Bindungstraumatisierungen

Wenn Bindungspersonen zu Tätern werden

Herausgegeben von Karl Heinz Brisch

Der Herausgeber:

Karl Heinz Brisch, Prof. Dr. med. habil., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Pschotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin, Nervenheilkunde, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen, spezielle Psychotraumatologie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Er leitet die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München und hat den weltweit ersten Lehrstuhl und das Forschungsinstitut für »Early Life Care« an der Paracelsus Medizinische Privatuniversität in Salzburg inne.

Mit Beiträgen von:

Karl Heinz Brisch, Daniel Brown, Silke Birgitta Gahleitner, Elke Garbe, Katharina Gerlich, Mary Margaret Gleason, Brigitte Hahn, Heidemarie Hinterwallner, Daniel Hughes, Francien Lamers-Winkelman, Mathilde M. Overbeek, Hermann Radler, Clasien de Schipper, Andrea Schleu, Carlo Schuengel, Valerie Sinason, Howard Steele, Gisela Zenz.

Impressum

Die Beiträge von Valerie Sinason, Howard Steele et al., Mary Margaret Gleason, Daniel Hughes sowie Mathilde M. Overbeek et al. wurden von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © JPagetRFphotos/fotolia.com

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96331-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10030-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20316-5

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Trauma ist nicht gleich Trauma

Traumatisierung und physiologische Reaktion

Trauma und Erinnerung

Welcher Art ist das Trauma?

Die Opfer einer Bindungstraumatisierung

Die Therapie bei Bindungstraumatisierungen

Die Arbeit mit den Täterinnen und Tätern

Weitergabe des Wissens über Bindungs- bzw. Entwicklungstraumatisierung

Literatur

Verletzung von Grenzen in der Psychotherapie

Ethik in der Psychotherapie

Ethikverein

Ethikleitlinien

Abstinenz

Abstinenz als Aktivität

Empathie

Beratungsdaten des Ethikvereins

Quantitative und qualitative Auswertung der Beratungsfälle

Häufigkeit der Grenzverletzungen

Anonymität

Berufsgruppen

Therapieverfahren

Supervision

Auswirkungen von sexuellen Grenzverletzungen

Zwei Fallbeispiele

Erwartungen der Ratsuchenden

Folgen bei Psychotherapeuten

Sexueller Missbrauch

Gelingende Psychotherapie und ihre Bedingungen

Variablen einer misslingenden Psychotherapie

Der Psychotherapeut als Risikofaktor

Hilfen für Patienten

Hilfen für grenzverletzende Psychotherapeuten

Anmerkungen

Literatur

Die Identifikation mit dem Täter und der Umgang mit dem Täter-Introjekt

Jane

Die dissoziative Identitätsstörung in der Definition des DSM-5

Ein typischer Fall: Anna

Die wichtigsten Persönlichkeiten in diesem System

Was Anna und ihrer Therapeutin widerfuhr: Das Täter-Introjekt

Weitergehende theoretische Hilfen

Abschließende Überlegungen

Literatur

Bindung und komplexes Trauma

Das Adult Attachment Interview

Intergenerationale Bindungsmuster

Zur Kohärenz des Transkripts

Unverarbeitete Trauer aufgrund einer zurückliegenden Verlust- oder traumatischen Erfahrung

Daniel Browns »Waisenhaus-Studie«

»Unbewältigt, aber im Übrigen sicher« gegenüber »Unbewältigt, aber im Übrigen unsicher (distanzierend oder verstrickt)«

Wie lässt sich diese Waisenhaus-Studie in einen Zusammenhang mit der vorhandenen Literatur bringen?

Ratschläge für Traumatherapeuten

Die Arbeit an der Londoner Klinik

Eine dissoziative Episode im Verlauf des AAI

Das Eigentumsrecht an traumatischen Erinnerungen

Den intergenerationellen Kreislauf des Missbrauchs durchbrechen

Abschließende Überlegungen

Literatur

Undifferenziertes Sozialverhalten: Ein Überblick

Institutionelle Betreuung

Enthemmtes Sozialverhalten

Das Umfeld der Betreuung

Bindung und undifferenziertes Verhalten

Psychosoziale Korrelate des undifferenzierten Sozialverhaltens

Biologische Korrelate des undifferenzierten Sozialverhaltens

Der Entwicklungsverlauf des undifferenzierten Sozialverhaltens

Interventionen und klinische Implikationen

Anmerkung

Literatur

Kein Täter werden?

Einleitung

Aus der Gewalt in die Gewalt? – Ein Daphne-Forschungsprojekt

Wege in die Gewalt

Wege aus der Gewalt

Schlussfolgerungen

Anmerkungen

Literatur

Gewalt in der Pflege alter Menschen – Rechtsschutz für Pflegende und Gepflegte

Daten, Fakten, Forschung

Pflegebedürftigkeit und Pflegeleistungen

Versorgungsprobleme – Häufigkeit?

»Gewalt« – Formen, Folgen, Risikofaktoren

Rechtsschutz gegen Gewalt – Gesetze und Gesetzeslücken

Unterstützung und Beratung

Kontrolle

Intervention und Sanktion

Reformbedarf und politische Initiativen

Rechtspolitische Empfehlungen zum Schutz vor Gewalt in der häuslichen Pflege

Frühe Prävention

Helfende Intervention

Balance von Autonomie und Schutzbedarf

Einsetzung einer Expertenkommission

Anmerkungen

Literatur

Dyadische Entwicklungspsychotherapie

Trost und Freude

Offenheit und engagiertes Mittun

Intersubjektivität

»PACE«

Der affektiv-reflexive Dialog

Emotionale Regulation und reflexives Verhalten

Sprechen: Mit dem Kind, für das Kind, über das Kind

Fallbeispiel

Literatur

Das fragmentierte Selbst

Das Entwicklungstrauma

Die Folgen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen – eine Fragmentierung des Selbst

Konsequenzen für die Therapie: Die Methode der Integration traumaassoziierter Selbstanteile

Bedingung: Netzwerkarbeit und Kooperation

Literatur

Kinder unter dem Einfluss des Erlebens von Gewalt zwischen den Eltern

Was ist zwischenelterliche Gewalt?

