz-Kreislauf-Reaktionen, die oft als Broken Heart zusammengefasst werden. Außerdem konnte gezeigt werden, dass eine Trauerreaktion mit einer Schwächung der Immunabwehr (Abnahme der Aktivität immunkompetenter T- und B-Zellen) sowie einer Erhöhung der Zahl, aber einer Reduktion der Funktion neutrophiler Granulozyten einhergeht. Trauerreaktionen führen zu Schlafstörungen und entsprechenden EEG-Veränderungen, besonders wenn depressive Symptome vorhanden sind. Trauerreaktionen führen auch zur Thrombozytenaktivierung sowie einer Erhöhung des von Willebrand-Faktors im Blut und erhöhen damit das Risiko für Thrombosen und Herzinfarkte. Außer für die Verbesserung der Schlafqualität liegen aber nur sehr wenige Belege vor, die zeigen können, dass entsprechende Interventionen diese Risikofaktoren auch effektiv beeinflussen.

In funktionellen bildgebenden Verfahren konnte gezeigt werden, dass Trauer – ähnlich wie physischer oder sozialer Schmerz (z. B. aufgrund von Zurückweisung) – zu einer Aktivitätszunahme im dorsalen cingulären Cortex sowie in der Insel und dem periaquäduktalen Grau führt, außerdem zu einer Aktivierung des posterioren cingulären Cortex.

Bei all diesen Erkenntnissen wird aber von den Autoren regelmäßig betont, dass sich bisher keine eindeutigen Muster finden ließen, aufgrund derer man spezifische Biomarker zur Risikoeinschätzung, Diagnosestellung oder zum Therapieverlauf beiziehen könnte, zu vielfältig sind die Überlappungen mit anderen Einflussfaktoren, zu komplex die vernetzten gegenseitigen Beeinflussungen und zu wenig aussagekräftig die bisherige Datenlage. Einen Überblick über den Stand der Forschung geben Buckley et al. (2012) und O’Connor (2012).

2.2 Gesunde vs. anhaltende Trauer

Trauer ist eine an sich gesunde, üblicherweise auf Restitution und Bewältigung abzielende Reaktion auf einen schweren Verlust. Sie umfasst belastende Symptome, bedarf aber keiner spezifischen psychotherapeutischen oder medizinischen Behandlung, sondern ist – wie viele andere unangenehme, mit Leiden verbundene Erfahrungen auch – Teil des menschlichen Lebens und muss deshalb als solche in Kauf genommen, ausgehalten und durchlebt werden. Die Streubreite der Symptomausprägung, der Symptomzusammensetzung und der Dauer von Trauerreaktionen ist dabei sehr groß.

Und doch kann eine Trauerreaktion ein Ausmaß oder eine Dauer annehmen, die beim Betroffenen selbst oder bei seiner Umgebung den Eindruck erweckt, das Leiden trete unnötig lange oder ausgeprägt auf und es bestehe Handlungs- bzw. Therapiebedarf. Dieser Zustand wird als pathologisch eingeschätzt, wobei dessen Begriffsgeschichte im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrere Bezeichnungen von verschiedenen Arbeitsgruppen umfasst: die Rede war von morbider, pathologischer, prolongierter, chronischer, ungelöster, traumatischer, komplizierter Trauer bis zur heute am weitesten akzeptierten anhaltenden Trauerstörung, engl. persistent complex bereavement-related disorder (DSM-V) oder prolonged grief disorder (Vorschlag ICD-11).