Folgen für die betroffenen Kinder

Zum Zusammenhang von zwischenelterlicher Gewalt und Verhaltensstörungen der Kinder

Interventionen zugunsten betroffener Kinder

Die trauma-fokussierte Intervention

Die aktuelle Studie

Die beiden Formen der Intervention, mit denen wir arbeiteten

Die auf zwischenelterliche Gewalt fokussierte Intervention

Die allgemeine Intervention

Das Untersuchungs-Design

Die Teilnehmer

Die Exposition gegenüber multiplen Risikofaktoren

Die Wirkung der trauma-fokussierten Behandlungsfaktoren

Klinisch signifikante Besserungen

Der zeitliche Faktor

Wie kommt die positive Wirkung zustande?

Wer hat den größten Nutzen von dieser Intervention?

Abschließende Überlegungen

Die Bedeutung der Einbeziehung der Eltern in die Intervention zugunsten der Kinder

Die Arbeit mit nicht-spezifischen und mit trauma-spezifischen Behandlungsfaktoren

Gemeindenahe Intervention versus Therapie

Diagnose im Vorfeld

Anmerkung

Literatur

Rituelle Gewalt – das Unheimliche unter uns

Rituelle Gewalt

Der ideologische Hintergrund ritueller Gewalt

Die Erziehung der Kinder

Programmierungen von Kindern

Gefährdung von Kindern

Anhaltspunkte für das Vorliegen von ritueller Gewalt

Notwendige Maßnahmen, um satanistischen Sekten entgegenzutreten

Anmerkungen

Literatur

Das MOSES-Therapiemodell

Das MOSES-Therapiemodell

Diagnostik und Behandlung von körperlichen Symptomen

Milieutherapie

Einzelpsychotherapie

Kreative Therapien

Schule für Kranke

Lernen von Empathie durch »B.A.S.E. – Babywatching«

Pädagogische und psychotherapeutische Arbeit mit den Eltern

Sozialarbeit

Team- und Fallsupervision

Evaluation des MOSES-Therapiemodells

Fallbeispiel eines sehr früh und schwerwiegend traumatisierten Adoptivkindes

Prävention

Zusammenfassung

Dank

Literatur

Adressen der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Vom 9. bis 11. Oktober 2015 wurde von der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Dr. v. Haunerschen Kinderspital, der Ludwig-Maximilians-Universität München eine internationale Konferenz mit dem Titel »Bindungstraumatisierungen: Wenn Bindungspersonen zu Tätern werden« (»Attachment Traumatizations: When Attachment Figures become Perpetrators«) durchgeführt. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für den Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass er die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchte. Die Thematik des vorliegenden Konferenzbandes umfasste eine Vielzahl von Aspekten aus dem Bereich »Bindungstraumatisierungen«.

Es ist eine traurige Wahrheit, aber Menschen werden manchmal gerade – oftmals über viele Jahre – durch ihre Bindungspersonen traumatisiert. Solche Traumatisierungen können bereits während der Schwangerschaft, aber auch in allen späteren Altersphasen – vom Säuglingsalter bis zum hohen Alter – erfolgen. Wir sprechen dann von Bindungstraumatisierungen. Die Betroffenen werden hier von den Personen traumatisiert, von denen sie eigentlich Schutz und Sicherheit erwartet hätten. So können etwa Kinder durch ihre Eltern, Schüler durch Lehrerinnen und Lehrer, Patienten durch Ärzteinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten, alte Menschen durch Pflegepersonen oder ihre eigenen Kinder traumatisiert werden.

Dies hat langfristige und gravierende Auswirkungen auf alle psychischen, körperlichen und sozialen Bereich der Betroffenen. Hieraus entstehen u. a. pathologische Bindungen des Opfers an die Täter, Erkrankungen mit dissoziativer Symptomatik und vielfältige Muster von Bindungsstörungen. Welche Faktoren schützen, welche Rolle spielen neue wichtige Bindungspersonen, wie können neue Beziehungen aufgebaut werden? Was müssen aufnehmende Pflege und Adoptivfamilien wissen, damit aus dem Schicksal früherer Bindungstraumatisierung eine neue Ressource für Entwicklung und Bindungssicherheit erwachsen könnte? Welche Form der Begleitung, Beratung, Therapie und Prävention ist für diese Menschen hilfreich? Führende, international renommierte Fachleute und Forscher geben in diesem Buch Antworten auf diese Fragen und berichten über die neuesten Erkenntnisse und Ergebnisse aus ihren Studien, die uns für die Problematik sensibilisieren sowie Wege für neue Entwicklungen aufzeigen sollen.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren, dass sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Ein herzlicher Dank gilt Frau Ulrike Stopfel, die wiederum sehr engagiert, wie auch in den vergangenen Jahren, alle englischsprachigen Beiträge in exzellenter Qualität rasch übersetzt hat. Ein besonderer Dank gilt auch der hervorragenden Arbeit von Herrn Thomas Reichert, der die einzelnen Manuskripte rasch und sorgfältig editiert hat. Ein weiterer Dank gilt Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta dafür, dass sie sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches beim Verlag eingesetzt und die rasche Herstellung gewährleistet haben.

Das Buch richtet sich an Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen sowie an Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Pädagoginnen und Pädagogen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, ebenso an alle, die sich mit der Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen nach Traumatisierungen durch Bindungspersonen bei Erwachsenen sowie bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Ebenso sind alle Berufsgruppen angesprochen, die kranke Menschen nach Bindungstraumatisierungen in allen Altersgruppen betreuen und begleiten, wie etwa Hebammen, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, Heilpädagoginnen und -pädagogen, Umgangspflegerinnen und -pfleger, Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, Logopädinnen und Logopäden, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Juristinnen und Juristen, Politikerinnen und Politiker sowie Adoptiv- und Pflegeeltern. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch allen hilft, die im Kontext von Therapie, Beratung, Begleitung und sozialer Arbeit für Menschen mit Bindungstraumatisierungen tätig sind. Es soll auch denjenigen wichtige Anregungen geben, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen im Kontext von Bindungstraumatisierungen beschäftigt sind.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch umfasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen »Forschung«, »Klinik« und »Prävention«, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema »Bindungstraumatisierungen« beschäftigen. Neben den Ergebnissen aus der Forschung werden auch anhand von Fallbeispielen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit vermittelt, um die therapeutischen Möglichkeiten und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie, Begleitung und Beratung bei Menschen mit Bindungstraumatisierungen aufzuzeigen sowie Hinweise zur Prävention zu geben.

In einem grundlegenden Beitrag beschäftigt sich Karl Heinz Brisch mit der Frage, welcher Unterschied zwischen z. B. einer als traumatisch erlebten Naturkatastrophe und einer Bindungstraumatisierung besteht. Er schildert die spezifischen Auswirkungen von Bindungstraumatisierungen für die Opfer, die Täter und auch die Behandler.

Wenn Patienten in der Psychotherapie von ihren Therapeutinnen oder Therapeuten traumatisiert werden, weil es zu verschiedenen Formen von Grenzverletzungen kommt, ist dies eine besondere Form von Bindungstraumatisierung. Andrea Schleu fragt, was in diesem Zusammenhang einen ausreichend guten Psychotherapeuten ausmacht und wie durch die Arbeit von Ethikkommissionen mit Grenzverletzungen umgegangen werden kann.

Valerie Sinason, eine Spezialistin für die Behandlung von dissoziativen Identitätsstörungen, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit komplexen und sehr ungewöhnlichen Bindungsmustern bei bindungstraumatisierten Patienten und den therapeutischen Herausforderungen, wenn der Patient mit dem Täter, meistens der Bindungsperson, identifiziert bleibt und von starken Täterintrojekten beherrscht ist.

Howard Steele, Daniel Brown und Valerie Sinason haben Bindungsinterviews mit bindungstraumatisierten Patienten durchgeführt und analysiert. Hieraus konnten sie grundlegende Überlegungen zum Thema »Reflexionsbereitschaft und Mentalisierung« herausarbeiten.

Kinder, die schon sehr früh, oft vom Säuglingsalter an, unter Bedingungen von Vernachlässigung aufwachsen, etwa unter schwierigsten deprivatorischen Heimbedingungen, entwickeln oft ein Muster der indifferenten Bindungsstörung. Mary Margaret Gleason gibt einen Überblick über den Stand der Forschung und die Relevanz dieser Störung für die klinische Behandlung dieser Kinder.

Silke Gahleitner, Katharina Gerlich, Heidemarie Hinterwallner und Hermann Radler verfügen über ein großes Spektrum von Erfahrungen in der Jugendhilfe. Wenn Kinder mit Bindungstraumatisierungen in der Jugendhilfe bzw. in Jugendhilfeeinrichtungen behandelt werden, so kommt es oft zur Re-Inszenierung der Bindungstraumatisierung mit den pädagogischen Betreuungspersonen. Die Autoren fragen, wie mit solchen bindungstraumatisierten Kindern gearbeitet werden kann, ohne dass es zur Re-Inszenierungen kommt, wobei die Betreuer dann nicht mehr sichere Bindungspersonen sind, sondern auch zu Tätern werden können.

Auch in der Pflege alter Menschen können diejenigen, die für Schutz zuständig sind, zu Tätern werden, so dass Bindungstraumatisierungen auch im Alter vorkommen. Gisela Zenz ist eine der Ersten, die sich mit dieser so wichtigen Fragestellung auseinandergesetzt hat, und plädiert für einen Rechtsschutz für Pflegende und Gepflegte.

Die Behandlung von bindungstraumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stellt für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar. Daniel Hughes hat eine spezifische dyadische Entwicklungspsychotherapie entwickelt, die auf der Bindungstheorie aufbaut und sehr erfolgreich Kinder, deren Eltern zu Tätern wurden, behandeln kann, wie er mittels Fallbeispielen dokumentiert und darstellt.

Auch der Beitrag von Elke Garbe schildert eine Methode zur Integration traumaassoziierter Selbstanteile in der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Die therapeutische Methode, welche die Autorin entwickelt hat, wird sehr differenziert dargestellt. Mit dieser Methode können die durch frühe Bindungstraumatisierungen entstandenen fragmentierten Selbstanteile eines Kindes wieder erfolgreich integriert werden. Dies wird mit Hilfe von Abbildungen erläutert.

Mathilde Overbeek, Clasien de Schipper, Francien Lamers-Winkelman und Carlo Schuengel wenden sich einem sehr schwierigen und belastenden Thema zu: Wenn Bindungspersonen, z. B. Eltern, sich gewalttätig auseinandersetzen und die Kinder Zeugen dieser gewalttätigen Auseinandersetzungen werden, so stellt dies ebenfalls eine Bindungstraumatisierung der Kinder dar, obwohl sie nicht direkt durch Gewalt geschädigt wurden. Aber alleine durch das Miterleben der Gewalt erfahren die Kinder – infolge der Spiegelneuronen – Angst, Panik, und das Geschehen hinterlässt traumatische Spuren im Gehirn der Kinder. Mathilde Overbeek hat ein Programm entwickelt, wie diesen Kindern, die »nur Zeugen« der Gewalt zwischen Bindungspersonen geworden sind, geholfen werden kann.