Das hauptsächliche Problem ist die klare Abgrenzung einer krankhaften von einer sich noch im Rahmen der gesunden Streubreite befindlichen Trauerreaktion. Mehrere Definitionsversuche der anhaltenden Trauer trafen immer wieder auf entsprechende Kritiken. Man betrachte nur die aktuelle Diskussion um die Aufnahme eines Konzepts der anhaltenden Trauer als eigenständige Diagnose in die psychiatrischen Klassifikationssysteme des DSM-V (American Psychiatric Association 2013), wo die anhaltende Trauer als eigenständiges Krankheitsbild letztendlich nicht aufgenommen wurde bzw. nur im Forschungsanhang, oder der ICD-11 (WHO), wo die Entscheidung noch nicht gefallen ist, wahrscheinlich aber zugunsten der neuen Diagnose fallen wird (Maercker et al. 2013). Eine entscheidende Schwierigkeit in dieser Diskussion ist neben der schwierigen Abgrenzung wohl auch die z. T. sehr hohe Komorbidität der anhaltenden Trauer, vor allem mit Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen (s. u.).

Die heute am breitesten akzeptierte, vor allem auch für Studien verwendbare Definition der anhaltenden Trauer stammt von Prigerson et al. (2009) und ist unter folgenden Bedingungen erfüllt (nach Wagner 2013):

  1. Trennungsschmerz: das Gefühl von starker Sehnsucht und Suchen nach der verstorbenen Person, was fast täglich sowohl ein körperliches als auch emotionales Leiden hervorruft.
  2. Kognitive, emotionale und behaviorale Symptome
    (mindestens fünf der folgenden Symptome müssen täglich auftreten):
  3. Psychosoziale Schwierigkeiten: Die Belastungen haben klinischen Krankheitswert und behindern die betroffene Person in allen wichtigen Lebensbereichen.

Fragebögen

Zur Diagnostik anhaltender Trauerreaktionen vor allem im Rahmen von Studien wurden verschiedene Fragebögen entwickelt (s. Wagner 2013, S. 28 ff.). Die am häufigsten verwendeten seien hier kurz aufgelistet:

Epidemiologie

Die Häufigkeit anhaltender Trauerreaktionen ist einerseits vom verwendeten Messinstrument (bei den zitierten Untersuchungen meist das Inventory of Complicated Grief von Prigerson et al. 1995), andererseits davon abhängig, in welchem historischen und kulturellen Kontext und bei welcher Population eine Untersuchung vorgenommen wird. Die Prävalenz lag in repräsentativen Untersuchungen bei 14  95-Jährigen in Deutschland bei 3,7 %, in Japan bei 40  79-Jährigen bei 2,4 % (wobei allerdings Eltern, die ein Kind verloren hatten, ausgeschlossen wurden). In Risikopopulationen wie psychisch Kranken (z. B. bipolare Störungen oder stationär behandelte Patienten mit Depressionen) ist das Vorkommen viel häufiger (24,3 % bzw. 18,6 %). Trauernde Jugendliche im Kosovo kamen gar auf 34,6 % (alle Prävalenzangaben aus Wagner 2013, S. 27). Auffällig ist die sehr hohe Komorbiditätsrate der anhaltenden Trauer (s. Abb. 2-1). Diese hohe Komorbiditätsrate ist wohl ein Faktor, der die Aufnahme der anhaltenden Trauer als eigenständige psychische Störung in Diagnosemanuale wie ICD und DSM bisher so schwierig gemacht hat.

Komorbidität

Die häufigsten komorbiden psychischen Störungen sind Depression und Posttraumatische Belastungsstörung. Abb. 2-1 zeigt, dass nur ca. ein Drittel der Patienten mit komplizierter Trauer3 nicht gleichzeitig an Depression und/oder Posttraumatischer Belastungsstörung leiden. Zählt man weitere Komorbiditäten hinzu (vor allem Angststörungen sind häufig), kommt man sogar auf eine Komorbiditätsrate von 75 % (Simon et al. 2007).