Rituelle Gewalt in destruktiven Kulten und Sekten ist ein nach wie vor in unserer Gesellschaft stark verleugnetes Thema. Brigitte Hahn hat sich seit vielen Jahren genau diesem Thema gewidmet, sie schildert mit großer Expertise die Folgen von ritueller Gewalt und berichtet über präventive Ansätze.

Abschließend beschreibt Karl Heinz Brisch das MOSES®-Therapiemodell, das speziell zur Behandlung von bindungstraumatisierten Kindern entwickelt wurde. In diesem Konzept der stationären Intensivpsychotherapie zur Behandlung früh und schwer bindungstraumatisierter Kinder zeigen die Evaluationsergebnisse erste spannende Erfolge. Nicht nur die Symptomatik der Kinder hat sich entsprechend positiv verändert, sondern es finden, wie an einem Fallbeispiel aufgezeigt wird, auch in spezifischen traumaassoziierten Hirnstrukturen umfangreiche Wachstums- und Vernetzungsprozesse statt, die im Vergleich zwischen Messungen durch Kernspinuntersuchungen des Gehirns vor und nach der Behandlung sowie im Follow-up als mit der spezifischen Behandlungsmethode nach dem MOSES®-Therapiemodell assoziiert verstanden und interpretiert werden können. Ähnlich positive Veränderungen finden sich auch in der Reaktion des Oxytocin-Hormons auf einen emotionalen Stressor.

Brisch verweist abschließend noch auf das Präventionsprogramm »SAFE – Sichere Ausbildung für Eltern«, durch das nachweislich transgenerationale Traumatisierungen, d. h. die Weitergabe von traumatischen Erfahrungen von Bindungspersonen an die Kinder, mittels früher Interventionen, die in der Schwangerschaft beginnen, unterbrochen werden können.

Alle Beiträge haben einen spezifischen Fokus und profitieren von der großen Expertise der Autoren, speziell auf diesem Gebiet. Auf diese Weise können das Buch und die Beiträge zu einem vertieften Verständnis der Entstehung, der Konsequenzen von Bindungstraumatisierungen sowie der therapeutisch möglichen Prozesse beitragen.

Karl Heinz Brisch

Trauma ist nicht gleich Trauma

Die spezifischen Auswirkungen von Bindungstraumatisierungen auf Opfer, Täter und Behandler

Traumatisierung und physiologische Reaktion

Traumatische Erfahrungen sind dadurch gekennzeichnet, dass wir in eine Situation geraten, in der wir uns so bedroht fühlen, dass wir von Panik und Ohnmacht überwältigt werden. In der Regel ist dies eine Situation, die durch Todesbedrohung gekennzeichnet ist. Wir wissen keinen Ausweg, fühlen uns hilflos und ohnmächtig, sind von Stress überwältigt und haben das Gefühl, dass wir sterben werden. In einer solchen Situation wird das Gehirn von Stresshormonen überflutet, der Körper ist im Kampf- und Fluchtmodus, weil er von Adrenalin durchflutet wird, der Puls rast, der Blutdruck ist hoch, es wird im Körper Blutzucker zur Verfügung gestellt. Dies sind extreme physiologische Reaktionen, die den Sinn haben, doch noch durch Kampf und Flucht der lebensbedrohlichen Situation zu entrinnen. Dies sind sehr »archaische« Verhaltensweisen des Körpers, die sich in der Evolution so entwickelt haben (Fischer & Riedesser 1999).

Nur dann, wenn wir in einer vollkommen ausweglosen Situation sind und Kampf und Flucht nicht einmal ansatzweise eine Lösungsmöglichkeit bzw. einen Weg zur Rettung darstellen, geraten unser Körper und das Gehirn in einen sogenannten »dissoziativen Zustand« (Brisch 2012b; Huber & Schickedanz 2014). In dieser Situation wird das Großhirn sozusagen »abgeschaltet«; wir funktionieren dann vorwiegend auf der Funktionsebene des Stammhirns. Hier werden alle physiologischen Reaktionen für Herz, Kreislauf, Blutdruck und Atmung organisiert und koordiniert. Dies bedeutet: Einerseits wird zwar mit diesen Stammhirnfunktionen das Überleben garantiert, andererseits sind aber Fühlen, Denken, Erinnern, Handlungsplanung, Empathie, Sprache, also alle wesentlichen Großhirnfunktionen, beeinträchtigt bis ganz »abgeschaltet«, blockiert.

Trauma und Erinnerung

Durch den Prozess der unterschiedlich ausgeprägten Dissoziation ist es nicht verwunderlich, dass Menschen sich manchmal an eine traumatische Situation nicht mehr erinnern können oder auch nur Fragmente von Erinnerungen übrig sind, die z. B. bei einem Polizeiverhör berichtet werden können. Opfer etwa eines Überfalls werden oftmals damit konfrontiert, dass in Frage gestellt wird, ob die traumatische Situation überhaupt stattgefunden hat, wenn sie sie nicht vollständig und stimmig, sondern nur in Fragmenten erinnern können. Die fragmentarische Erinnerung spricht aber eher dafür, dass das Trauma stattgefunden hat, weil unsere normale Gedächtnisfunktion im Hippocampus durch extremen Stress beeinträchtigt ist und Erfahrungen etwa von Körpersensationen, Gerüchen, Stimmen, aber auch von visuellen Eindrücken ebenso nur fragmentiert oder gar nicht erinnert werden. Diese bilden unter diesen stressvollen Bedingungen in der Regel keine zusammenhängende, integrierte Erinnerung, die in einem kohärenten Narrativ wiedergegeben werden könnte, weil unter der extremen Stresserfahrung die einzelnen Eindrücke fragmentiert abgespeichert wurden.

Für eine später stattfindende traumazentrierte Therapie ist es typisch, dass die einzelnen, wie Puzzle-Teile versprengten Erinnerungen dann wieder zusammengefügt und auch zusammenfassend erinnert und berichtet werden können. In der Traumatherapie findet also nachträglich eine Synthese von fragmentierten Erinnerungsspuren auf der kognitiven, affektiven, sensorischen und der körperlichen Ebene statt (van der Kolk et al. 1997; Arditi-Babchuk et al. 2009; Gaensbauer 2002; Bremner et al. 1993).

Welcher Art ist das Trauma?

Dabei macht es nun einen großen Unterschied, welcher Art das Trauma ist, das einen Menschen bedroht: Ein Trauma, das uns in diese ohnmächtige lebensbedrohliche Situation bringt, kann ein Ereignis sein, das quasi plötzlich, einmalig und von außen kommt – wie etwa eine Naturkatastrophe, die Beteiligung an einem Unfall oder das Miterleben eines Banküberfalls oder ein ähnliches Ereignis (wir sprechen auch von sogenannten Typ-I-Traumata). Das Trauma aktiviert in extremer Weise unser Bindungsbedürfnis. Bestenfalls haben wir selbst eine sichere Bindungsrepräsentation. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns unmittelbar Hilfe holen und uns an unsere spezifischen Bindungspersonen oder Personen wenden, von denen wir ebenso eine bindungsorientierte Hilfe erwarten, wie Rettungssanitäter, Notarzt, Polizist, Psychotherapeuten. Von diesen erwarten wir, dass sie uns versorgen, beruhigen und schützen sowie uns bei der Verarbeitung, der Stressbewältigung und der Integration des Traumas helfen können, selbst dann, wenn sie etwa durch das Naturereignis auch in Angst und Schrecken versetzt und eventuell auch verletzt wurden (Wöller 2014; Brisch 2015a, c). Bindungsvermeidende Menschen haben dagegen nach einem Trauma größere Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen, lehnen diese eher ab und vermitteln nach außen, dass sie mit dem Schrecken des Erlebten schon alleine klarkommen werden. Gleichzeitig bleibt ihr nicht geäußertes Bindungsbedürfnis innerlich sehr aktiviert, der innere Stress wird nicht beruhigt, wie sich auch an erhöhten Cortisolwerten nachweisen lässt.

Erleben Menschen ein länger andauerndes oder sich immer wiederholendes Trauma, dessen Ende nicht voraussehbar noch beeinflussbar ist, sprechen wir von Trauma Typ II. Dies ist z. B. der Fall, wenn Menschen Bedrohungen während Kriegshandlungen, durch Folter, Vertreibung oder Geiselnahme, wiederholten Vergewaltigungen über lange Zeit ausgesetzt sind. Hierbei werden oft vielfältige Arten von Traumatisierungen gleichzeitig erlebt, wie körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt.

Die häufigsten Traumatisierungen dieser Art ereignen sich im Rahmen sogenannter familiärer Gewalt und hier wiederum oftmals während der Kindheit. Die traumatische Situation wird als umso stressvoller erlebt, je häufiger und länger andauernd die eigene Person direkt körperlich und psychisch bedroht ist, etwa durch körperliche und sexuelle Gewalt, die von Menschen an Menschen verübt wird. Je früher im Leben eines Menschen diese Erfahrungen gemacht werden, etwa schon im Säuglings- und Kleinkindalter, umso stressvoller sind sie und umso gravierender sind auch die neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Dies zeigt sich besonders in Reifungsdefiziten in stressrelevanten Regionen wie etwa dem limbischen System, dem Hippocampus und dem präfrontalen Cortex.

Werden diese Traumatisierungen durch eine dem Opfer bekannte Bindungsperson ausgeübt, sind sie traumatisierender, als wenn die Bedrohungen durch eine fremde Person ausgeführt werden. Denn wenn die Bindungspersonen selbst – also die Personen, die uns nahestehen, die eigentlich für Schutz und Sicherheit stehen sollten –, die Quelle des Traumas sind, dann bekommt die traumatische Situation noch einmal eine andere, vielleicht die schlimmste Qualität, die man sich vorstellen kann. Wir sprechen dann von einer »Bindungstraumatisierung«. Die beiden Arten der traumatischen Erfahrung – auf der einen Seite z. B. der Autounfall und auf der anderen die Vergewaltigung und die sexuelle Gewalt etwa an der Tochter durch den Vater – lassen sich im Hinblick auf die Auswirkungen auf das Stress- und Bindungssystem sowie das Ausmaß der Traumafolgestörungen nicht miteinander vergleichen. Während bei der ersten Situation, dem Autounfall, die Bindungspersonen, z. B. die Eltern, im besten Fall einem etwa betroffenen Kind als hilfreiche Unterstützer zur Verfügung stehen und bei der Verarbeitung des Geschehens helfen, ist dies nicht der Fall, wenn das traumatische Ereignis durch eine Bindungsperson selbst ausgeübt wird. Wenn die Personen, die per definitionem für Schutz und Sicherheit zuständig sind, gleichzeitig z. B. ihr Kind lebensbedrohlich traumatisieren, dann führt dies zu einer Verschärfung der traumatischen Situation und zu einer Intensivierung des Gefühls von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dies ist besonders gegeben, wenn das eigene Kind etwa für rituelle sexuelle Gewalt Tätern zur Verfügung gestellt wird; ebenso durch ausgeprägte körperliche und emotionale Vernachlässigung und durch emotionale Gewalt im Sinne von Ablehnung, Kränkung, Verletzung und konstanten Demütigungen. Während im ersten Fall, beim Autounfall, die betroffenen Opfer sich relativ rasch Hilfe und Unterstützung holen können – etwa bei ihren Bindungspersonen –, sind diese Bindungspersonen im zweiten Falle nicht zugänglich. Im Gegenteil: Diese sind die Quelle von intensiver, lebensbedrohlicher Angst. Sie sind für das Kind die bedrohlichsten Peiniger, denen es nicht entkommen kann, weil es, um zu überleben, von ihnen abhängig ist.