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Abb. 2-1: Komorbidität zwischen komplizierter Trauer (CG – complicated grief), majorer Depression (MDD – major depressive disorder) und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD – posttraumatic stress disorder) (aus Simon et al. 2007)

2.3 Therapiemethoden, Therapieforschung

Jede Vorgehensweise, jede Therapierichtung oder »Schule« (psychoanalytische oder andere psychodynamische, humanistische, kognitive und verhaltenstherapeutische sowie systemische Ansätze) hat auf dem Boden ihrer Theorie ein Vorgehen zur Hand, welches sich im Fall einer anhaltenden Trauerreaktion anbietet. Es hat in den letzten Jahrzehnten aber auch eine Reihe von Arbeitsgruppen gegeben, die sich spezifisch mit der Therapie anhaltender Trauerreaktionen befasst haben und spezifische Vorgehensweisen vorschlagen, die sich nicht dogmatisch einer Theorie unterwerfen, sondern eher am Gegenstand, nämlich an der Symptomatik der Trauerreaktion, orientiert sind (s. Kap. 2.1). Dabei haben sich bestimmte Interventionen und Techniken weit verbreitet. Die Datenlage zur Wirksamkeit verschiedener Verfahren ist noch relativ unbefriedigend: Metaanalysen zeigen im besten Fall mittlere Effektstärken (Cohen’s d) um 0.5, es werden inkonsistente Definitionen der anhaltenden Trauer verwendet, was die Vergleichbarkeit mit anderen Studien erschwert, und ein methodisch-statistisches Hauptproblem ist das häufige Fehlen einer Kontrollgruppe in den Studien (Wagner 2013).

2.4 Verbreitete klinische Interventionen und Therapietechniken zur Behandlung anhaltender Trauer

Es werden hier heute übliche trauerspezifische Interventionen und Techniken kurz vorgestellt, die in den letzten wenigen Jahrzehnten entwickelt und verbreitet wurden und von Autoren verschiedener »Schulen« stammen. Ob und wie diese Techniken auch in der IRRT Verwendung finden, wird jeweils kurz erläutert.

Expositionsverfahren

Zur Konfrontation eines Vermeidungsverhaltens und vor allem bei traumatischer Trauer werden Expositionsverfahren in sensu und in vivo eingesetzt, wobei sich das Vorgehen nicht wesentlich von Expositionsverfahren unterscheidet, die zur Behandlung von phobischen oder posttraumatischen Störungen eingesetzt werden. Als wirksames Prinzip wird dabei eine Habituation postuliert. Bei einer Exposition in sensu wird der Patient meistens gebeten, in einer Imagination noch einmal die Phase zu durchleben und zu beschreiben, als er vom Tod des Verstorbenen erfuhr, dabei seine diesbezüglichen Gefühle und Kognitionen zu schildern und diese weiter mit dem Therapeuten zu bearbeiten. Bei einer Exposition in vivo werden Orte oder Personen besucht oder Situationen gezielt aufgesucht, die bisher vom Patienten vermieden worden sind, um gefürchtete Emotionen oder Reaktionen im Zusammenhang mit dem Verstorbenen nicht zu triggern.

In der Phase 1 einer IRRT-Sitzung werden im imaginativen Wiedererleben die Trauma- oder Verlust-assoziierten Emotionen aktiviert (als Mittel zum Zweck), sodass sie einer Verarbeitung zugänglich werden. Das entspricht in gewisser Weise einer Exposition in sensu.

Kognitive Verfahren

Da es bei Patienten mit anhaltender Trauer regelmäßig zum Auftreten trauerspezifischer maladaptiver Kognitionen kommt (z. B. »Ich habe keine Zukunft seit dem Verlust meiner Mutter« oder »Wäre ich rechtzeitig zu Hilfe gekommen, hätte sie überlebt« oder »Ich bin schuld an ihrem Tod«), zählt die kognitive Umstrukturierung auf einer rationalen Metaebene mithilfe von vorgegebenen Arbeitsblättern zu den vor allem bei kognitiven Verhaltenstherapeuten sehr verbreiteten Techniken. Dabei machen sich die Patienten aus einer kognitiv-rationalen Perspektive z. B. bewusst, dass ihre Schuldgefühle keiner vernünftigen Überprüfung standhalten.