Es ist typisch, dass Kinder, die sexuellen Missbrauch erleiden, sich auch dann nicht an ihre Bindungspersonen wenden, wenn eine Bindungsperson indirekt bei dem sexuellen Missbrauch beteiligt ist, etwa wenn eine Mutter wissentlich den sexuellen Missbrauch an ihrer Tochter durch den Vater toleriert. Nicht selten schauen Mütter weg, wenn sie mitbekommen, dass das Kind etwa vom Kindsvater oder einem neuen Partner der Mutter sexuell missbraucht wird. Ein solches Wegschauen, das für Außenstehende ganz unverständlich ist, hat manchmal den Hintergrund, dass die Mütter selbst bereits in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren haben. Sie werden dann durch die Beobachtung des sexuellen Missbrauchs an ihrem Kind »getriggert«. Dies bedeutet: Alte Erinnerungen und Ängste an den selbst erlebten sexuell Missbrauch aus ihrer Kindheit tauchen mit allen Gefühlen von Panik, Ohnmacht und Hilflosigkeit aus der Vergangenheit wieder auf und überfluten die Mütter innerlich mit heftigsten Emotionen. Manchmal erleben die Mütter nur eine extreme Anspannung und Erregung, die sie nicht zuordnen können, weil die Erinnerungen an den eigenen frühen Missbrauch dissoziiert wurden und damit nicht erinnerbar sind. Dadurch sind sie, jetzt als erwachsene Frauen, nicht in der Lage, den Täter in die Schranken zu weisen, ihn zu konfrontieren, eine Anzeige gegen ihn zu erstatten, sich sofort von ihm zu trennen bzw. ihn aus dem Haus zu weisen. Vielmehr ist es so, dass sie unter den gerade geschilderten Bedingungen wegschauen, schweigen. Im schlimmsten Falle helfen sie auch noch bei der Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs durch den oder die Täter – wie das in Kreisen üblich ist, wo ritueller sexueller Missbrauch verübt wird. So unterstützen sie die Täter dabei, die Kinder den z. B. rituellen, sexuellen Missbrauchshandlungen zuführen, die auf schlimmste sadistische Weise an ihnen ausgeführt werden. Sie werden also – getriggert durch ihre eigene traumatische Vorgeschichte mit eigenen Bindungstraumatisierungen aus ihrer Kindheit – jetzt im Erwachsenenalter zu Co-Tätern, die den Tätern loyal und ergeben »zuarbeiten«. Dies ist daraus zu verstehen, dass sie die täterloyale Bindung an jene Personen, durch die sie einst selbst sexuelle oder körperliche Gewalt in ihrer Kindheit erfahren haben, jetzt auf erwachsene Täter, die als Partner oder Verwandte, Bekannte auftauchen, übertragen. Damit lassen sie sich als Co-Täter in den Missbrauch einbinden und glauben, den Täter »steuern« zu können, indem sie sich ihm unterwerfen und sich ihm gegenüber loyal verhalten. Diesmal ist das Opfer aber nicht die eigene Person, sondern das eigene Kind.

Auf diese Weise wiederholen sich Bindungstraumatisierungen über Generationen, und es erklärt sich, warum Mütter, die selbst als Kind Opfer von sexueller Gewalt geworden waren, quasi als täterloyale Bezugsperson jetzt bei sexueller Gewalt »mitmachen«, statt sich entschieden gegen die Täter zu wenden (Brisch 2015b; Wöller 2014).

Die Opfer einer Bindungstraumatisierung

Für die betroffenen Opfer, meistens Kinder, ist die Traumatisierung durch Bindungspersonen eine stressvolle Extremerfahrung. Zu den Tätern können bei Bindungstraumatisierungen neben Eltern und anderen Betreuungspersonen aus der Familie auch etwa Lehrer und Lehrerinnen, Priester bzw. Pfarrer, Psychotherapeuten sowie alle gehören, die grundsätzlich aufgrund ihrer Position und ihres Wissens und ihrer Machtstellung als Bindungspersonen mit Schutz und Sicherheit assoziiert werden. Bei all diesen Personen spricht man, wenn Kinder – aber auch Jugendliche und Erwachsene – durch sie körperliche und sexuelle Gewalt erfahren, von einer Bindungstraumatisierung. Eine solche zeigt sich klinisch bei Patienten oft in Form von schweren Persönlichkeitsstörungen, wie etwa Borderline-Störungen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Entwicklung von chronifizierten komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen, die mit vielfältigen generalisierten Ängsten, Panikanfällen, Depressionen, suizidalen Krisen und Suizidversuchen sowie dissoziativen Zuständen einhergehen.

Bei Bindungsstraumatisierungen sitzen die Kinder sozusagen doppelt »in der Falle«: einmal durch die Gewalterfahrungen und auch -androhungen und zum andern, weil es oft niemanden, schon gar keine Vertrauens- bzw. Bindungsperson, mehr gibt, an den sie sich in ihrer Not wenden könnten. Nur ganz selten gelingt es ihnen doch noch, etwa gegenüber einer Lehrerin bzw. einem Lehrer, einer Kindertherapeutin, in Bezug auf welche sie sich ein wenig bindungssicherer fühlen, eine Andeutung zu machen über das, was zu Hause passiert. Werden diese Andeutungen oder Bemerkungen gehört, wird darauf reagiert, bedeutet dies eine wunderbare Hilfestellung für das Kind: besonders dann, wenn solche Notsignale etwa von einer Lehrerin bzw. einem Lehrer aufgegriffen werden und zur Folge haben, dass das Jugendamt eingeschaltet wird. Das kann dazu führen, dass in der Familie des Kindes »nach dem Rechten geschaut wird« und durch einen Besuch bei der Familie auch unter Umständen klar wird, dass das betreffende Kind aus der Familie herausgenommen werden muss (Brisch 2015b).

Die Therapie bei Bindungstraumatisierungen

Bindungstraumatisierungen, wie sie oben beschrieben wurden, stellen dann auch für die Behandler eine besondere Herausforderung dar. Die Kinder haben besonders große Angst, sich einer Therapeutin bzw. einem Therapeuten anzuvertrauen, sie sind misstrauisch, skeptisch, wollen nicht sprechen noch in einer Spieltherapie spielen, ziehen sich zurück, verhalten sich gehemmt und verschlossen. Dies ist aber nur eine Variante des Verhaltens solcher Kinder. Ähnlich schwierig verhalten sich Kinder, die auf geradezu gegenteilige Weise reagieren: Sie zeigen sich in den Spielstunden oft über lange Zeit überaus freundlich, kooperativ, ja geradezu angepasst und unterwürfig; sie demonstrieren, dass sie bereit wären, alles zu tun, um einer schwierigen Situation zu entgehen. Sie wollen sich mit der Behandlerin bzw. dem Behandler »gut stellen«, Konflikte möglichst vermeiden.

Dies ist auch in der Familie eine Abwehrstrategie gewesen. Das Kind sagte sich: Ich passe mich an, ich unterwerfe mich, ich verhalte mich maximal kooperativ, unauffällig bis »unsichtbar« – dann wird alles nicht so schlimm werden. Widerstand, eine eigene Position, eine eigene Meinung, sich zurückzuziehen, gar sich zu verweigern, dies wäre lebensbedrohlich gewesen, weil die traumatisierende Bindungsperson, etwa der Vater, ein solches Verhalten nicht toleriert und mit offener Gewalt gedroht hätte.

Es kann passieren, dass die Behandler in der Übertragung über lange Zeit in der Kindertherapie keinen Zugang zum Kind bekommen, weil die Kinder wenig sprechen, lächeln. Manche Kinder fragen ganz freundlich, geradezu devot höflich, was die Therapeutin/der Therapeut heute für Spiele machen möchte – und dies kann über viele Stunden so ablaufen. Behandler sollten sich dadurch nicht irritieren lassen, denn es wird der Zeitpunkt kommen, wo das Kind hinter dieser Abwehrformation und Fassade der Freundlichkeit – wobei es indirekt zum Ausdruck bringt: »Tu mir bitte nichts Böses, ich bin auch freundlich und kooperativ« – dann doch beginnt, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen und auf verschiedene Arten, oft über kreative Möglichkeiten im Sandspiel oder beim Malen, etwas von seinen traumatischen Erfahrungen zu zeigen.

Ebenso verhält es sich bei Kindern, die in den Anfangszeiten der Kindertherapie mit Verschlossenheit oder Aggression als Ausdruck der Abwehr reagieren. Auch sie werden mit der Zeit kooperativer und fangen an, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen, wenn die Therapeutin bzw. der Therapeut mit ihrer »rauhen Abwehrseite« umgehen kann und sich nicht nur provoziert, abgelehnt und kontrolliert fühlt. Die Aggression und das Sich-Verschließen dienen natürlich dazu, die gesamte zwischenmenschliche Situation in der Therapie zu kontrollieren, wobei das Kind hofft, dass es auf diese hoch kontrollierende, aggressive Art die Kontrolle auch über das in der Zukunft vermutete bedrohliche Geschehen behalten kann. Aggressives Verhalten dient – sozusagen als Nach-vorne-Verteidigung und -Abwehr – dazu, die Entwicklung einer therapeutischen Bindungsbeziehung und therapeutischer Nähe zu vermeiden, um jeglicher Form von erneuter Traumatisierung, die natürlich befürchtet wird, zu entgehen. Die Kinder sind sehr skeptisch gegenüber der Freundlichkeit der Therapeutin bzw. des Therapeuten, weil auch frühere traumatische Erfahrungen in Bindungsbeziehungen immer mit solchen Freundlichkeiten und besonderen Begünstigungen und Aufmerksamkeiten begonnen haben.

Es ist sehr typisch, dass im weiteren Verlauf der Therapie, selbst wenn sich mit der Zeit eine sichere therapeutische Bindung entwickeln konnte, immer wieder negative Übertragungsphänomene, Enttäuschungen, Kritik, Abwertung und vor allen Dingen Ängste auftauchen, dass die Beziehung doch noch nicht so sicher sei. Die Patienten befürchten, dass sie – früher oder später – doch noch durch die Therapeutin/den Therapeuten verraten oder missbraucht werden könnten. Manchmal ist es so, dass die Kinder den Therapeuten direkte Vorwürfe machen, sie seien auch missbräuchlich, vernachlässigend, würden sie, die Kinder, auf Dauer ebenso für ihre Zwecke benutzen oder gar missbrauchen.

Es ist sehr wichtig, in solchen Krisenzeiten die Geduld zu bewahren und sich mit Hilfe von Supervision so weit seiner eigenen Kompetenz als Therapeutin/Therapeut zu vergewissern, dass es in diesen Zuspitzungen nicht zu Therapieabbrüchen kommt. Gelingt es, die Therapie an diesen schwierigen Punkten fortzusetzen und die damit im Untergrund verbundenen Gefühle offener in der therapeutischen Beziehung anzuschauen und zu bearbeiten, wird es zu einem enormen Wachstumsschub von Bindungssicherheit und emotionaler Stabilität des Kindes kommen (Brisch 2012a; Brisch 2016a). Wir haben speziell für die Therapie von sehr früh und sehr umfassend in Bindungsbeziehungen traumatisierten Kindern eine spezielle Station der stationären Intensiv-Psychotherapie entwickelt, in der nach dem MOSES®-Therapiemodell solche Kinder selbst dann erfolgreich behandelt werden können, wenn sie bereits eine komplexe chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben (Brisch et al. 2013; Brisch 2016b).