In der IRRT wird die kognitive Umstrukturierung eher von der imaginativen Seite her angegangen. Erfahrungsgemäß ist es für die Patienten deutlich überzeugender, wenn ihnen der Verstorbene auf der INNEREN BÜHNE versucht, die Schuld zu nehmen, als wenn die Patienten selber ihre Gefühlsreaktionen lediglich auf einer Metaebene rational überprüfen.

Verfahren zur Förderung einer Begegnung mit dem Verstorbenen in sensu

Die Imagination einer Begegnung mit dem Verstorbenen wird mittlerweile in mehreren Behandlungsmethoden der anhaltenden Trauer eingesetzt. Verschiedene Ansätze werden hier kurz präsentiert.

Der leere Stuhl

Diese Technik stammt ursprünglich aus der Gestalttherapie von Perls (1974). Dabei wird dem Patienten ein leerer Stuhl gegenübergestellt, und er wird gebeten, sich vorzustellen, dass der Verstorbene auf diesem leeren Stuhl sitze. Der Patient soll dann dem Verstorbenen in direkter Ansprache zum Ausdruck bringen, was ihn in diesem Zusammenhang beschäftigt (z. B. wie der Sterbeprozess für ihn war, seine Gefühle und Gedanken dem Verstorbenen gegenüber und wie es ihm gehe seit dessen Tod). Anschließend wird der Patient gebeten, sich auf den leeren Stuhl zu setzen und anstelle des Verstorbenen zu antworten und sich dabei vorzustellen, dass er, der Patient, auf dem frei gewordenen Stuhl gegenübersitze. Die Übung findet mit offenen Augen statt und wird vom Therapeuten direktiv begleitet, indem er dem Patienten vorgibt, was dieser dem Verstorbenen sagen oder mit ihm tun soll.

Folgende Ähnlichkeiten zur IRRT werden deutlich: Die Arbeit mit einem Bild des Verstorbenen; der Ausdruck der Gedanken und Gefühle, die den Patienten beschäftigen; die direkte Ansprache des Verstorbenen; das Sichhineinversetzen in den Verstorbenen. Allerdings sind die Intensität und Tiefe der »Begegnung« und des emotionalen Erlebens beim leeren Stuhl meist geringer. In der IRRT bleibt der Patient in seiner Rolle (und Identität) als heutiger Mensch. So kann der imaginierte Verstorbene – bzw. dessen Repräsentation auf der INNEREN BÜHNE – am intensivsten erlebt werden, da Augenkontakt (visuelle Ebene) sowie Körperkontakt (physische Ebene) mit ihm möglich sind und gefördert werden. Eine typische Frage des IRRT-Therapeuten ist:

T:Was sehen Sie jetzt in den Augen des Verstorbenen, wenn Sie ihn umarmen und er Ihnen sagt: »Ja, ich vermisse dich auch«?

Das dadurch ausgelöste visuelle Fokussieren auf das emotionale Empfinden des Verstorbenen(-Bildes) auf der INNEREN BÜHNE und die eigene emotionale Reaktion des Patienten darauf, insbesondere der erwähnte Eindruck des unmittelbar Evidenten, machen oft den entscheidenden Erfolg einer IRRT-Trauersitzung aus.

Spurensuche (life imprint)

Bei bestimmten Patienten wird mit der »Spurensuche« im Einzel- oder Gruppensetting ein Verfahren durchgeführt, bei dem die Patienten sich bewusst werden und schriftlich festhalten (durch Arbeitsblätter und Hausaufgaben), was für vielfältige eigene Denkweisen, Verhaltensweisen, Gegenstände oder Vorlieben direkt mit dem Verstorbenen zu tun haben und von diesem übernommen worden sind. Auf diese Weise soll die innere Repräsentation des Verstorbenen intensiviert werden. Dabei müssen allerdings Patienten mit einer traumatischen Vorgeschichte mit dem Verstorbenen (z. B. Missbrauch) oder Patienten, die den Verstorbenen nicht loslassen können, ausgeschlossen werden (Neimeyer 2010, Wagner 2013).