Die Arbeit mit den Täterinnen und Tätern

Auch für die Arbeit mit den Täterinnen und Tätern ist es eine besondere Herausforderung in der therapeutischen Beziehung, ein erstes Schuldbewusstsein beim Täter herauszuarbeiten und in einen therapeutischen Prozess zu überführen. Hierzu gehört beim Täter auch ein Eingeständnis der Tat sich selbst gegenüber und das Empfinden, die Beziehungssituation mit dem eigenen Kind missbräuchlich benutzt zu haben. In der Regel ist es nicht leicht zu erreichen, dass sich Täterinnen und Täter überhaupt therapeutische Hilfe holen, um sich die gewalttätigen Vorgänge und Handlungsweisen in einer Therapie anzuschauen. Meist tauchen bei der Verarbeitung der Gewalthandlungen auch eigene Erfahrungen von Misshandlung und Missbrauch aus der eigenen Kindheit der Täterinnen und Täter auf – Erfahrungen, die nicht verarbeitet wurden und daher in der Beziehung mit den eigenen Kindern in bindungsrelevanten Kontexten wieder aktiv wurden und reinszeniert werden konnten. Es ist der relativ typische Verlauf: Eigene Missbrauchserfahrungen der Eltern werden mit den Kindern in Form von Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt wiederholt.

Sobald man mit den Täterinnen und Tätern Kontakt bekommt und mit ihnen über ihre eigenen Erfahrungen von körperlicher, sexueller und emotionaler Gewalt und Vernachlässigung sprechen kann, fällt es der Therapeutin/dem Therapeuten in der Regel leichter, einen emotionalen Zugang zu den Täterinnen/Tätern zu bekommen und nicht in der emotionalen Abwehrhaltung der Täterin/des Täters stecken zu bleiben, die in der Regel so lautet: »Ich habe gar nichts getan, es war gar nicht schlimm, ich habe mein Kind besonders geliebt, mein Kind lügt, meine Partnerin will mir nur etwas Böses anlasten und manipuliert mein Kind.« Wenn Schmerz, Angst, Panik, die mit den eigenen Kindheitserfahrungen zusammenhängen, in der Therapie überhaupt erst einmal zugelassen werden könnten, wäre ein großer Schritt getan – auch in die Richtung, das dem eigenen Kind zugefügte Leid anzuschauen und daran zu arbeiten. Dies kann dann bedeuten, Empathie gegenüber den Kindern zu entwickeln – mit der langfristigen Perspektive von Schuldanerkennung und Wiedergutmachung, damit sich diese Verhaltensweisen des Täters/der Täterin nicht in der nächsten Partnerschaft mit den nächsten Kindern wiederholen. Insofern ist jede therapeutische Arbeit mit Täterinnen und Tätern eine enorm präventive Arbeit, um Wiederholungen in weiteren Beziehungen zu vermeiden (Huber 2012, 2013; Salter 2006; Hirblinger 1998).

Weitergabe des Wissens über Bindungs- bzw. Entwicklungstraumatisierung

Es ist von großer Bedeutung, die Unterschiede zwischen einem extern – außerhalb der Bindungsbeziehungen – erlebten Trauma und einem Bindungstrauma und den damit verbundenen Konsequenzen auch Richtern und Rechtsanwälten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Jugendämtern zu erklären, um diesen die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Stressregulation, die Neurobiologie, die Beziehungsfähigkeit und auch die therapeutischen Chancen und Möglichkeiten – die Therapie bei einer Bindungstraumatisierung ist extrem langwierig und schwierig – verständlich zu machen. Es wäre ein Wunsch für die Zukunft, dass alle, die im Bereich Kinderschutz, Jugendhilfe, Kinderheilkunde, Pädagogik und Psychotherapie in der Begleitung, Beratung und Behandlung von Kindern arbeiten, etwas über die extremen Auswirkungen einer Bindungstraumatisierung auf die Gehirnentwicklung der Kinder, ihr Stressregulationssystem und auch die gesamte Entwicklungshemmung in allen Bereichen wissen. Auf Letzteres verweist der Begriff Entwicklungstraumatisierung, wie er von Elke Garbe (Garbe 2015) in diesem Buch weiter ausgeführt wird. Bindungstraumatisierungen haben auf die gesamte körperliche, psychische, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes einen extrem hemmenden Einfluss und bereiten den Boden für die Entstehung einer schwerwiegenden Psychopathologie. Diesem Prozess sollte durch ein frühzeitiges Erkennen einer Bindungstraumatisierung, das Wissen über die Risiken der langfristigen Folgen von Bindungstraumatisierungen und über die Notwendigkeit einer möglichst rasch einsetzenden, intensiven bindungs- und traumasensiblen Behandlung möglichst frühzeitig und rasch entgegengewirkt werden.

Eine Prävention – in Bezug auf Bindungstraumatisierungen über Generationen – könnte darin bestehen, die Eltern, oder werdende Eltern, frühzeitig im Hinblick auf ihre in ihrer Kindheit erlebten Bindungstraumatisierungen zu untersuchen und ihnen rasch eine traumazentrierte langfristige Behandlung zukommen zu lassen. Genau dieses Vorgehen wird in dem von uns entwickelten Programm »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« realisiert (Brisch 2008, 2010, 2013; vgl. auch den Abschnitt »Prävention« zum Schluss meines Beitrags zum »MOSES®-Therapiemodell« in diesem Band).

Literatur

Journal of Traumatic Stress