Diese Art kognitiver Interventionen wird in der IRRT nicht eingesetzt, vor allem, weil die Kommunikation einseitig ist und die Chance, dass eine Reaktion vom Verstorbenen im Sinne einer Schlüsselszene stattfindet, nicht genutzt wird.

Brief an den Verstorbenen

Vor allem zum Therapieabschluss bitten manche Therapeuten ihre Patienten, einen Brief an den Verstorbenen zu verfassen, in dem noch einmal der Trauerprozess und dessen Schwierigkeiten sowie deren Überwindung zusammenfassend geschildert werden, sodass sich der Prozess noch einmal besser setzen und vertiefen könne.

Auch in der IRRT kann dieser Ansatz gelegentlich eingesetzt werden. Allerdings wird das laute Vorlesen des Briefes durch den Patienten in der Therapiestunde als wesentlicher Bestandteil angesehen (zur Intensivierung des Erlebens). Als wichtige Ergänzung kann in einer IRRT-Behandlung dann noch ein Brief (geschrieben vom Patienten) vom Verstorbenen an den Hinterbliebenen verfasst und ebenfalls laut vom Patienten vorgelesen werden.

Der kognitiv-konstruktivistische Ansatz von Neimeyer

Neimeyer (2006) hat einen Therapieansatz entwickelt, bei dem die trauernden Hinterbliebenen »angeleitet [werden]:

Insbesondere das imaginierte Gespräch mit dem Verstorbenen wird auch in der IRRT genutzt, sogar als zentraler Bestandteil bei Trauerfällen. Aber in der IRRT wird keine Vorgabe im Sinn von »gute Beziehung zum Verstorbenen finden« gemacht. In der IRRT wird auf den spontanen Handlungsimpuls des Patienten in der Begegnung mit dem Verstorbenen abgestellt, egal, ob dieser Impuls versöhnlich oder konfrontierend ist. Erfahrungsgemäß kann der von den Patienten selbst gestaltete Heilungsprozess so am besten ausgelöst und gefördert werden.

IADC: Induced After Death Communication

Die IADC-Methode von Allan Botkin (Botkin u. Hogan 2009) wird hier erwähnt, da sie Ähnlichkeiten zur IRRT aufweist und ähnliche Phänomene beschreibt, auch wenn sie aus einer völlig anderen Richtung stammt.

Die IADC stellt eigentlich eine Abwandlung des EMDR (Shapiro 1999) dar. Kurz zusammengefasst werden Patienten mit einer anhaltenden Trauerreaktion nach dem üblichen EMDR-Protokoll behandelt, allerdings mit folgenden Unterschieden:

Interessanterweise hat Shapiro die IADC nicht in ihren EMDR-Methodenkanon aufgenommen. Zwar gibt es auch in »klassischen« EMDR-Sitzungen Phänomene (s. z. B. Shapiro u. Silk Forrest 1998, S. 206  209), bei denen die Reaktionen des Verstorbenen in der Bearbeitung einer Trauerproblematik eine Rolle spielen, die allerdings nicht systematisch, sondern eher zufällig auftreten und in ihrer Funktion von den Autorinnen auch nicht gewürdigt werden.

Die Bewertung der IADC-Methode wird schwierig, wenn der Autor in seinen persönlichen Bemerkungen (S. 222 ff.) die beobachteten Phänomene als reale spirituelle Erfahrungen klassifiziert und sich in seinen Mutmaßungen recht weit vom wissenschaftlichen Boden entfernt.

2.5 Die therapeutische Grundhaltung von Trauertherapeuten